Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe. In der Regel macht das Negative die Schlagzeilen, das prägt das Weltbild. Aber ich hinterfrage, was ich lese, und schaue bei den Recherchen genau hin. Wenn ich zum Beispiel lese, dass häusliche Gewalt zugenommen hat, frage ich mich, weshalb. Vielleicht erscheinen mehr Fälle in der Statistik, weil häusliche Gewalt ab einem gewissen Zeitpunkt neu als Offizialdelikt galt und von Amtes wegen gemeldet werden musste – das relativiert dann vieles. Aber mir ist auch klar, dass man nie weg ist von Gewalt. Ich fand die Welt immer schon schwer verdaulich, sie wurde nicht schwerer verdaulich, seitdem ich mich mit Gewalt befasse. Zudem gibt es so viele Formen von Gewalt, die mich weit mehr erschrecken – psychische Gewalt, Rücksichtslosigkeit etwa oder Mobbing an Schulen – als die plakative Gewalt eines Verbrechens. Diese Form ist fast einfacher, weil klar erkennbar: Je genauer man hinschaut, desto mehr verliert etwas den Schrecken. Ein Rechtsmediziner sagte mir einmal, die Studenten in der vordersten Reihe kippten selten um, weil sie sich auf die Details konzentrierten, ganz im Gegensatz zu jenen in der hintersten Reihe, die weniger genau hinschauen könnten. Was man nicht versteht, macht Angst. Den Nachbarn aus Kosovo mag man gut. Aber die Überfremdung macht Angst.
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Es ist schwierig, als Schweizerin in Deutschland den Durchbruch zu schaffen. Das Problem: Wir sind zu ähnlich, aber zu wenig gleich. Das Publikum will sich entweder ganz in einer Geschichte wiedererkennen oder etwas ganz Neues kennen lernen. Da fallen wir zwischen Stuhl und Bank. Dennoch schaffen es einige Schweizerinnen, das freut mich. Auch mit dem Genre des Krimi hat man es anderswo leichter, zum Beispiel im Angelsächsischen, wo ich aufgewachsen bin. Dort gilt es als Kunst, andere zu unterhalten. Im deutschsprachigen Raum findet man es nicht gerade verwerflich, aber als Kunst gilt es sicher nicht. Vielleicht darf Kunst nicht unterhaltend sein?
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Die Ermittlerinnen in Krimis sind häufig in irgendeiner Weise traumatisiert. Ich glaube das ist so, weil eine Romanfigur Hürden überwinden muss. Je höher diese sind, je mehr Schwierigkeiten sie hat, desto spannender die Entwicklung, die sie durchmacht. Bei weiblichen Romanfiguren trifft das vielleicht noch stärker zu als bei männlichen. Meine weiblichen Figuren hingegen werden manchmal als zu normal angesehen: Ich schickte das erste Manuskript an einen feministischen Verlag, und der lehnte es ab mit der Begründung, Regina sei zu unemanzipiert, zu wenig hart. Sie habe zu viele Unsicherheiten, sei zu sehr eine Durchschnittsfrau. Dabei bewegte sie sich damals, 2005, als Staatsanwältin in einer Welt, die vorwiegend von Männern dominiert wurde. Frauen in einer Männerdomäne haben zwei Möglichkeiten: Sie passen sich an, werden hart und machen auf Mann. Oder sie bleiben sogenannt normal, was dazu führt, dass gewisse weibliche Eigenschaften als Schwäche statt als Stärke wahrgenommen werden und die Frauen Gefahr laufen, weniger respektiert zu werden. Regina aber bleibt einfach sich selbst, mit ihren Schwächen, ihrem Mitgefühl. Ihre Stärke besteht darin, sich nicht hinter einem Panzer zu verstecken. Sie schlägt sich durch, sie kämpft, aber auf Machtspiele beispielsweise hat sie keine Lust. Sie möchte einfach einen guten Job machen. Es geht ihr um den Inhalt. Trotzdem macht sie weniger Eindruck auf die Leserschaft als ihr Partner Cavalli. Ich werde häufig gefragt: Wann kommt der neue Cavalli? Kaum jemand fragt: Wann kommt der neue Flint? Männerfiguren ziehen einfach irgendwie mehr. Oder Regina Flint ist halt eben doch zu normal. Mir selbst geht es ja auch als Autorin ein wenig so, die Medien mögen schillernde Figuren und dafür bin ich wohl tatsächlich zu normal.
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Mein Einkommen verdiene ich hauptsächlich mit Lesungen an Schulen, in Bibliotheken und Buchhandlungen, nicht mit dem Verkauf von Büchern. Weil ich selbstständig bin, kommen die Administration, die Website, die Buchhaltung, die sozialen Medien, die Anfragen von Schülerinnen und Schülern und vieles mehr hinzu … das alles bestimmt meinen Tagesablauf. Dazwischen schreibe ich. Manchmal von morgens zwischen fünf und sieben Uhr, dann fahre ich an eine Lesung, schreibe noch ein bisschen während der Zehn-Uhr-Pause, manchmal bekomme ich auch ein leeres Schulzimmer zur Verfügung gestellt, wenn ich länger warten muss. So lässt es sich ohne Probleme schreiben, denn ich lebe quasi in der Geschichte.
Ich schreibe so, wie ich gerne lese. Ich mag es, wenn Abläufe, Hintergründe und Schauplätze korrekt beschrieben werden. Das erfordert eine genaue Recherche. Für Leere Gräber recherchierte ich vier Monate in Paraguay und Argentinien, für Stille Lügen in Georgien. Das ist enorm aufwendig. Aber es macht einen Text auch vielschichtig, erst mit genauen Details beginnt er zu leben. Ich fühle mich um eine Erfahrung betrogen, wenn getrickst wird. Es ärgert mich, wenn die Zürcher Kantonspolizei in einem Film oder einem Roman Kommissare hat. In der Abteilung Leib/Leben gibt es keine Kommissare, sondern einen Dienstchef und Sachbearbeiter. Titel zu erfinden, bloß weil sie vornehmer klingen – das geht für mich nicht. Anders, wenn es sich um eine fiktive Behörde handelt. Dann ist alles erlaubt. Für die Recherchen meiner Geschichten lese ich Fachliteratur, schaue mir Schauplätze an, stelle Fragen, besuche Weiterbildungen, nehme an Einvernahmen und Gerichtsverhandlungen teil und schaue Fachkräften über die Schulter. Häufig erfahre ich Spannendes, wenn ich einfach beobachte. Zum Beispiel durfte ich einmal eine ganze Woche in der Rechtsmedizin verbringen. Wie eine Obduktion abläuft, konnte ich im Vorfeld nachlesen. Nicht aber, was die Ärztinnen und Ärzte dabei diskutieren, welche Gedanken sie sich machen, wie ein Mageninhalt unter einem Mikroskop aussieht oder was er über die letzten Stunden vor dem Tod aussagt. Bestimmt mehr, als ich weiß. Einmal hat mir ein forensischer Zahnarzt geschrieben, weil ich in Tote Träume etwas nicht richtig beschrieben habe. Er bot mir an, in seine Vorlesung zu kommen, und nahm sich anschließend Zeit für meine Fragen. Ansonsten halte ich mich auf dem Laufenden, indem ich mich regelmäßig mit Fachleuten, also mit Staatsanwältinnen, Polizisten, Kriminaltechnikern, Rechtsmedizinerinnen und so weiter treffe, um die neuesten Entwicklungen mitzubekommen. Am schwierigsten ist es, wenn ich nicht weiß, dass ich etwas nicht weiß.
Schwierig ist auch, das Erfundene in der Realität zu sehen: Als kurz nach dem Erscheinen von Fremde Hände – wo eine Leiche in einer Kehrichtverbrennungsanlage gefunden wird – in der Kehrichtverbrennungsanlage Hinwil tatsächlich eine Leiche gefunden wurde, schluckte ich schon leer. Aber ich hoffe, dass da kein Zusammenhang besteht. Und lasse schon Vorsicht walten, dass die Verbrechen, die ich beschreibe, nicht zu detailliert sind, sodass sie nicht nachgeahmt werden: In Stille Lügen geht es um einen Giftmord. Ich wusste, wie man die tödliche Substanz herstellt, ein Chemiker hatte das für mich gemacht. Er erklärte mir dann aber auch genau, was ich schreiben kann bzw. weglassen muss, damit niemand in der Lage ist, das Gift selbst nachzumischen.
Ich bereue die Beschreibung einer Obduktion nicht, das gehört zum Berufsalltag meiner Hauptfiguren. Aber man kann beim Schreiben tatsächlich die Distanz verlieren. Manchmal unterschätze ich die Reaktion von Leserinnen und Lesern, weil ich so im Thema drin bin. In Heiße Eisen wird ein brutales Verbrechen begangen, und ich argumentierte immer, dass das Opfer da bereits tot gewesen sei. Das fanden aber viele trotzdem sehr schlimm. Ich persönlich fand die Taten in Fremde Hände, wo es um Zwangsprostitution geht, schlimmer, denn die Opfer erleben die Gewalt bei vollem Bewusstsein. Die Leute bei der Polizei müssen emotional stabil sein, auch wenn es natürlich wie überall auch solche mit privaten Problemen darunter hat. Im Quartier, in dem meine Bücher spielen, wird die Polizei oft beschimpft und bespuckt – dieselben Leute möchten aber nicht auf Unterstützung verzichten, wenn sie es nötig haben. Da frage ich mich schon, warum das so ist.
In Stumme Schreie geht es unter anderem darum. Zu den Hauptfiguren gehört ein Polizist im Zürcher Kreis 4. Ich beschreibe seinen Alltag und was dieser mit ihm macht. Was es bedeutet, in einem Fall von häuslicher Gewalt auszurücken und nicht zu wissen, was einen erwartet. Ob man sich selbst in Gefahr bringt. Ob man auf Verletzte, gar Tote trifft. Meine Figur sieht Dinge hinter geschlossenen Türen, die andere nie zu Gesicht bekommen. Er trifft auf Menschen, die wegen Alkohol oder Drogen komplett die Kontrolle verloren haben. Ich verstehe, dass die Polizei meist nur ihre Arbeit macht. Gerade kürzlich bin ich mit dem Velo in einem Wohnquartier an einer roten Ampel rechts abgebogen. Es kam kein Auto, und ich fuhr Schritttempo. Ein paar Meter weiter vorne wurde ich von einer Patrouille angehalten, gefragt, ob ich wisse, was das Problem sei, und ich sagte, ja, die Ampel sei rot gewesen, aber ich hätte nicht das Gefühl gehabt, jemanden zu gefährden. Es half dann nichts, es kostete sechzig Franken. Ich ärgerte mich, weil ich eine sehr korrekte Velofahrerin bin. Aber ich blieb freundlich, denn die Polizisten haben nur ihre Arbeit gemacht.
Petra Ivanov im Juli 2021