Tony Hillermans Thriller spielen in einer doppelten Realität: in der Dinétah, den Siedlungsgebieten der Diné, die sich heute über die vier US-Bundesstaaten Utah, Colorado, New Mexico und Arizona erstrecken, sowie in der Welt außerhalb der Reservatsgrenzen, die in einigen Romanen bis Washington und Los Angeles reicht. An der Schwelle zwischen diesen Welten kommt es noch immer zu Missverständnissen, und aus diesem Raum der Diskrepanz schöpfte der Autor seine Handlungsstränge, seine Spannung. Es ging ihm darum, dem von Hollywood-Klischees geprägten und vereinheitlichten Bild der »Ureinwohner« die präzisen Rituale und Wertvorstellungen der Diné entgegenzusetzen. Die Navajo sprechen von sich als Diné, dem Menschenvolk. Die meisten Selbstbezeichnungen der indianischen Völker bedeuten »Menschenwesen, echte Menschen, Menschenvolk«, in Unterscheidung zu den Völkern der Geflügelten, Vierbeinigen, Schwimmenden, Wurzelnden.
Der Autor stammt aus Oklahoma. Als Anthony Grove Hillerman wurde er 1925 in der ehemaligen Mission Sacred Heart nahe dem Reservat der Potawatomi geboren. Der Vater betrieb einen Gemischtwarenladen und eine winzige Farm. Es gab weder einen Traktor noch elektrisches Licht; die nächste Bücherei war fünfunddreißig Meilen entfernt. Oklahoma war Indian Country, dorthin hatte man ein Jahrhundert zuvor jene »umgesiedelt«, die der weißen Expansion im Weg standen, nachdem der Indian Removal Act von Präsident Andrew Jackson 1830 zum Gesetz geworden war. Im Weg waren die Choctaw, Chikasaw, Creel, Seminole, Cherokee, Shawnee, Ottawa, Sauk and Fox, Osage, Kickapoo, Wyandot, Ho-Chunks, Kaskakia, Peoria, Miami, Leni-Lenape, Illinois, Modoc, Oto, Ponca, Seneca, Cayuga, Tuskee, Quapaw – und die Potawatomi. Bei diesen »Umsiedelungen« starben Frauen und Kinder zu Tausenden. Der indigene, in Kanada beheimatete Schriftsteller Thomas King nennt die Tragödie in seinem Werk The Inconvenient Indian (erschienen 2012) einen »Twin Tower Moment«.
Tony Hillermans Umfeld war geprägt von Menschen, die Flüchtlinge im eigenen Land waren. Er besuchte als Tagesschüler ein Internat für indianische Mädchen, eine Off Reservation Boarding School. »Ich war ein Ein-Mann-Minderheiten-Problem und weiß seitdem, was es heißt, einer Minderheit anzugehören.« Nach dem Schulabschluss folgte der Zweite Weltkrieg; in Österreich wurde er hinter den deutschen Linien von einer Granate verletzt. Zunächst erblindet, konnte er bald wieder sehen; das rechte Knie aber blieb beschädigt. Er beschloss, Journalist zu werden, schloss 1946 sein Studium an der University of Oklahoma ab und leitete mit siebenundzwanzig Jahren bereits das Büro der Nachrichtenagentur United Press International in Santa Fe. Er wurde Herausgeber des New Mexican und hielt an der University of New Mexico in Albuquerque viele Jahre Vorlesungen über Ethik, Literatur und Kommunikationswissenschaft. Daneben begann er, Romane zu schreiben. Für Tanzplatz der Toten erhielt er den renommierten »Edgar« der Mystery Writers of America. Nach zwölf Bänden mit den Navajo-Polizisten Joe Leaphorn und Jim Chee verlieh ihm der Navajo Tribal Council den Titel Special Friend of the Diné, eine Ehrung, die vor und nach ihm bis heute niemand anderem zuteilwurde. Hillerman starb 2008; er schrieb achtzehn Navajo-Romane.
Vor der Jahrtausendwende, 1991, reiste ich zwei Tage mit ihm und seiner Frau Marie durch die Gebiete der Navajo und der Hopi, deren Dörfer auf drei Tafelbergen in einem eigenen Reservat inmitten des Navajo-Territoriums liegen. Ganz im Westen, im Motel neben dem Trading Post der (damals 8600 Einwohner zählenden) Siedlung Tuba City, erlebte ich, wie die Kellnerinnen sich in eine Reihe stellten und um ein Autogramm baten; in Händen hielten sie bis zu fünf Taschenbücher.
Auch anderswo war ich bereits Zeuge seiner Anhängerschaft geworden: Bei den jährlichen Treffen der »Arbeitsgruppe für indigene Völker« an der UNO in Genf kam ich in den Achtzigerjahren mit einer Menschenrechtsaktivistin der Navajo auf Tony Hillerman zu sprechen. Ihr Freund, so erzählte sie lachend, habe gerade seine Stelle bei der Navajo Tribal Police angetreten. »Ich habe ihm alle Hillermans geschenkt, damit er weiß, wie er sich zu benehmen hat.«
Als ich Tony Hillerman diese Geschichte erzählte, freute er sich, sie lockerte seine Zunge. Wir saßen im Auto. Vor uns die sandfarbene Kulisse der Hopi-Mesas. Er erzählte, dass es seine ursprüngliche Intention war, aufseiten der Weißen eine Empfindungsfähigkeit für die Welt der Menschen auf der fremden, indianischen, als »exotisch« erlebten Seite in den Reservaten zu schaffen. »Es hat mich immer geärgert, dass die Amerikaner sich nicht um die Kulturen in ihrer Nachbarschaft kümmern, sie haben keine Ahnung, was sich hinter den Reservatsgrenzen abspielt.« Wie sollte er vorgehen? Er fing an, Krimis zu schreiben, die nicht dem bekannten Muster entsprachen, denn seine Helden stammten nicht aus der weißen Welt. Das klingt, als würden Extraterrestrische die Szene betreten, und das kam der Realität durchaus nahe: Das Reservat der Diné glich in den Köpfen vieler Weißer einem anderen Planeten.
Vor dem neunten bemannten Mondflug 1971 erhielt das Navajo Nation Tribal Office in Window Rock, Arizona, einen Anruf aus Houston, Texas. Es war die NASA. Man bereitete die Apollo-15-Mission vor und wolle die Astronauten Jim Irwin und David Scott in ihren neuen Weltraumanzügen und Moon Boots einer möglichst realistischen Umgebung aussetzen. Das Gebiet im südwestlichen Arizona sei der Mondoberfläche ähnlich, so der Pressesprecher, ob man nicht auf dem Reservat eine Art Test Walk durchführen könne? Peter McDonald, damals Tribal Chairman, liebte das Licht der Öffentlichkeit und war begeistert. Eine Raumkapsel wurde aufgebaut, die Männer waren in ständigem Funkdialog mit Houston.
Die Astronauten in ihren Raumanzügen und Sauerstoffhelmen waren gerade bei einer Übung, als ein Ältester der Navajo des Wegs kam. Er war ein Yataalii, ein Medizinmann. Was hier vorgehe, was diese seltsamen Figuren vorhätten, wollte er von McDonald wissen. »Diese Männer fliegen nächsten Monat auf den Mond«, sagte McDonald. »Sie proben bei uns ihre Landung.«
»Hm, auf den Mond…«, sinnierte der Yataalii. »Unsere Legenden erzählen, dass wir früher auch zum Mond gereist sind, auf unserem Weg zur Sonne. Allerdings brauchten wir keine derartige Ausrüstung – wir benutzten unseren Geist. Wer weiß, vielleicht ist noch einer der Unseren dort oben. Ich würde den Männern gern eine Nachricht mitgeben.«
In der nächsten Kaffeepause stellte McDonald den Yataalii den Besuchern aus Texas vor und erklärte den Sachverhalt. »Sure«, sagte Irwin, »wir bringen auch Post zum Mond. Wenn wir dort oben irgendwelchen Navajo begegnen, übergeben wir den Brief.« Da gebe es nur ein Problem, erwiderte McDonald, Diné Bizaad sei nämlich keine Schriftsprache. »Dann soll er doch seine Nachricht auf Band sprechen!« Irvin holte ein Kassettengerät und übergab es McDonald, der es an den Medizinmann weiterreichte.
Am Abend erkundigte sich Irvin, ob der Yataalii die Botschaft habe aufnehmen können. McDonald bejahte, spielte die Nachricht ab und musste dabei lachen. Irvin konnte natürlich nichts verstehen, also übersetzte Peter McDonald: »Er sagt: Wenn diese zwei seltsamen Gestalten mit euch einen Vertrag schließen wollen, unterschreibt nichts!«
Tatsächlich hatten die Navajo lange kein Bedürfnis, mit der weißen Außenwelt im Austausch zu sein. Seit sie in den Jahren 1864 bis 1866 von der US-Kavallerie aus ihrer Heimat im Nordosten Arizonas nach Bosque Rodondo im Osten New Mexicos »umgesiedelt« worden waren, hegten sie kein Verlangen nach Kontakt zu den Weißen. Hunderte waren auf dem Long Walk gestorben, viele Hunderte starben später in der kargen Gegend, die nun ihre Heimat sein sollte. Es gab kein Feuerholz, kaum Lebensmittel. Nach drei Jahren mit Missernten forderten sie von Präsident Ulysses Grant die Rückkehr in ihr altes Land. Tatsächlich wurde 1868 ein Vertrag unterzeichnet, der ihre Rückkehr garantierte. Nach dem Long Walk zurück fanden sie ihre Hogans – sechseckige, erdgedeckte Holzhäuser – zerstört oder verbrannt, die Obstgärten und Maisfelder vernichtet, die Brunnen vergiftet, die Schafe verschwunden. Es dauerte lange, bis sie ihren alten Lebensrhythmus wieder aufnehmen konnten.
Der Zweite Weltkrieg führte beide Seiten unerwartet zusammen. Ein Ingenieur der Stadtverwaltung von Los Angeles, er hieß Philip Johnston und war ein Veteran des 1. Weltkriegs, schlug dem US-Marine Corps vor, Navajo als Code zu benutzen. Johnston war als Sohn von Missionaren im Reservat der Navajo aufgewachsen und sprach fließend Diné Bizaad. Man folgte seinem Rat. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour hatten sich viele junge Navajo zum Militär gemeldet. Neunundzwanzig von ihnen wurden als Code Talker für den Krieg im Pazifik ausgewählt. Einer war Peter McDonald, der bereits erwähnte Tribal Chairman. Bei Kriegsende dienten fünfhundertvierzig Navajo bei den Marines, die meisten als Funker. Das waren mehr als ein Prozent des gesamten Volkes. Auch Soldaten anderer indigener Völker wurden zum Chiffrieren herangezogen.
Bis heute bewerben sich in den Reservaten viele für den Wehrdienst, da es vielerorts weiterhin an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen fehlt und sich in diesem Vakuum Alkohol- und Drogenkonsum ausbreiten – trotz der inzwischen über dreißig selbst verwalteten Native American Colleges. Generell fehlt es den indigenen Verwaltungen an den finanziellen Mitteln, eine selbst verwaltete Infrastruktur aufzubauen, die sich an ihren kulturellen Werten orientiert und die eigene Sprache fördert. Im Vietnam-Krieg (1955–1975) kämpften viele Navajo gegen den Vietkong und mussten dabei auch verarbeiten, dass sie Menschen töteten, die ihnen ähnlich waren und – wie einst sie selbst – ihr Land gegen das US-Militär verteidigten.
Die hohen Selbstmordraten unter den heimgekehrten Veteranen lösten bald Debatten aus. Die Gesamtzahl der Vietnam-Heimkehrer, die ihrem Leben ein Ende gesetzt haben, wird auf über 58 000 angesetzt. Diese Zahl übertrifft die Zahl der US-amerikanischen Kriegstoten. Doch der indianische Anteil daran ist prozentual überraschend niedrig.
Die Antwort liegt in der Kultur. Wenn ein Mensch einen anderen getötet hat, hat er die kosmische Harmonie zerstört. Die Navajo nennen diese Harmonie Hózhó (auch Hozro), sie wird mit »Schönheit« übersetzt, sie gilt zwischen allen Lebewesen, sie ist ihre Verbindung zum Universum. Ist sie aus dem Gleichgewicht, muss sie wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Dazu gibt es Rituale, zu denen alle Verwandten geladen werden, denn sie gehören zum Hózhó, das es wiederherzustellen gilt. Kriegstraumata verlangen Heilungszeremonien; erst sie ermöglichen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Bei seinem ersten Besuch in Window Rock kam Tony Hillerman mit zwei Männern ins Gespräch, die als Marines und Code Talker im Pazifikkrieg gekämpft hatten. Für sie, so erfuhr er, wurde ein Yataalii gerufen, der die Zeremonie des Enemy Way durchführte, damit sie wieder »in Harmonie mit ihrem Volk leben konnten.« Diese Bedeutung von Zeremonien hat ihn nachhaltig beeindruckt, sie wollte er seiner industriellen, nicht-indigenen Gesellschaft nahebringen.
Das Echo aus dem Reservat bereitete ihm große Genugtuung: wenn die Schüler und Schülerinnen der St. Catherine Indian School ihn zum beliebtesten Schriftsteller kürten oder Erwachsene auf ihn zukamen und erzählten, seine Bücher hätten das Interesse ihrer Kinder an der Diné-Kultur wieder geweckt. Als ihn der Brief eines Gefängniswärters erreichte, wusste er, dass er mit seinen Romanen den richtigen Weg eingeschlagen hatte. »Dank Ihrer Bücher«, so schrieb der Aufseher, »sehe ich die indianischen Gefangenen jetzt mit anderen Augen.« Für Gesinnungswandel dieser Art hatte die Navajo-Regierung ihn, den Autor Hillerman, geehrt.
Woher hatte Hillerman sein Wissen? Wenn wir dieser Frage folgen, stoßen wir auf eine Arbeitsweise, die von Anstand und Respekt zeugt. Er nahm sich Zeit, wenn er Navajo-Familien suchte, die an seinem Vorhaben Gefallen finden würden. Er verarbeitete das Gehörte in seinen Texten, kam wieder, korrigierte, wenn ihm Fehler unterlaufen waren. Er war immer willkommen, denn was er wiedergab, war das, was ihm erzählt worden war. Für seinen Roman Sprechende Götter besuchte er Mae Thompson, die für ihr großes kulturelles Wissen bekannt war. Als das Buch auf den Markt kam, wurde ihr von verschiedenen Navajo vorgeworfen, zu viel spirituelle Informationen an einen Nicht-Diné weggegeben zu haben. Der Navajo Way, so ihre Antwort, sei so wertvoll, dass er mit der Welt geteilt werden müsse. »Unsere Leute haben ihm alles offenbart«, berichtete James Peshlakai, der Hillerman in Klagender Wind als Vorbild diente, einem Reporter der Associated Press. »Unsere Ältesten waren froh, die Geschichten zu erzählen, nach denen sie von ihren Kindern nie gefragt wurden.«
Hier berührte Peshlakai einen wunden Punkt, der viele indigene Völker Nordamerikas betraf: das während langer Zeit fehlende Interesse der jungen Generation an der eigenen Kultur. Ich konnte dies in den Neunzigerjahren, als Hillerman seine Romane schrieb, während Filmaufnahmen im Reservat Six Nations in der kanadischen Provinz Ontario erleben. Der Cayuga-Historiker Jake Thomas schilderte mir, wie ihm das Wissen der Haudenosaunee (Völkerbund der Irokesen) von seinen Ältesten übergeben worden war, ein Wissen, das fast tausend Jahre zurückreicht und auf Perlengürteln, Wampums genannt, in grafischen Mustern und Symbolen zu »lesen« ist. Auch The Great Law of Peace, die Verfassung der Haudenosaunee, ist auf Wampums festgehalten. Es dauerte vier Tage, das Große Gesetz zu interpretieren und für die Nachkommen mündlich »festzuhalten«. Es berührt mich immer wieder, wenn ich die Szene in meinem Film Exit 16 – Onondaga Nation Territory anschaue: »Maybe it ends here«, sagt dort Jake, »vielleicht endet es hier«. Er deutet dabei auf sich.
Ich sprach mit Tony Hillerman auch über Uran. In der Navajo Nation gibt es kaum eine Familie, die nicht Angehörige durch Krebs verloren hat. Gegen radioaktive Strahlung sind die Rituale des Yataalii machtlos. Laut der US-Umweltbehörde EPA gibt es auf dem Reservat 523 verlassene Uranminen; »Clean Up the Mines«, eine Initiative von Navajo-Aktivisten, schätzt die Zahl auf über 1200. In diesen Minen arbeiteten Navajo, die nicht über die Strahlengefahr aufgeklärt wurden. Die hohe Zahl der Krebskranken führte 1990 – nach drei Jahrzehnten zäher Lobbyarbeit – zur Verabschiedung des Radiation Exposure Compensation Act. Die Abwicklung der Wiedergutmachung verläuft bis heute zäh. Wenn die erforderlichen Papiere fehlen, verfällt der Anspruch; ebenso, wenn beim Interview durch Regierungsvertreter die Frage nach Tabakkonsum mit Ja beantwortet wird. Tabak gilt als heilige Pflanze und wird in Zeremonien verwendet. Die Befragten wussten nicht, dass sie deswegen als Raucher eingestuft wurden.
Hillerman hat Uranerz in seinem Roman Dunkle Winde thematisiert. Ich kam während unserer Reise auf die Tatsache zu sprechen, dass die Männer, die in Uranmühlen und untertags in den Gruben arbeiteten und radioaktiven Staub einatmeten, keine Schutzkleidung trugen. »Auch wir wurden nicht gewarnt«, sagt Tony, »es war die Zeit der Atom-Euphorie.« Er erzählt, dass er als Kind seine Füße beim Schuhkauf immer wieder in einen Röntgenkasten stecken musste, um sicherzugehen, dass die Größe richtig war. Und plötzlich sah ich eine Szene vor mir, die ich vergessen hatte: Kaufhaus Hertie in München. Ich blicke durch ein Guckloch auf meine Füße, die in Salamander-Schuhen stecken. Ich sehe, wie sich meine Fußskelette in den Schuhen bewegen, und bin fasziniert, will gar nicht aufhören mit dem Anprobieren. Ich war zehn Jahre alt.
Noch im letzten Jahrhundert entfachte sich rund um die bislang nicht infrage gestellte koloniale Vergangenheit des Westens der Funke zu einer heftigen Debatte. Sie führte zu neuen Bewertungen. Geraubte Objekte und Kunstwerke des Südens in den Museen des Nordens wurden jetzt Diebesgut genannt, ihre Rückgabe gefordert. Ein neuer Begriff machte die Runde: Kulturelle Aneignung. Diese Aneignung konnte auch in der Modeindustrie, in der Medienwelt und im Alltag beobachtet werden. Der New Yorker Journalist Greg Tate brachte den Tatbestand auf einen Nenner: »Everything But the Burden«. Wir in der dominanten Gesellschaft nehmen uns von Fremden, Verfolgten, Farbigen, Unterprivilegierten, was uns gefällt: Musik, Muster, Mode, Kunst, Ideen, Rezepte – »alles, bis auf die Last«. Es überrascht nicht, dass auch die Werke von Tony Hillerman diesem Test unterzogen wurden.
Die englische Sprache unterscheidet zwischen Cultural Appropriation (kulturelle Aneignung) und Cultural Appreciation (kulturelle Wertschätzung). Bei Tony Hillerman, so zeigt sich in dieser Diskussion, handelt es sich um Wertschätzung. Er agierte als Botschafter der Navajo und wurde von jenen auch als solcher gesehen. So ist es nicht überraschend, dass jetzt aus seinen Romanen eine groß angelegte TV-Serie mit mehreren Staffeln entstanden ist: Dark Winds.
Gedreht wurde ausschließlich in New Mexico, Produktionszentrale war das Camel-Rock-Film- und TV-Studio (ein ehemaliges Casino) des Tesuque Pueblo, nördlich von Santa Fe. Schon früher hatte es Verfilmungen seiner Werke gegeben, aber hätte Tony Hillerman es sich träumen lassen, dass eine Autostunde entfernt von Albuquerque, seinem Wohnsitz, einmal mit überwiegend indigener Crew eine Filmserie mit seinen Romanfiguren entstehen würde? Im fünfköpfigen Team der Scriptwriter waren zwei Navajo, Chris Eyre (Cheyenne/Arapaho) führte Regie, die Hauptrollen sind besetzt mit Zahn McClarlan (Lakota) als Joe Leaphorn, Kiowa Gordon (Hualapai) als Jim Chee, Jessica Matten (Red River Metis Cree) als Sergeant Bernadette Manuelito, Diana Ellison (Navajo) als Emma Leaphorn, Eugene Brave Rock (Kanai) als Yataalii Frank Nakai. Die Produzenten sind Graham Roland (Chickasaw), George R. R. Martin, ein langjähriger Freund Hillermans, und Robert Redford. Noch nie zuvor hatte eine Filmproduktion dieser Größe (Produktionskosten pro Episode: fünf Millionen US-Dollar) einen indigenen Mitarbeiteranteil von 85 Prozent. Tony Hillerman hätte es gefreut zu erleben, dass die Serie seit ihrem Start zu den erfolgreichsten des Landes gehört, dessen Blick auf sich selbst und seine indigenen Nachbarn er mit seinen Romanen verändern wollte.
Claus Biegert, geboren 1947, Autor und Journalist, war bis 2012 Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks. Er recherchierte und publizierte zu Themen der indigenen Völker Nordamerikas und initiierte 1992 die Weltkonferenz World Uranium Hearing in Salzburg. 1991 reiste er mit Tony Hillerman zu den Schauplätzen von dessen Romanen.