Ich wurde wahrscheinlich 1923 geboren. Ich sage »wahrscheinlich«, weil das erste offizielle Dokument auf meinen Namen mein Schülerausweis war. Man hatte geschrieben: »Geboren 1926«. Das ist Unsinn. Die Nomaden bei uns in der Çukurova kehrten gegen Ende Oktober von ihren Sommerlagern zurück. Zu dieser Zeit ungefähr muss ich auf die Welt gekommen sein.
Auch bin ich nicht, wie man glaubt, im Land der Kurden geboren. Mein Vater und meine Mutter sind 1915 aus Ostanatolien vor der russischen Besetzung geflohen. Sie brauchten anderthalb Jahre, um in die Çukurova zu gelangen, wo sie sich im Dorf Hemite niederließen. Außer meiner Familie sprach niemand kurdisch im Dorf. Bei meiner Geburt war mein Vater schon ziemlich alt; vielleicht über fünfzig Jahre alt. Meine Mutter hingegen war sehr jung: ungefähr siebzehn Jahre.
Mein Vater wurde während des Gebets in der Moschee erdolcht, mitten ins Herz. Der Mörder war Yusuf, dem mein Vater einst auf der Flucht das Leben gerettet und den er, da er noch ein Kind war, adoptiert hatte. Mein Vater war ein Mann von großer Statur, vielleicht ein Meter neunzig, breite Schultern. Er liebte die Kinder sehr. Jedesmal, wenn er in die Stadt ging, kehrte er mit Geschenken für alle Kinder des Dorfes zurück. Ich war viereinhalb Jahre alt und saß neben ihm, als er erstochen wurde. Die ganze Nacht über weinte und schluchzte ich ununterbrochen. Von da an begann ich zu stottern. Nur wenn ich sang, kamen mir die Worte widerstandslos über die Lippen. Und erst mit etwa elf Jahren, als ich lesen und schreiben gelernt hatte, hörte es allmählich wieder auf.
Während vieler Jahre wollte ich mir nicht eingestehen, dass er unwiderbringlich tot war. Sein Grab besuchte ich nie, und lange Zeit wagte ich mich nicht einmal in die Nähe der Friedhofsmauer. Ich nahm ihm seinen Tod übel, ich schmollte. Warum musste ausgerechnet mein Vater ermordet werden, wenn alle anderen Väter am Leben waren? Es gelang mir nicht, das zu verstehen.
Die Welt meiner Kindheit war von unbeschreiblichem Reichtum. Die Natur, ihre Farben, ihre Gerüche machten mich verrückt, brachten mich in eine Art Ekstase. Ich sang aus vollem Hals. Das Dorf gab mir denn auch den Spitznamen »Kemal der Verrückte«.
Wenn es eine unantastbare Person im Haus – oder gar im Dorf – gab, dann war das ich. Ich verführte die Kinder des Dorfes zu tausend Abenteuern: Melonen in Nachbardörfern klauen, Vögel jagen, in den Bergen Beeren und Pilze pflücken, den Leuten einen Bären aufbinden und die unglaublichsten Streiche spielen. Die Kinder folgten mir überall hin, wie gebannt, gehorchten mir bei jeder Gelegenheit.
Niemand behandelte uns Kinder wie minderwertige Wesen. Meistens unterschied man nicht zwischen uns und der Welt der Erwachsenen. Wir arbeiteten mit ihnen auf den Feldern, auch konnten wir bis zum frühen Morgen aufbleiben, um den großen Erzählern zuzuhören. Keinem wäre es in den Sinn gekommen zu sagen: »Das sind Kinder, sie können diese Geschichten nicht verstehen.« Die Gesänge, die Erzählungen, die Legenden waren für alle dieselben. Im Königreich meiner Kindheit gab es keine geschlossene Türen. Ich tat alles, wozu ich Lust hatte. Ich kannte keine Hindernisse. Wenn ich mir etwas wünschte, hatte ich jederzeit die Möglichkeit, zu handeln, und niemand konnte mich daran hindern – außer meine Mutter, die, soweit sie die Macht dazu besaß, streng über mich wachte.
Ich war ihr einziger Sohn. Sie war sehr aufgeweckt, und wo immer sie auftauchte, beherrschte sie alles im Nu. Ich bewunderte ihre Art, mit den Leuten umzugehen. Sie erzählte mir die Heldentaten ihres Bruders, der Bandit geworden war, und wie man ihn getötet hatte. Ich habe sie nie singen oder psalmodieren hören. Sie heiratete meinen Onkel, aber nicht aus Liebe. Sie brachte, außer mir, noch drei Jugen auf die Welt, einen von Vater, zwei von dem Onkel. Alle drei starben an Malaria. Ich war der einzige Überlebende. In der Familie meiner Mutter gab es kaum Männer, die vor Altersschwäche in ihrem Bett starben. Alle waren mit Gewehrschüssen ins Jenseits befördert worden. Ich glaube, sie war ziemlich stolz darauf; sie konnte deren Taten nicht genug rühmen.
Eines Tages kam ein Hausierer in unser Dorf. Er hatte Nähzeug und Stoff für die Bauern bei sich; er verkaufte es ihnen auf Kredit und trug die Schulden in ein Heft ein. Ich musste ungefähr acht Jahre alt sein. Ich fragte den Hausierer: »Was machst du da?« Er antwortete mir, dass das Aufschreiben ihm helfe, nichts zu vergessen.
Das war zur Zeit, als ich begann, Verse beliebter Dichter der Gegend zu rezitieren. Meine Mutter hatte seltsamerweise keine Freude daran, obwohl der große kurdische Dichter Abdal Zeyniki uns auf der Durchreise mit seinem Besuch beehrt und unter unserem Dach Versepen erzählt hatte. »Dieses Haus ist die Stätte, wo Abdal Zeyniki niedergekniet ist, um zu singen«, hörte man immerzu sagen. In meinen Augen war Abdal Zeyniki ein Heiliger. Warum mochte meine Mutter nicht, wenn ihr Sohn dem Weg dieses berühmten Dichters folgen wollte? Den alle so sehr feierten? Dessen Leben bereits zur Legende geworden war? Selbst andere kurdische Erzähler, die in unserem Haus rezitierten, bedienten sich aus seinem Schatz. Ich ließ mich vom Widerstand meiner Mutter nicht beeindrucken. Meine Gesänge waren bald in aller Leute Mund, man nannte mich »Kemal den Barden«.
Ich war etwa neun Jahre alt, als ich von der Ermordung eines berühmten Banditen hörte, der gelegentlich zu uns auf Besuch gekommen war. Ich dichtete eine Elegie auf ihn. Am Abend trug ich sie meiner Mutter vor. Es war das erste Mal, dass sie mich lobte, ohne weiteren Kommentar. Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich mich an keine Zeile mehr erinnern; vor lauter Begeisterung über ihre Freude hatte ich alles vergessen.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an den Hausierer und schwor mir, Lesen und Schreiben zu lernen. Zu jener Zeit konnte im ganzen Dorf niemand Lesen und Schreiben. Nicht einmal der Imam des Dorfes, Fetta Hoca, konnte das. Dank meinem unbändigen Willen konnte ich meine Familie davon überzeugen, dass ich innert drei Monaten Lesen und Schreiben lernen würde. Welch ein Gefühl war das, als ich mich als einziges Kind, barfuß und ohne Geld, das erste Mal auf den Weg ins zehn Kilometer entfernte Dorf machte, um zur Schule zu gehen.
Aus: Yasar Kemal, Entretien avec Alain Bosquet, Editions Gallimard, Paris 1992.