Jedes Jahr, wenn sich die ersten Vorzeichen des Frühlings ankündigten, kamen Kinder und Erwachsene auf dem Platz zusammen, und die Sänger trugen die alten Lieder und Epen vor.
Diese Sänger waren meine ersten Lehrer der Literatur. Ich begann wie sie Lieder, Legenden und Gedichte zu machen, mit acht Jahren, noch bevor ich lesen und schreiben konnte. Das ist mein kultureller Hintergrund, ich begann als Volkssänger. Mit siebzehn Jahren fing ich an, diese Legenden und Epen zu sammeln. Zuerst sammelte ich die Totenklagen, wie sie von türkischen Frauen gesungen werden. 1943 wurden einige davon veröffentlicht – das war mein erstes Buch.
Vor einiger Zeit war ich in einem Dorf in Thrakien, und da hielt sich gerade ein berühmter Wandersänger auf. Er hatte für den Abend »Geschichten von Memed, dem Falken« angekündigt. Wir gingen hin – und was er erzählte, war unendlich viel schöner als das, was ich geschrieben hatte und was überhaupt je ein Schriftsteller schreiben könnte. Da er mit seiner Geschichte von Dorf zu Dorf zog und es verstand, in den Augen seiner Zuhörer zu lesen, alles Bauern, hatte er Personen, Ereignisse, Beschreibungen verändert. So hatte er ein Meisterwerk geschaffen, gemeinsam mit dem Volk.
Die Epen sind wie jahrtausendealte Kiesel auf dem Grund des Stromes; mit der Zeit werden sie geschliffen und poliert. Es sind ja immer die Menschen, die die Mythen schaffen. Das Volk hat Memed geschaffen, als Symbol seiner Hoffnungen und Erwartungen. Ohne das Volk, das auf Memed hofft, ihn verehrt, auf ihn wartet, ist er ein völlig unbedeutender Mensch. Ich denke, das ist so mit allen Helden der Menschheit.
Als ich zu schreiben begann, war ich weit davon entfernt, an einen Leser zu denken; auch wagte ich nicht, an eine Veröffentlichung zu denken. Ich lebte unter solch widrigen Umständen, dass ich davon nicht einmal träumen konnte. Heute, nach vielen Jahren, kenne ich meine Leser immer noch nicht. Für wen schreibe ich, welchen Leuten gefallen meine Geschichten? – Wie sollte ich das wissen? Ich versuche, Honig in meine Schale zu füllen und warte, wie man bei uns sagt, auf die Bienen aus Bagdad. Was kann man anderes hoffen?
Dennoch kann ich nicht einfach nur für mich schreiben: In meinen Venen fließt das Blut von dichtenden und erzählenden Vorfahren. Die Epenerzähler gaben ihre Geschichten nur vor einem versammelten Publikum zum Besten. Dieses saß ihm gegenüber, es erregte sich, weinte, lachte mit dem Erzähler. Der Erzähler war eins mit ihm. Ich habe die Gelegenheit gehabt, das zu erleben und die Rolle des Erzählers in den Dörfern zu spielen. Ich habe dieses unvergleichliche Vergnügen gekostet, meine Magie in den Gesichtern der Zuhörer zu lesen. – Nun schreibe ich, aber ich sehe den Leser nicht … Deshalb möchte ich, dass die Leute mich lesen, dass meine Welt der Fantasie und der Magie die ihre wird. Von daher meine Liebe zum Erzählen, der Wunsch, dem Unbewussten meiner Leser zu begegnen.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind nächtelang die Welt in einen Traum verwandelte. Ich ließ mich gehen, tauchte ein in diese Träumereien, in dieses Universum des Glücks, das ich nur ungern wieder preisgab. Schon die kleinsten Dinge genügten, um mich in anderen Welten zu verlieren: eine neue Bienen- oder Ameisenart, eine unbekannte Blume, die ich während der Arbeit auf den Feldern entdeckte …
Ich denke, seit meiner Kindheit hat sich meine Fantasie nicht groß verändert. Sie ist etwas Alltägliches, wie das Leben des Menschen auch eine Kette von Nöten und Schwierigkeiten ist. Und seine Geschichte ist die Geschichte des Widerstandes dagegen.
Wenn das Leben den Menschen so hart an den Abgrund führt, dann muss er sich, um zu überleben, eine andere Welt erschaffen. Das ist die Welt der Träume, der Mythen. Das kann eine Religion sein, ein Prophet. Ich habe in meiner Kindheit oft genug erlebt, wie in grausamen Dürreperioden und Hungersnöten Männer aus meinem Dorf plötzlich als Heilige angesehen wurden, wie man ihnen die Füße geküsst hat, die Kinder zu ihnen schickte zum Handauflegen. Und kaum kam der Regen wieder, verspottete, quälte man sie, weil man sich schämte. Einen hat man, ich kann mich genau daran erinnern, so weit getrieben, dass er sich im Fluss ertränkte.
Es kann aber auch ein Diktator sein, oder es kann die Kunst sein, das Epos. Wenn Völker unter besonders grausamem Druck stehen, schaffen sie Werke von besonderer Gewalt. Die Ilias wurde geschaffen in der gewalttätigen Periode eines neunjährigen Kampfes. Alle großen Epen, von den germanischen bis zu den ägyptischen, wurzeln in gewaltsamen Ereignissen. Wenn der Mensch bis an seine Wurzeln erschüttert ist, dann blühen die Religionen, die Propheten – und auch die Epen. In meinen Romanen will ich zeigen, dass der Mensch nicht nur in der realen Welt lebt, die er um sich herum sieht, die er berührt, sondern auch in seinen Träumen, die er sich schafft. Beide Welten sind unendlich, und beide sind unauflöslich miteinander verwoben. Ist das nicht einer der wesentlichsten Werte, den der Mensch hat kultivieren können? Und schafft der Mensch dieses Mysterium nicht, um das Unsterbliche begreifen, aber auch dem Unausweichlichen standhalten zu können?
Aus Interviews mit Altan Gokalp, Erdal Öz, Lucien Leitess