Sie haben einen Roman über eine ganz und gar ungewöhnliche Figur geschrieben. Eine Burleske und eine Tragödie zugleich über Djamschid Khan, einen Kurden, der durch die Gefängnisse geht, bis er so dünn und leicht ist, dass ihn eines Tages ein Windstoß aus dem Gefängnishof in die Luft hebt. Der Wind trägt ihn immer weiter. Im Laufe seines Lebens erlebt er noch viele Flüge, und mit jedem Sturz zurück auf die Erde verliert er von Neuem die Erinnerung, wer er war und was geschehen ist. Bachtyar Ali, wie kamen Sie auf die Idee, eine solche Geschichte zu schreiben?
Die Figur Djamschid Khan ist eine Kreation aus zwei Persönlichkeiten, die wirklich gelebt haben und die ich selbst in meiner Kindheit kennenlernte:
Zum einen ist es mein Onkel, der älteste Bruder meiner Mutter, der unter psychischen Problemen litt. Damals gab es in der Stadt Sulaimaniya keine Nervenklinik. Von Zeit zu Zeit wurde er nach Bagdad gebracht, wo er sich einer Elektroschock-Therapie unterziehen musste. Jedes Mal, wenn die Therapie fällig war, geriet er in Panik, weinte, sträubte und versteckte sich oder lief von zu Hause fort, um nicht nach Bagdad gebracht zu werden. Diese Therapie schien ihn für eine Weile zwar zu stabilisieren, aber nach jedem Mal überraschte er mit neuen Visionen: Einmal hatte er die Idee, zu heiraten, ein anderes Mal beharrte er darauf, Geschäftsmann zu werden, und dann verschwand er plötzlich. Zwei lange Jahre hörte man nichts von ihm. Er war in den Iran gegangen. An der Grenze war er von iranischen Grenzsoldaten aufgehalten und verhört worden, warum er in den Iran wolle? Seine Antwort lautete: »Ich bin gekommen, um den Schah zu töten.« Sie warfen ihn ins Gefängnis, und erst zwei Jahre später stellte die zuständige iranische Behörde fest, dass er psychisch krank war und ließ ihn frei.
Die zweite Person war unser Sportlehrer. Er war mager und völlig ausgemergelt. Die Stadt Sulaimaniya ist für ihre starken Winde bekannt. Wenn ein Sturm wütete, höhnten die Schüler, der Lehrer müsse seine Taschen mit Steinen füllen, um am Boden zu bleiben. Als Lehrer war er unerbittlich und wurde deshalb zu vielen Spielen, ob Fußball, Handball oder Basketball als Schiedsrichter hinzugezogen. Aufgrund seiner Strenge hassten ihn die meisten Schüler und man sagte ihm verschiedene Geschichten nach. Eine dieser seltsamen Geschichten, die Schüler erfunden hatten, ging so: Ein paar von ihnen hätten gesehen, wie ihn der Wind beinahe weggeweht hätte. Wenn seine Frau ihn nicht schnell mit ihrem Kopftuch an sich gebunden hätte, bis sie sicher zu Hause waren, hätte ihn der Wind mitgenommen.
Natürlich ging es mir um mehr als diese zwei Personen, die in meiner Kindheitserinnerung eine Rolle spielten. Mit Djamschid Khans Figur, sie begleitet mich seit meiner Jugend, wollte ich politische Zustände und existentielle Fragen darstellen.
Die Geschichte von Djamschid erzählt sein Neffe Salar. Ihm und seinem Cousin Smail wird von seiner Familie befohlen, den Onkel zu beschützen. Mit einem Seil binden sie ihn an sich, wenn sie ins Freie gehen. Salar und Smail haben es nicht leicht mit Djamschid. Er kann arrogant, herrschsüchtig und egoistisch sein. Trotzdem hilft ihm Salar. Warum?
Einem Befehl der Väter, beziehungsweise des Clans, musste ein junger Mann in Salars Situation Folge leisten. Aber es gibt tiefere Gründe. Einerseits empfindet Salar eine starke Ähnlichkeit mit Djamschid. Er verspürt in sich selbst jene Schwäche, die er in seinem Onkel sieht und versteckt sein eigenes Unbehagen gegenüber den Ereignissen und tragischen Schicksalsschlägen hinter Djamschids Gebrechlichkeit. Andererseits hegt Salar den heimlichen Wunsch, wie Djamschid Khan zu sein. Nicht nur federleicht davonfliegen zu können wie er, sondern auch mutig und leidenschaftlich zu sein, sich im Leben furchtlos auf Dinge einzulassen. Trotz der Schwäche ist Djamschid Khan in vielerlei Hinsicht kühner als er: Er hält der Folter stand, fliegt, heiratet, lässt sich auf Prostituierte ein, gründet eine Nachrichtenagentur und vieles mehr. Salar aber scheut jeden Schritt ins Abenteuer und hat Angst vor den Stürmen des Lebens. Djamschid fürchtet nichts. Er muss dafür teuer bezahlen, aber sein Drang, sich Herausforderungen und Schwierigkeiten zu stellen, bleibt lebendig. Djamschid hat große Träume, größer als er selbst, während Salar keine Vision hat, sich keiner Frau nähert, nicht reist, nichts Nützliches lernt. Er verharrt dort, wo er schon immer war. Also bewundert er insgeheim seinen Onkel und gewinnt ihn lieb. Diese zwei Figuren werden unzertrennlich, weil sie einander ergänzen.
Jeder von uns trägt in sich einen Teil Djamschid und einen Teil Salar. Ein Teil von uns fliegt, der andere Teil klebt am Boden, weil der Mut fehlt, sich vom Fleck fortzubewegen.
Dass Djamschid »fliegen« kann, beschert ihm ungeahnte, dramatische Abenteuer. Zum Beispiel sind die irakischen Generäle von seinen Flugkünsten derart beeindruckt, dass sie ihn als Wunderwaffe gegen den Iran einsetzte. Und nach jedem Absturz ist seine Erinnerung ausgelöscht.
Nach jedem Abenteuer und dem nachfolgenden Absturz sprießt etwas Neues in ihm. Der Wind ist im Grunde eine Metapher für jene Maschinerie der Geschichte, die uns gnadenlos im Griff hat. Djamschid ist immer wieder ein radikal anderer. Einmal präsentiert er sich als ein gläubiger Mensch, dann wiederum wird er zu einem Schlepper an der türkisch-griechischen Grenze, und zuletzt muss er in die Rolle eines Affen schlüpfen, den kurdische Politiker und Geschäftsmänner in einen Käfig gesteckt haben. Während ich diesen Roman schrieb, beschäftigte mich die gesamte Zeit eine Frage: Sind mir die tiefgreifenden und ständigen Wandlungen dieser Figur sympathisch oder sträube ich mich dagegen? Nur weil Djamschid keine permanente Identität hat, kann er allen Gefängnissen entfliehen. Die philosophische Hauptfrage des Werkes würde für mich lauten: »Ist die Identität nicht wie ein Gefängnis? Braucht es Stürme, damit wir ausbrechen können?« In einer Region wie dem Orient, der die Identität heilig ist, ist Djamshid Khan mit seinen vielen Verwandlungen eine revolutionäre Figur, aber zugleich auch eine tragische. Er selbst hadert mit seinem Zustand, denn keine Identität zu haben macht ihm Angst. Er klammert sich an jede Gestalt, solange es möglich ist. Die Angst, ohne Identität in der Welt zu stehen, lässt ihn zu einem Extremisten werden. Bedauerlicherweise ist einer der Hauptgründe, weshalb Extremismus im Orient allgegenwärtig ist und in unterschiedlichen Formen auftaucht, genau diese Angst vor einer Identitätslosigkeit.
Sind seine Erinnerungsverluste beispielhaft dafür, wie schnell eine Gesellschaft vergisst und sich neuen Machtverhältnissen anpasst? Also: Wer vergisst, überlebt?
Das Tempo des Vergessens im Orient ist viel schneller als im Westen. Im Westen wurden viele Methoden gegen das Vergessen der Vergangenheit entwickelt. Der Zweite Weltkrieg etwa ist zu einem wesentlichen Bestandteil der westlichen Kultur, Politik und Literatur geworden. Wer heutzutage seine politische Identität definiert, muss auch seine Haltung gegenüber der Vergangenheit bekanntgeben. In der Geschichte des Orients dagegen ereigneten sich die Umbrüche und Machtwechsel in den vergangenen vierzig Jahren so schnell und häufig, dass die Menschen in ihrer kurzen Lebenszeit zahlreiche und unterschiedliche politische und gesellschaftliche Wechsel erlebten. Erinnerung ist hier meines Erachtens so schmerzhaft, dass viele Menschen versuchen, ihre Erinnerungen auszulöschen, um leben zu können. Andere hingegen leben in einer Art fiebrigem Zustand, den ich »Erinnerungszwang« nennen möchte. Aber im Allgemeinen würde ich meinen, dass der Mensch im Orient dazu verführt, ja gezwungen ist, seine Vergangenheit aus der Erinnerung zu vertreiben, da die nächste Katastrophe unausweichlich ist. Die Gegenwart ist derart mit Gefahren und Bedrohungen gespickt, dass sich der Großteil der Bevölkerung weder der Vergangenheit noch der Zukunft widmen will oder kann. Im Orient liegt die Dynamik in den ständig aufeinanderfolgenden, unerwarteten, unausweichlichen Katastrophen. Sie kommen und gehen so schnell vorüber, wie die Gesichter und Gestalten vorüberziehen, die sie prägen.
Dieses schnelle Vergessen hat einen hohen Preis. Djamschid Khans Geschichte zeigt auch die tragischen Absurditäten, denen die Kurden, ja alle Menschen der Region ausgesetzt sind. Die Ideologien, die Kriege, die Weltanschauungen und Visionen folgen sich rasant. Ich frage mich: Ist es nur Djamschid Khan, der keinen klaren Charakter hat, oder der ganze Orient? Djamschid verkörpert das Problem der orientalischen Nationen, die kein klares politisches Konzept und somit keine bestimmte politische Perspektive haben. Jener Wind, der Djamschid mitnimmt, ist kein Naturphänomen, sondern der Wirbelsturm der Geschichte. Djamschid steht nicht allein, wenn ihm seine Erinnerungen abhandenkommen. Er ist da nicht viel anders als seine Zeitgenossen: Innerhalb eines Jahrzehnts sind sie Aktivisten der unterschiedlichsten politischen Parteien und wechseln dabei von links außen nach ganz rechts.
In Schweden kam einmal ein exilierter irakischer Politiker auf mich zu und meinte: »Ich durchlebte alles, was Djamschid durchlebt hat, aber in unterschiedlichen Gefängnissen verschiedener Länder.«
Die Figur des Djamschid erinnert an Don Quijote. Und sein Neffe Salar ist vergleichbar mit Sancho Panza. Salar ist der Realist, der möglichen Gefahren vorzubeugen versucht und an Djamschids Wille scheitert. Dennoch werden alle Gefahren überstanden. Haben Sie beim Schreiben an Don Quijote und Sancho Panza gedacht?
Während des Schreibens war mir das nicht bewusst. Aber nachdem ich den Roman fertiggestellt hatte und erneut las, fühlte ich eine feine Verwandtschaft zwischen Don Quijote und Djamschid. Allerdings ist Djamschid Khan nicht jener Mann, dem Bücher den Kopf verdreht haben. Und er hält sich auch nicht für einen Retter. Er kämpft auch nicht gegen Windmühlen, sondern gegen den Wind selbst, gegen das wahre Monster. Don Quijote ist für mich eine eher realitätsabgewandte Figur. Er hat kein wahres Bild von der Welt. Aber Djamschid steht mit beiden Beinen in seiner Wirklichkeit. Oft kann er sich anpassen und integrieren, und kann seine Schwäche geschickt in Stärke umwandeln. Er hat das Talent, alles und alle in seiner Umgebung zu seinen Gunsten zu manipulieren und zu missbrauchen, um stark zu erscheinen. Djamschid ist einer von jenen schwachen Menschen, die wissen, dass sie ohne Hinterlist und Gnadenlosigkeit nicht überleben können.
Salar hingegen ist der passive Charakter. Ohne Djamschid wäre sein Leben leer und sinnlos. Der Himmel ist für den Hauptprotagonisten die Bühne der großen Geschehnisse. Salar aber sieht, wenn er in den Himmel schaut, nur Leere und Sinnlosigkeit. Ohne seinen Onkel kann er den Wert seines Lebens nicht erkennen. Don Quijote und Sancho Panza stehen für Verstand und Verrücktheit. Djamschid und Salar sehe ich als den Gegensatz zwischen Werden und Starrheit. Alle Identitäten Djamschids sind vorrübergehend. Er ist eine tragische Figur, die weder eine Heimat noch Erinnerungen noch eine Identität hat. Salar hingegen schlüpft, wie so viele Menschen, in eine unveränderliche Rolle und verlässt sie nie mehr.
Würden Sie für Ihren Roman auch den Begriff »Schelmenroman« akzeptieren?
Ich bin der Meinung, dass der »Pikareske Roman« in der zeitgenössischen Literatur und im Kino sehr lebendig ist. Zum Beispiel der Roman Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand des schwedischen Schriftstellers Jonas Jonasson, oder Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Ikea-Schrank feststeckte des französischen Autors Romain Puértolas und viele andere zeitgenössische Werke. Wenn jemand auch meinen Roman in dieser Tradition sieht – gerne!
Mir allerdings geht es nicht um ein auffälliges Individuum. Mir geht es um allgemeine, weit verbreitete Schicksale, die ohne ihr Zutun in Richtungen getrieben werden, die sie selbst nicht bestimmen können. Die historischen Ereignisse sind in dieser Region wie zerstörerische Winde, die den Menschen blind vor sich hertreiben. Der Wind steht hier für all die dunklen, willkürlichen Kräfte, die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts das Leben der hilflosen Menschen zerstörten. Und als Gegenstück dazu: Um zu bestehen, werden die Menschen zu Meistern der Überlebenskunst und schlüpfen dazu in die gerade passenden Identitäten.
Ich hoffe, dass dieses Buch erkennen lässt, dass große Mächte in dieser Region im Spiel sind, die nicht zulassen, dass der Mensch die Richtung seines Lebens selbst bestimmt. Dass das Individuum seine ganze Lebenskraft in sein Überleben investieren muss. Dadurch sind wir ständig vom wahren Leben abgelenkt! Das ist ein unmenschlicher Zustand. So ist Djamschid im Grunde ein schlichter, einfacher Mensch, dessen Leben, wie das aller anderen, ständig in Gefahr ist. In einer Region, in der sich die Menschen nicht von den vielen Ketten zu befreien vermögen, auch wenn sie fliegen könnten. Ein Morgenland, dem jegliche Magie und Mystik genommen wurde, das von kleinen und großen Kriegen zerrissen wurde.
Die Fragen stellte Gerwig Epkes.