Warum haben Sie sich entschieden, in Ihrem neuen Roman das Thema Femizid zu behandeln?
Ich denke, Femizid ist das dringendste Problem im heutigen Brasilien. Wir sind weltweit auf Platz fünf der Liste mit den meisten Femiziden. Während ich an dem Roman schrieb, waren in Brasilien über zehntausend Fälle von Femizid vor Gericht unverhandelt, eine schmerzhafte Belastung für die Familien. Das Justizsystem hat Anstrengungen unternommen, die Verfahren in den einzelnen Bundesstaaten zu beschleunigen. Der Bundesstaat Acre hatte die höchste Rate an Femizidfällen und war gleichzeitig am effizientesten in der Abfertigung vor Gericht. Das hat mich interessiert und ich es fand es spannend, wie man dieses Thema literarisch verhandeln könnte. Letztlich war es dann ein langer und aufreibender Prozess. Insgesamt habe ich ein Jahr lang recherchiert und geschrieben. Das Thema hat mich sehr berührt. Als der Roman fertig war, empfand ich vor allem Hilflosigkeit. Um damit umzugehen, habe ich mich meinem Hobby zugewendet, dem Malen. Ich habe mit Leinwand, Schere und Faden zu arbeiten begonnen, was ich zuvor noch nie gemacht hatte. Eines Tages sagte mein Mann: »Wow, all deine Wut passt nicht zwischen zwei Buchdeckel, oder?« Er hatte recht.
Konnten Sie Ihre Wut verarbeiten?
Nein, eine »Restwut« ist immer noch vorhanden. Ich denke aber, dass die dreigliedrige Struktur des Buches mir einen Rahmen bot, ein Gefühl von Gerechtigkeit zu erlangen. Nämlich, meine Protagonistin in eine Killerin zu verwandeln. Sie sucht ihre Peiniger auf und sagt: »Begleichen wir die Rechnung: Das ist für die Vergewaltigung, das für die Prügel, das für die Beschneidung meiner Emanzipation!« Jedoch musste ich diese Szenarien in Träume verpacken, ansonsten hätte ich meine Protagonistin vermännlicht. Gewalt ist ein männlich konnotiertes Identitätsmerkmal. In den Traumkapiteln aber kann meine Protagonistin abrechnen. Sie schließt sich den Icamiabas an – der Legende nach sind das Amazonen, Kriegerinnen, die gegen Männer kämpfen und sich ihre linke Brust amputieren, um den Bogen besser spannen zu können.
Der Originaltitel, »Mulheres Empilhadas«, lässt sich mit »haufenweise Frauen« übersetzen. Bezieht sich dieser Titel auf die Straflosigkeit?
Auf die Straflosigkeit, aber auch auf die Normalisierung. Alles, was als »Haufen« bezeichnet wird, ist wertlos. Während des Schreibens hatte ich das Gefühl, immer wieder dieselbe Geschichte zu lesen, sah immer diesen Haufen von Körpern vor mir, diese Frauen, die umsonst starben. Ein verschwendetes Leben, ein gesellschaftlich akzeptierter Tod. Es ist diese, sehr wohl reale Akzeptanz, die mich schockiert. Täglich lesen wir darüber in der Zeitung, doch das befriedigt vor allem unsere Sensationslust. Es ist eine Sache, von diesen Fällen in der Zeitung zu lesen. Eine andere Sache ist es, wirklich in dieses Universum einzutreten. Ein Wechselbad aus Empörung und Hilflosigkeit. Für mich war das sehr belastend.
Mussten Sie sich zwischendurch vom Stoff distanzieren?
Die Literatur selbst schafft Distanz. Das traumhafte Element der Abrechnung hat in gewisser Weise einen heilenden Charakter. Dort konnte ich auch Humor einfließen lassen. Es war ein Weg, diese harte Realität auszugleichen. Aus den Traumkapiteln zog ich die Kraft und den Mut, mich in meinem Schreiben wieder in die gewaltsame Realität zu begeben.
Die Protagonistin ist eine Frau, deren Mutter ebenfalls Opfer eines Femizids wurde. Das fügt der Erzählung eine weitere Ebene hinzu, zeigt eine weitere Art, wie sich Femizid auf die die Betroffenen auswirkt.
Ja, meine Protagonistin wird von ihrer Großmutter aufgezogen, die selbst an einem tiefsitzenden seelischen Schmerz leidet. Der Mord an der Mutter ist nicht bloß in deren Leben eine Tragödie, sie beschränkt sich auch nicht auf den Augenblick des Todes. Die Tragödie wirkt in der nächsten Generation nach, in der Tochter. Die Identität der Tochter wird zerstört und durch die Tatsache, dass ihr Vater ihre Mutter ermordet hat, neu definiert. Häufig geschieht das, wenn die Kinder noch ganz klein sind. Die eigene Mutter wird also von jemandem getötet, der dich eigentlich beschützen soll – vom eigenen Vater. Das ist sehr destruktiv. Und die Tochter wächst dann mit der Tragödie und dem Schweigen um dieses Thema auf. Femizid wird in seiner ganzen Komplexität häufig in den betroffenen Familien nicht diskutiert, ein Mantel des Schweigens wird darüber ausgebreitet. Die Familie des Opfers kann diesen Tod weder durch einen Schutzmechanismus noch durch lebenslange Trauer verarbeiten, also schützt sie sich durch dieses Schweigen. Genau wie die ermordete Frau, die lebenslang häusliche Gewalt erleben musste, ohne um Hilfe zu bitten. Sie war auch ein Opfer dieses Schweigens. Es ist ein schreckliches Schweigen, das vom Opfer auf die ganze Familie übergeht.
In Ihrem Roman gibt es immer wieder Frauen, die sich mitschuldig fühlen an den Aggressionen ihnen gegenüber. Spiegelt das die Realität?
Einer der kompliziertesten Aspekte von Gewalt ist, dass sie auf mehreren Ebenen zerstörerisch wirkt. Bevor die Frau umgebracht wird, vernichtet der Täter sie psychisch. Ihre Identität wird gebrochen, sie fühlt sich schuldig und hilflos. Sie glaubt, sie sei eine schlechte Mutter, eine schlechte Ehefrau, dumm und nichtsnutzig. Der Täter atomisiert sie, durchlöchert sie, zersetzt ihre Persönlichkeit.
Ist dem Täter diese Wirkung bewusst?
Sie ist ihm nicht nur bewusst, er hat auch Spaß daran. Er ist ein Manipulator. Es ist ein langwieriger Prozess, er baut sich langsam auf. Der Täter genießt jede Minute davon. Wenn er die Frau schlägt, fühlt er sich wie ein Superheld, fühlt sich mächtig. Als würde er ein Spiel gewinnen. Er tötet, weil er Frauen verachtet, er ist ein Misogyn, er akzeptiert keine weibliche Emanzipation, er akzeptiert keine Gleichstellung. All dies mag zunächst nur untergründig vorhanden sein, aber im Moment des Konflikts kommt es an die Oberfläche, und häufig bedeutet es den Tod der Frau.
Wie reagiert der brasilianische Staat auf diese Art von Gewalt?
Kaum. Häusliche Gewalt wird nicht als Angelegenheit des Staates wahrgenommen. Das ist es aber sehr wohl. Es ist eine Verletzung der Menschenrechte. Auf Menschenrechtsverletzungen wird doch auch reagiert? Warum legt der Staat jegliche Verantwortung ab, wenn es um die Beziehung zwischen Männern und Frauen geht? Für mich ist der Staat in zweifacher Hinsicht verantwortlich. Erstens, weil er Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden, nicht unterstützt, und zweitens, weil er bei der Verurteilung des Mörders nachlässig agiert.
War jedes Opfer von Femizid auch ein Opfer von vorausgegangener häuslicher Gewalt?
Ja, jedes. Die Gewalt ist kontinuierlich. Femizid ist bloß die Spitze des Eisbergs. Diese Frauen haben sämtliche Phasen der Gewalt durchlebt. Wir sehen bloß den Mord, alles andere geschieht im Verborgenen. Es beginnt mit verbaler Gewalt. Manchmal auch mit Eifersucht, mit Kontrolle. Der Mann will der Frau vorschreiben, wie sich kleiden soll, versucht, sie verbal zu dekonstruieren. Es ist vorhersehbar und vermeidbar. Das ist das Schreckliche daran. Wie kann etwas so Vorhersehbares und Vermeidbares in dieser Größenordnung geschehen? Wie kann eine Gesellschaft damit leben? Die Arbeit an diesem Buch hat mich auf eine Realität aufmerksam gemacht, die mich verstört und mich von nun an begleitet. Ich werde weiterhin aktiv sein und mich politisch engagieren. Ich sehe mich als Teil der Debatte. Ich befinde mich im Kampf. Und ich werde nicht aufhören zu kämpfen.
Das Interview wurde aus dem Portugiesischen übersetzt und gekürzt. Es erschien zuerst auf Universa, die Fragen stellte Maria Carolina Trevisan.