Usama Al Shahmani, in Ihren Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch berichtet ein Ich-Erzähler, der wie Sie Usama heißt und wie Sie nach der Flucht aus seiner Heimat, dem Irak, seit 2002 in der Schweiz lebt. Ist In der Fremde sprechen die Bäume arabisch ein autobiografischer Roman?
Usama Al Shahmani: Welcher Roman ist nicht autobiografisch? Der Ich-Erzähler in meinem Roman hat viel von mir, meinem Weg und meiner Hoffnung, ich bin aber viel mehr als diese Hauptfigur, die in der Geschichte Usama heißt.
Der Roman erzählt nicht über die Flucht aus dem Irak, sondern beginnt damit, wie Sie sich über das Wort Wandern wundern, das Sie in der Schweiz zum ersten Mal überhaupt in Ihrem Leben hören. Es ist also ein Roman über Ankommen, Zurechtfinden und Leben in einem fremden Land?
Es ist ein Roman über das Leben in der Fremde. Dieses Leben ähnelt manchmal einem Fallschirmsprung aus großer Höhe. Dieser Sprung erfordert starken Willen, Selbstvertrauen und viel Können; man stürzt ab und niemand kann garantieren, ob der Knopf, den man drücken muss, den Fallschirm wirklich öffnet. Und auch wenn es gelingt, den Fallschirm zu öffnen, bleibt die Angst, denn man weiß nicht, wohin man fallen wird! Auf welches Land? Und wird man wieder aufstehen können? Das Wandern ist für mich zu einer Tätigkeit geworden, bei der ich mich und mein Leben im Exil besser verstehen kann. Ich fühle keinerlei Befremdung und spüre den Rhythmus meiner Schritte klarer in dieser Welt. In meinem Roman sind die Bäume eine Metapher für das Zurechtfinden in der Fremde, und sie sind Figuren, die die Geschichte des Protagonisten tragen. Die Natur ist und bleibt der einzige Ort, dem jeder Mensch sich zugehörig fühlen kann und darf. Haben Sie einmal gehört, dass ein Baum, ein Fluss oder ein Berg gefragt hat, woher jemand kommt oder warum er da ist? Die Natur spricht alle Sprachen, man muss nur gut üben und lauschen.
Die Schweiz hatten Sie sich nicht als Ziel Ihrer Flucht ausgesucht. Es war mehr oder weniger Zufall, dass Ihre Flucht in der Schweiz endete?
Ja, meistens wurde mein Leben vom Zufall gesteuert. Ich bin in einem Land geboren, aufgewachsen und auf die Universität zum Studium gegangen, in dem es unmöglich ist, etwas im Voraus zu planen. Und eine Flucht kann man auch nicht selber planen, weil man von Schleppern, Geld und vielen anderen Dingen abhängig ist. Auf der Flucht muss man sich dem Zufall überlassen und eine Hoffnung haben, das ist das einzige Ziel.
Sie sprechen nicht über Ihre konkrete Flucht. Das ist gut zu verstehen. Sie sagen, Flucht ist eine Bewegung. Was bestimmte Sie, aus dem Irak zu flüchten?
Ich lebte im Irak als Schriftsteller unter Saddam Husseins Regime, eine grausame Diktatur und eine unendliche Kriegszeit. Ich hatte damals ein kritisches Theaterstück geschrieben, welches dazu führte, dass ich fliehen musste.
Wovon handelte das Theaterstück?
Ich bereitete gerade meine Dissertation vor, als ich dieses Stück schrieb. Ich habe den Inhalt des Texts mit Metaphern und einem philosophischen Hintergrund getarnt, trotzdem war den Sicherheitsapparaten und Geheimdiensten klar, dass es ein regimekritisches Theaterstück ist.
Als die Flucht endlich zu Ende war, stellte sich Ihnen bald die Frage: Was wollen Sie im neuen Land? Soll das neue Land auch neue Heimat werden? Im Roman entscheidet sich Usama für die Integration. Er nutzt jede Möglichkeit, die ihm die Schweiz bietet, um anzukommen, wie beispielsweise ein zweijähriges Beschäftigungsprogramm, nimmt Teilzeitarbeiten an. Zu schade ist er sich für nichts! Gilt das auch für Sie?
Ja, Integration ist ein schönes Zeichen der Hoffnung und der Liebe zum Leben. Sie ist das Gegenteil vom Gefühl des Fremdseins. Sie kann den Schmerz des verlorenen Daheims lindern. Und sie ist auch eine Annäherung an die menschliche Essenz, die in uns als Menschen liegt. Diese Essenz ist die Wurzel der Liebe und der Hoffnung. Mein Beschäftigungsprogramm war für mich die erste Möglichkeit, die europäische Natur und Kultur besser kennenzulernen. Ich arbeitete mit einigen Schweizern und Ausländern zusammen in den Wäldern des Kantons Thurgau, wo ich wohne. Wir hatten verschiedene Aufgaben und Einsätze, die wir in einem Wald erledigen mussten, etwa Bäume pflanzen, Zäune errichten oder erneuern, Schutz für junge Bäume bauen, damit sie nicht von wilden Tieren gefressen werden, Wege und Bäche reinigen und kranke Bäume entwurzeln. Diese Tätigkeiten haben für mich auch einen Weg geöffnet, das Schweizerdeutsch zu verstehen.
Wie lange dauerte es, bis Sie auf Deutsch zu schreiben begannen?
Als ich mit einem N Ausweis (N bedeutet, dass das Asylgesuch noch nicht abgeschlossen ist, und mit diesem Ausweis durfte man damals nicht arbeiten) in verschiedenen Asylunterkünften leben musste, hatte ich kein Geld, aber viel Zeit. Ich konnte mir Bücher beschaffen; deutsche Grammatik aber auch viele Wörterbücher, mit denen ich, ohne Kurse zu besuchen, gelernt habe. Es gab natürlich damals keinen Zugang zum Internet, wir reden ja von 2002–2004. Ich habe jeden Tag gelernt. Dass ich Englisch spreche, erleichterte mir das Erlernen der deutschen Sprache ein bisschen. Ich habe schon damals die deutsche Sprache sehr geliebt und fast jeden Tag mehr als acht Stunden gelernt. Die Sprache hat für mich viele Räume, die durch die Flucht entleert wurden, wieder gefüllt. Ich habe bis 2013 ein Selbststudium gemacht und schließlich die C2 Prüfung abgelegt. Im Jahr 2014 habe ich ein Diplom als Dolmetscher und Übersetzer absolviert. Zuerst habe ich literarische und philosophische Bücher aus dem Deutschen ins Arabische übersetzt, Anfang 2014 begann ich dann, Texte auf Deutsch zu verfassen.
Was passierte noch zwischen 2002 und 2013?
Es ist viel Wasser im Tigris und Euphrat geflossen, und für mich wurden allmählich andere Flüsse wichtig. Ich schaffte eine Nähe zur Aare und zum Rhein, die mir ein Ankommen ermöglichten. Die Literatur wurde zur schönsten Welt meines Lebens, sie eröffnet mir interessante Horizonte und schafft neue Realitäten. Die Sprache des Exils war das Werkzeug meines literarischen Schreibens. In der Sprache fand ich ein neues Zuhause. Wenn ich auf Deutsch schreibe, fühle ich mich völlig frei, es gibt mir neue Energie, erneuert meine Ideen und öffnet meiner literarischen Sprache große Räume. In einer fremden Sprache zu schreiben ermöglicht außerdem eine gewisse Distanz, in der Dinge besser sprachlich verkörpert werden können, sie befreit viele Wörter aus ihrem Kummer. Nun verstehe ich mich als Schweizer Schriftsteller irakischer Herkunft, nicht als in der Schweiz lebender irakischer Schriftsteller.
Die Fragen stellte Dr. Gerwig Epkes, das Interview erschien zuerst im Buch-Magazin.