Die Struktur des Romans, seine Schreibweise wie seine Sprache, müssen Rechenschaft ablegen von der widersprüchlichen Beziehung zwischen Mensch und Natur. Man sagt mir nach, es gebe in meinen Romanen sehr lange Sätze. Wenn ich diese näher anschaue, sind es oft diejenigen, die von der Natur handeln. Das Meer kann nicht mit der gleichen Sprache ausgedrückt werden wie ein Pferdegalopp. Die Kraft, der Angst- oder Freudenschrei der Natur müssen sich in den Rhythmen und Betonungen, in der Musikalität der Sprache wiederfinden. Wenn sich der Rhythmus der Natur ändert, ändert sich auch der Rhythmus des Lebens. So versuche ich in meinen Romanen diesen Rhythmus zu finden, der in der beschriebenen Natur aufgeht.
Ich glaubte tief an die Magie der Sprache. Noch heute bin ich überzeugt davon, dass die Sprache die Menschheit retten wird. Mein Freund Roger Callois fragte mich eines Tages: »Glaubst Du, dass die Sprache fähig ist, alles in der Welt zu bewältigen? Die Politik, die Wirtschaft? Du glaubst, dass die Sprache die Lösung bringt, nicht wahr?« Nie hatte ich mich so kategorisch ausgedrückt, aber ich antwortete ihm, ich wäre von den Möglichkeiten der Sprache überzeugt, obwohl ich ihm das nicht beweisen könne. Diesbezüglich bleibe ich ein »Gläubiger«, und deshalb halte ich die Wortkünstler, mich inbegriffen, für die großen Verantwortlichen unserer Zeit. Ich habe die Sprache, abgesehen von ihrer Eigenschaft als Kommunikationsmittel, immer als Vektor einer unbezwingbaren Kraft aufgefasst. Die Sprache auf ein bloßes Transportvehikel zu reduzieren, bedeutet, den unerschöpflichen Reichtum der Sprache zu verkennen. Noch immer bin ich davon überzeugt, dass die Sprache neue Universen erschaffen, andere vernichten wird.
Ich bin in meinem Leben vielen Leuten begegnet, und viele haben sich in irgendeiner Weise in Romanfiguren verwandelt. Aber alle meine Figuren habe ich in schriftstellerischer Arbeit geschaffen. Ich schaffe eine Welt der Fantasie und realisiere dieses Königreich im Wort. Ich weiß, ich bin nur einer unter vielen, die ein Universum aus Sprache bauen. Es ist mein Beruf. Homer war ein richtiger Profi; die türkischen und kurdischen Homere sind auch Profis. Das sind weder Mystiker noch Scharlatane, noch bettelnde Vagabunden, sondern Meister einer Kunst, an der wir alle teilhaben.
Zur Zeit meiner Anfänge, etwa 1940, war die türkische Sprache ziemlich verarmt. Vor der Jahrhundertwende war die geschriebene, offizielle Sprache das Osmanische. Es ist eine Mischung aus Türkisch, Arabisch und Persisch. Im Zuge westlicher Reformierungsbestrebungen kam noch das Französische hinzu. Mit der ab 1908 erschienenen Zeitschrift Junge Federn begann die sprachliche Erneuerungsbewegung des Türkischen, um ihm gegenüber dem Osmanischen wieder ein Daseinsrecht zu verschaffen. Dieser Säuberungsaktion fielen zahlreiche Worte, Ausdrücke, Formen zum Opfer. Die schriftliche Sprache erstarrte. Damals war Anatolien eine Welt für sich, wie Istanbul mit seinen Intellektuellen eine Welt für sich war. Das »Osmanische« besaß in den großen Städten seine eigene Kultur, wie Anatolien seine eigene Kultur pflegte, mit den bescheidenen, ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Während das osmanische System in kurzer Zeit Dichter und Wissenschaftler hervorzauberte, brauchte Anatolien sieben Jahrhunderte, um seine spezifische Kultur zu entwickeln.
Die religiösen Kultstätten, sogenannte tekke, waren schon immer richtige Kulturzentren gewesen. Sie dienten als Bindeglieder resp. Vermittler zwischen der gesprochenen und der schriftlich fixierten Literatur. Diese tekke hatten einen beträchtlichen Einfluss. Der sprachliche Reichtum Anatoliens wurde aber auch von anderen Quellen genährt. Die Türken sind ein Volk von Nomaden, die mehrere hundert Jahre lang umherzogen – von Zentralasien bis Anatolien. Als sie sich in Anatolien niederließen, brachten sie von ihrer langen Wanderung unschätzbares sprachliches Material sowie ein großes multikulturelles Wissen mit: aus China, Persien, Arabien. Und sie wiederum konnten vom kulturellen Reichtum der Gegend, beeinflusst von den Griechen, Armeniern, Kurden und anderen Völkern, profitieren.
Die Anstrengungen der türkischen Intellektuellen, denen es zur Aufgabe gemacht wurde, die türkische Sprache zu »reinigen«, dauerten bis in die Dreißigerjahre hinein. Erst durch die Hartnäckigkeit von Kemal Atatürk, der der Sprache wieder ihre volle Kraft, ihren natürlichen Reichtum zurückgeben wollte, trat Anatolien wieder ins Zentrum des Interesses. Bis dahin waren zahlreiche bedeutende Dichter und Schriftsteller gezwungen gewesen, in einer ziemlich verarmten Sprache zu schreiben. Selbst bei Nâzim Hikmet bekommt man das in seinen frühen Gedichten aus jener Zeit zu spüren. Doch war er es, der als Erster aus dem anatolischen Sprachreichtum schöpfen und damit zum radikalen Erneuerer der türkischen Lyrik werden konnte.
Als ich mit siebzehn Jahren die westliche Literatur entdeckte – Balzac, Stendhal, Verlaine, Rimbaud, Tschechow, Dostojewski – kam ich vom Gedanken nicht mehr los, für mich eine neue Form des schriftlichen Erzählens zu schaffen, ausgehend von einer Sprache, die den immensen Reichtum des anatolischen Kulturraumes – nicht zuletzt dank der jahrhundertealten, doch frisch und lebendig gebliebenen mündlichen Erzähltradition – widerspiegeln würde.