erlauben Sie mir diese egalitäre Anrede, aber dies ist ja ein literarischer Abend, und es gehört ja zu den großartigsten Eigenschaften eines guten Buches, dass es, wenn es einmal zur Hand genommen ist, keinen Unterschied macht zwischen Präsident und Untertanen, zwischen General und Soldat, zwischen Richter und Häftling. Vor einem guten Roman sind alle Menschen gleich.
Auf anatolischem Boden ist es allerdings eine Ungehörigkeit, als Jüngerer einem Meister des Wortes seine Zeit zu schmälern. Ich rede also mit leichter Bangnis, wie schon vor zwanzig Jahren, als ich mit leichtem Herzklopfen das Café Les Deux Magots in Paris betrat, möglichst fein herausgeputzt, ich hatte mir auch eigens ein geziemendes Sakko gekauft. Der Verlag war noch ein Fantasiegebilde, aber eins war klar: In diese »editions imaginaires«, diesen Idealverlag, gehörte Yaşar Kemal. An diesem Nachmittag betrat ich zum ersten Mal sein verzaubertes Reich. Er begann zu erzählen von Menschen, Bergen, von Adlern und Traktoren, von unerhörten Lieben und blutigen Kämpfen, von der sengenden Hitze und kristallklaren Bächen. Die eine Geschichte erkannte ich aus jenem Roman, eine andere aus einem zweiten, die dritte war unerhört neuartig, und zusammen bildeten sie eine ganz und gar neue Geschichte. Mitten in diesem Pariser Café war plötzlich Anatolien: ein rauschender Fluss, das war Yaşar Kemals Erzählkunst.
Yaşar Kemals Zauberreich findet sich auf jeder Landkarte: die Çukurova, die kilikische Ebene, eine Kulturlandschaft seit dem Altertum. In diesem Zauberreich ist alles groß, nie übertrieben, sondern großartig. Die daumengroßen Bienen schillern in tausend Farben. Die Vogelschwärme verdunkeln die Sonne, die Narzissen stehen uns bis an die Brust, die bodenlosen Sümpfe gurgeln wie Höllenschlunde. Die Erde ist fett und schwarz, ihr Duft berauscht die Menschen, jedes Samenkorn trägt hundertfach, drei Ernten im Jahr. Sie bringt den Menschen Segen und Fluch.
Es ist unsere Welt, obwohl die Çukurova fern ist, denn Yaşar Kemal, der die Klassiker von Thales bis Faulkner so sehr liebt, ist selbst ein Klassiker: Sein Schmied Haydar aus dem Lied der Tausend Stiere, der ein Leben lang an einem wundersamen Schwert schmiedet, ist ein Hephaistos der Nomaden. Mutter Meryemce aus dem Roman Der Wind aus der Ebene, die ihre Sippe peinigt und auf dem Rücken ihres Sohnes in die Ebene zieht, ist eine matriarchale Herrscherin aus der Epoche der anatolischen Urmütter. Im Roman Eisenerde, Kupferhimmel wohnen wir einer Verwandlung bei, wie wir sie aus allen Heiligen Schriften kennen: Taşbasoğlu, ein nachdenklicher, beherzter Bauer, wird in einem Winter voller Schrecknisse zu einem Heiligen, zum Propheten: Vor unseren Augen wird ein Mensch, der anders ist und besser scheint, durch die wachsende Verehrung der anderen Dorfbewohner zu einem Heiligen. Zuerst ein Heiliger wider Willen, aber nach Zaudern und Zögern besiegt ihn das eigene Sendungsbewusstsein. Im Rahmen einer anatolischen Dorfgeschichte verfolgen wir Schritt für Schritt, mitten im Leben die Genese eines Mythos, einer Religion. Aber sind wir hier nicht auch mitten im 20. Jahrhundert? Ist dieser Roman nicht auch eine Autopsie des Personenkults, des aufkeimenden Machtrausches und der zu späten Rache an den gestürzten Propheten?
Und erst Memed, diese so oft als türkischer Robin Hood missverstandene Figur. Der schmächtige, ausgemergelte Räuber, Rächer und Rebell, der selbst wieder zur Legende wurde - er ist eine zwiespältige, im Grunde unheroische Gestalt von äußerster Modernität: Aus der Auswegslosigkeit in die Rebellion getrieben, lässt er auf dem Weg der Revolte eine Blutspur hinter sich, die er selbst schmerzlich erkennt. Von Band zu Band - der Zyklus umfasst vier Bücher - verzweifelt er mehr an der übermenschlichen Fama, die ihn umgibt, ja umklammert und nicht wieder freigibt. Und dabei möchte er doch so gerne sein Feld bestellen, mit seiner Liebsten in Frieden leben. Hier in Leipzig darf man es vielleicht sagen: Erinnern Sie sich an die Briefe von Rosa Luxemburg? War sie nicht immer wieder von den gleichen Sehnsüchten und Zweifeln erfüllt?
Die kilikische Ebene als Weltbühne: Der Bauernjunge Yaşar Kemal kennt Anatolien wie seine Hosentasche. Als Kind hat er die alten Lieder und Epen gesungen, dann hat er sie gesammelt und publiziert. Als Journalist kam er in den Fünfzigerjahren in Dörfer, in die seit Jahrzehnten kein Fremder den Fuß gesetzt hatte. Die Bewohner flohen vor ihm in die Berge, weil sie meinten, nun komme wieder der Steuereintreiber des osmanischen Pascha. Seine Reportagen machten Furore, weil sie den Großstädtern das archaische Hinterland ins Bewusstsein riefen. Kommende Generationen von Volkskundlern, Sprachwissenschaftern und Historikern werden seine Romane als Quellen lesen und in ihnen die Geheimnisse dieses wundersamen Universums Anatolien finden. Anatolien - zugleich Brücke zwischen den Kontinenten, Wiege reicher Zivilisationen, Refugium zersprengter Völkerschaften und unterdrückter Religionen und Häresien, ein blühender Teppich mit rätselhaften, ineinander verschlungenen Motiven aus allen Kulturen und Zeiten zwischen Babylon und der Epoche des Dieselmotors.
Wenn Yaşar Kemal mit jeder Faser seiner Leidenschaft, mit seinem Wissen, seiner Liebe und seinem ebenso großen Zorn für die Gleichberechtigung all dieser Kulturen und Nationalitäten kämpft, dann ist das mehr als das, was wir hierzulande als demokratisches Engagement eines Schriftstellers bezeichnen. Er kämpft für das Überleben seiner Welt, der Kurden, Türken, der Nomaden und Zigeuner, Bauern und Fischer. Und in diese Welt gehören alle Wunder der Schöpfung: von den Adlern bis zu den Ameisen, von den silbernen Quellen durch die lebenspendenden Flüsse bis hinunter ins Meer, dem die Zerstörung droht. Sie haben es vielleicht inzwischen gelesen: Dutzende von Berufen hat er ausgeübt, als Aufrührer wurde er gejagt und gehetzt von der Polizei. Es gibt wohl keinen zweiten Schriftsteller in unserer Zeit, der die Welt, die er verteidigt, so umfassend selbst gelebt und in seinem Werk zum Leben gebracht hat.
Vor einigen Jahren beschloss ich, dieses Universum zu bereisen. Die Reise begann, aus verlegerischer Sicht, aufregend, als im ersten Gasthof an der Küste der andere Gast die soeben von uns ausgelieferte Memed-Ausgabe in den Händen hielt und versunken darin las. Als wir dann am Strand lagen, kam ein türkischer Junge auf uns zu und begann, mir die Geschichte vom Memed zu erzählen, dieses Buch müsse ich unbedingt lesen …
Als der Bus schließlich vom Taurusgebirge in die Çukurova-Ebene niederfuhr, überfiel mich eine niederschmetternde Enttäuschung: Kahl, topfeben, nackt und grau erstreckte sich eine agrarische Wüste mit schnurgeraden Ackerfurchen bis an den Horizont. Die Natur hatte den Kampf, den Kemal beschreibt, verloren. Nur einige Zeichen deuteten die frühere Pracht dieser Welt noch an: ein schütteres Nomadenzelt, eingekeilt zwischen Bewässerungsgräben; eine sumpfige Senke, in der unverhofft baumhoch und dicht das Schilf stand.
Und schließlich der Felsen von Anavarza, jeder Leser kennt ihn: ein Dorn mitten in der Ebene, darauf machtvolle Burgruinen aus zwanzig Jahrhunderten. Der Bauer, bei dem wir wohnten, erzählte uns eines Abends eine Geschichte:
Jedes Jahr kommt Yaşar Kemal in sein Haus, wohnt in dem Raum, wo wir nun schliefen. Wenn der Morgen graut, steigt er auf den Felsen, öffnet ein großes Buch und schreibt darin seinen neuen Roman bis die Sonne untergeht und er zu ihnen ans Feuer zurückkehrt, mit ihnen isst, singt und tanzt.
Als wir Yaşar später in Istanbul diese Geschichte erzählten, lachte er laut und sagte, er sei dort nie gewesen. Der Autor, der die Legenden sammelte, mit seinen Romanen neue Legenden schuf, ist selbst zu einer Legende geworden. Vielleicht gehören eines Tages auch die bleichen Memed-Pilger aus dem Norden zu dieser Legende.
In meinem Kopf ist Licht, wenn ich schreibe, sagte Yaşar Kemal vor einigen Tagen. Es ist wohl dieses Licht, das uns süchtig macht nach seinen Romanen. Es ist das Licht einer überfließenden Liebe, das Menschen, Tiere und Dinge in allen Farben aufblitzen lässt. Oft genug schimmert es blutrot, wenn es Grausamkeit, Verstrickung und Hass beleuchtet.
Yaşar Kemal ist kein Moralist, kein literarischer Agitator, er ist ein Dichter, der uns Menschen zeigt, was an uns menschlich und was in uns unmenschlich ist. Vor seinen Büchern, und oft genug auch vor ihm selbst, werden wir wieder zu Kindern, die über die Wunder dieser Welt staunen und über ihrem Schrecken den Atem anhalten. Und wenn er Ihnen eine Geschichte erzählt, dann werden Sie dieses Licht auch sehen, vor allem dann, wenn Sie groß genug sind, wie ein Kind zuzuhören.
Vergessen Sie dabei eins nicht: Ein Verurteilter spricht zu Ihnen. Das türkische Sondergericht hat Yaşar Kemal nur auf Bewährung aus dem Gerichtssaal entlassen. Erst gestern wurde einer seiner Mitstreiter wieder in Haft genommen.
So nahe liegen die Wunder und das Erschrecken beisammen in der Welt Yaşar Kemals.