Ich kenne die Çukurova-Ebene wie meine Hosentasche, ihre Natur, ihre Menschen, ihre Probleme. Ein erregendes, großartiges Stück Erde. Seit Jahrtausenden war die Çukurova den vielfältigsten Winden ausgesetzt. Alle Kontinente haben zu ihrer Kultur beigetragen: die Hethiter, die Prygier, die Kreter, die Griechen, Römer, Byzantiner, Seldschuken, Kaukasier, Zigeuner – Anatolien war ein Turm von Babylon die ganze Geschichte hindurch.
Und dann das turkmenische Element. Die Nomaden mit ihren Traditionen, mit ihren Zelten, Kamelen, Schafen, Ziegen, Teppichen. Jeden Winter kamen sie hinunter in die Ebene und bauten ihre Zelte auf. Dicht daneben die Traktoren, darunter noch jene 57 Maschinen aus England, die 1880 importiert worden waren. Dieser Zusammenprall war für den einzelnen Menschen eine große Tragödie.
Als Kind hatte ich noch den feudalen Naturzustand in der Çukurova erlebt. Die Ebene war ganz von Wald bedeckt, übersät von Blumen, ein Paradies für Vögel und Insekten, mit Tausenden von Adlern. Nach 1930 begann die wirtschaftliche Ausbeutung der Çukurova. Bis anhin hatte man keine Ahnung gehabt, wie fruchtbar der Boden war. Für ein Butterbrot holte man die armen Bauern aus dem Taurus und ließ sie roden. Jeder ausgerissene Baumstrunk war ein Sieg. 1949, mit dem Marshallplan, wurde die Ebene mit Tausenden von Traktoren überschwemmt.
Was mich heute frappiert, ist, dass ich als Jugendlicher so begeistert vom neuen Bündnis der Erde mit der Maschine war wie später von der Magie der Worte. Ich hörte auf, Gedichte zu schreiben, hörte auf, mit meinen Geschichten von Dorf zu Dorf zu ziehen. Ich wurde von einer vollkommen neuen Welt überwältigt, mit ihrer eigenen Magie.
Im Sommer konnte es mörderisch heiß werden in der Çukurova. Am Nachmittag ballen sich am Horizont, auf der Seite des Mittelmeers, weiße Wolken zusammen und steigen langsam auf. Mit den Wolken erhebt sich ein Wind, den wir garbi nennen. Jeden Tag, um vier Uhr, wiederholt sich das Ganze. Das war auch die Stunde, da wir auf unsere Traktoren stiegen, um mit der Feldarbeit zu beginnen. Riesige Schaufeln durchpflügten tief die Erde. Wenn es Nacht wurde und die Sterne am Himmel zu leuchten begannen, streunten die Scheinwerfer der Traktore noch immer über die Ebene. Hunderte von Lichtern auf dieser Ebene, flach wie die Hand, mitten in tiefschwarzer Nacht … Der Geruch der Erde hüllte die Finsternis ein. Man bearbeitete die Felder, bis der Morgen anbrach. Dann aß man und ruhte sich unter den Bäumen aus. Am frühen Nachmittag kehrte die Stunde der Wolken wieder, vom Mittelmeer her erhob sich sanft der Wind. Es war so heiß, dass man das Metall der Traktoren nicht berühren konnte; es glühte.
Während jener Zeit sind mir die Feldarbeiter sehr nahe gewesen. Für sie symbolisierte der Traktor ein neues Abenteuer, etwas Fantastisches: das Versprechen auf eine Welt des Fortschritts und der Freude.
Die Bauern zeigten keinerlei Schwierigkeiten im Umgang mit den Traktoren. Früher hängten sie ihren Kühen oder Pferden Glücksbringer aus Teig mit blauen Glassplittern um, um sie vor dem bösen Blick zu schützen – jetzt verzierten sie damit ihre Traktore. Der Traktor war die Hochzeit, das Fest. Sie klammerten sich an ihre neue Welt, die ihnen ein besseres Leben verhieß.
Als ich 1957 in mein Dorf zurückkehrte, war die Gegend nicht mehr wiederzuerkennen. Früher hatte es so viele Adler gegeben, dass sie wie Wolken den Himmel bedeckten. Nun war kein einziger mehr da. Man erzählte mir, sie seien alle zugrunde gegangen, weil sie vom Pferdeaas gegessen hatten, das man gegen die Pferdepest desinfiziert hatte. In kurzer Zeit gab es keine Vögel mehr, keine Bäche, keine Wälder. Bald war nicht mehr der kleinste Fleck unbearbeitet. Aber was war geschehen? Das Land war zu Wüste geworden. Denn Land ohne Bäume ist nicht mehr Land, nicht mehr Erde. Früher zogen sich die Wälder bis ans Meer. Heute kann man Hunderte von Kilometern gehen, und man sieht nur kahle Hügel. Ganz Anatolien wurde so zum Tode verurteilt.
In meinen Büchern ist der Wandel der Beziehung zwischen Mensch und Natur ein zentrales Thema: So wie jedes Individuum seine inneren Konflikte und Widersprüche hat, so hat auch jedes Stück Natur seine Konflikte und Widersprüche. Also will ich die Natur als handelnde, bewegende Kraft zeigen, in ihrer ganzen Wechselwirkung mit dem Menschen. Die Natur ist ja kein »Hintergrund«. Sie ist für den Menschen wie das Blut in seinen Adern, ihre Wärme ist auch seine Wärme, ihre Lebenskraft ist auch für ihn Lebenskraft. Was der Mensch der Natur antut, das tut er sich selber an.