»Ein Schweizer Roman – ein lebensechter Frauenroman«, so kündigte die Büchergilde Gutenberg im Aprilheft 1934 ihrer Zeitschrift Schwester Lisa, eine der beiden Neuerscheinungen des zweiten Quartals an. Einem knappen Satz über die unbekannte Autorin folgte die etwas betuliche Vorstellung des Romans, die in fast feierlich anmutende Betrachtungen über den sittlichen Gehalt eines Buches ausmündete, dem man publizitätshalber immerhin den Untertitel »Irrweg einer Frau« verpasst hatte. Mögen Vorstellung und Ankündigung der Neuen und ihres Erstlings heute auch unbeholfen anmuten festzuhalten, respektvoll und anerkennend, ist dies: Wie damals so oft war es wiederum die Büchergilde Gutenberg, die mit einer ungewöhnlichen Entdeckung ein bemerkenswertes Wagnis eingegangen war. In der Zeitschrift ließ man auch die Autorin selber zu Wort kommen. Mit biografischen Angaben ging auch sie sparsam um, aber sozialkritische Töne und bedenkenswerte Einsichten in wirtschaftliche und soziologische Zusammenhänge lassen aufhorchen und auf ihren Roman neugierig werden:
»Eigentlich ist es nicht ganz richtig, wenn ich sage, dass ich diesen Roman geschrieben habe. Ich habe mich nicht einfach an den Tisch gesetzt und zu schreiben begonnen, sondern zuerst hat das Leben mich in die Lehre genommen.
Kein ruhiger, gerader Weg war mir vorbehalten. Den Verhältnissen entsprechend, denen ich entstamme und die mich von Kindheit an geformt, wurde ich ein Produkt unserer Zeit. Mit acht Geschwistern zusammen wuchs ich in einem Industriedorfe auf. Der Angestelltengehalt des Vaters und die emsige Heimarbeit der Mutter ernährten uns reichlich. Aber der strenge Wille des Vaters, uns makellos der traditionellen, kleinbürgerlichen Weltanschauung zu erhalten, schuf eine Atmosphäre, die hemmend auf meine Entwicklung wirkte. Die Spitäler, in denen ich später als Schwester arbeitete, setzten das begonnene Werk des Elternhauses fort. Die Grenzen der Freiheit waren da noch enger gezogen. Als ich reifer wurde, wuchs mein Drang nach Selbstständigkeit. Doch zermürbt von den Strapazen des Berufes, fand ich den richtigen Ausweg nicht. Erst nach vielen Erfahrungen und nachdem ich die Arbeiterbewegung kennenlernte, begann ich zu denken. Das Leben hatte mich umgeformt, mit andern Augen sah ich nun die Welt. Ich lernte die Widersprüche und die Ungerechtigkeiten erkennen und ergründete auch deren Ursachen. Ich sah die sozialen Missstände, das Elend und die Ausweglosigkeit der heutigen Gesellschaft, und ich konnte nicht mehr schweigen.«
Die biografischen Quellen zu Elisabeth Gerter, wie sie sich als Schriftstellerin in Anlehnung an den Namen ihres zweiten Mannes nannte, fließen auch heute eher spärlich; die Angaben sind nicht frei von Widersprüchen. E. Gerter kam am 15. Juni 1895 als siebentes von zehn Kindern des Ehepaares Hartmann-Luchsinger in Gossau, St. Gallen, zur Welt; ein Bruder war schon drei Jahre vor ihrer Geburt verstorben. Der aus Schiers stammende Vater hatte im glarnerischen Bilten das Sticken erlernt, seine spätere Frau war Fädlerin bei ihm. 1883 ließen sie sich in Gossau nieder. Wegen zunehmender Augenschwäche, aber auch aus Sorge um seine zahlreiche Familie, gab Johannes Hartmann in der Krisenzeit zu Anfang der neunziger Jahre seinen Beruf auf und wurde Dorfbriefträger, eine Beschäftigung, die seiner initiativen und künstlerisch veranlagten Natur wenig Nahrung bot. Zusammen mit einem Kollegen gründete er eine Hinterbliebenenhilfskasse für das uniformierte Postpersonal, die bei Todesfällen ein Sterbegeld von anfänglich zweihundert Franken ausrichtete. Mutter Hartmann machte Heimarbeit als Handnachstickerin, und auch die Kinder wurden, wie überall in den Stickergegenden, früh zur Mithilfe herangezogen, vor allem auch im großen Hausgarten. Sie wuchsen in geordneten, sogar durch einen bescheidenen Wohlstand gesicherten Verhältnissen auf.
Neben diesen nüchternen Mitteilungen gibt es allerdings eine reichhaltigere und lebendigere Quelle, man muss sie nur mit der Zurückhaltung benützen, die autobiografischen Darstellungen gegenüber geboten ist.
Zehn Jahre nach Schwester Lisa ließ Elisabeth Gerter den Roman Der fremde Klang folgen, vom zweiten Drittel an eine missglückte Neufassung des Erstlings. Die ersten acht Kapitel jedoch schildern Kindheit und Jugend einer Hortensia Hauptmann in Auen, die in vielem der von Elisabeth Hartmann in Gossau entspricht, auch im enttäuschenden Verlauf des Bildungsganges. Dem Vater der begabten Tesa wird vom konservativen Lehrer der dörflichen Oberschule mit althergebrachten Klischeesprüchen abgeraten, das Mädchen, seinem Wunsch entsprechend, in die Realschule nach St. Gallen zu schicken: »Wollen Sie Tesa studieren lassen, damit sie in kaum heiratsfähigem Alter alles an den Nagel hängt? Oder soll sie ein Bürofräulein werden, das jeden Tag nach St. Gallen fährt, in kurzer Zeit einen Schatz und noch schneller ein Kind hat? Zukünftige Hausfrauen gehören nicht in die Realschule.« Dass der Vater auf den Rat des Lehrers hört, ist für das Kind umso bitterer, als die jüngeren Schwestern später das Realschulexamen bestehen dürfen. Die Autorin hat aber nicht nur trübe Schulerinnerungen. Mit großer Liebe und Verehrung hing sie an ihrer Lehrerin der unteren Klassen, die auch für die übernächtigten Stickerkinder viel Geduld und Güte aufbrachte; in der Gestalt Meta Gabathulers hat sie ihr im Sticker-Roman ein prächtiges Denkmal gesetzt.
Für Tesa scheint der Schicksalsfaden mit dem enttäuschenden Entscheid von Lehrer und Vater gesponnen. Eine Nachstickmaschine wird gekauft, die ältere Schwester lehrt Tesa an – und die Schulkommission dispensiert sie großzügig für den Rest des letzten Schuljahres. Die Spitzenschülerin neben den schwächeren Achtklässlern, das ist den Mannen doch nicht geheuer. Tesa erweist sich als schlechte Akkordarbeiterin, und als sich gar Ohnmachtsanfälle an der Maschine einstellen, drängt der Arzt auf Luftveränderung. Lugano zuerst, dann Vercelli bei Mailand sind die Stationen, wo Tesa-Elisabeth nach ihrer Konfirmation als Kindermädchen und Haushilfe in Stellung geht. Auf dem piemontesischen Landgut eines Ingenieurs trifft sie es nicht schlecht, aber auf einem Ausflug in die Reisfelder der Po-Ebene »steht sie bewusst zum ersten Mal vor einem abgrundtiefen Klassenunterschied«. Auf die Frage nach dem Verdienst der Landarbeiter »wird ihr ein Taglohn genannt, der ein Sträflingslohn ist!«
Während ihres Italienjahres erlebt die Achtzehnjährige auch ihre erste Liebe. Aldo, Sohn einer begüterten Familie, ist Student; später, als italienischer Berufsoffizier, denkt er nicht daran, Tesa-Lisas wegen unter seinen Stand zu heiraten. Bei einem Einsatz der Ordnungstruppen gegen fabrikbesetzende Arbeiter in den sozialpolitisch unruhigen Nachkriegsjahren Italiens wird Aldo in Turin erschossen. So gut es Tesa in der Familie Pozzi gefällt, ein zweites Jahr will sie nicht bleiben, das wäre »Wiederholung, Stillstand also«. Sie plant, in Mailand eine Bürostelle anzunehmen, im Italienischen fühlt sie sich fortgeschritten genug. In Abendkursen will sie an Bildung nachholen, was ihr in der Heimat versagt geblieben ist. Aber schon sind die verhängnisvollen Schüsse von Sarajewo gefallen, ein Telegramm des Vaters ruft sie nach Hause – auf dem Bahnhof Chiasso setzt im Juli 1914 Elisabeth Gerters Erstling Schwester Lisa ein; er ist ausdrücklich als Roman gekennzeichnet, stimmt aber im großen Ganzen mit dem Lebenslauf der Autorin zwischen 1914 und 1931 überein. Trotzdem liegt seine entscheidende Bedeutung nicht im Individualistisch-Autobiografischen. E. Gerter hat ihre tiefer reichenden Absichten im schon zitierten Artikel in der Zeitschrift Büchergilde vom April 1934 klar genug bekannt:
»Das Leben verlangte von mir, dass ich sprach von dem, was mich bewegte:
Von Mädchen, die mit Idealen in den Krankendienst treten; aber in der zu strengen und aufreibenden Arbeit und der heuchlerischen Schwesternmoral körperlich und seelisch zu Grunde gehen.
Von jungen Frauen, die es zur Selbstständigkeit drängt, die aber in der Ehe die Kameradschaft nicht finden, weil oft die Männer in der Frau noch das Selbstlose, das Ausbeutungsobjekt sehen.
Von werdenden Müttern, die in der heutigen Krise, in der Arbeitslosigkeit und dem Elend nicht wagen, Kinder in die Not hineinzugebären und zu Mitteln greifen, die ihnen Krankheit und Gefängnis bringen.
Von Frauen Not und Leid und auch von Frauen Glück zwang mich das Leben zu schreiben. Und so ist mein Roman entstanden.«
Der Roman führt tatsächlich weit über das Persönlich-Bekenntnishafte hinaus, weiter und entschiedener als Anneliese Rüeggs anschauliche, aber ganz auf Erlebtes abstellende Berufs- und Lebenserfahrungen: Erlebnisse einer Serviertochter. Diese 1916 im Verlag der Buchhandlung des schweizerischen Grütlivereins erschienenen Erinnerungen, denen noch ein zweites Bändchen folgte, können aber insofern als früher Vorläufer von Schwester Lisa angesehen werden, als sich hier erstmals in der Schweiz eine Proletarierin erzählend zum Wort gemeldet hatte. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Elisabeth Gerter, so wie sie wenige Jahre später mit dem ersten großen und bedeutenden Industrieroman unseres Landes überraschen sollte, mit Schwester Lisa den ersten authentischen schweizerischen Frauenroman vorlegte. Er ist nicht nur wegen der sozialkritischen Anklage aus der Sicht der arbeitenden Frau wichtig; er deckt auch mit einer für die damalige Zeit unerhörten Offenheit das Ringen einer Frau um Befreiung und Selbstverwirklichung auf – ein mindestens in seinen Absichten deutliches, wenn auch in der künstlerischen Ausformung oft noch tastendes und suchendes emanzipatorisches Bekenntnis. Es ist nicht schwierig, vor allem im zweiten Teil von Schwester Lisa Mängel im Formalen auszumachen – darob zu übersehen, dass Elisabeth Gerter innert weniger Jahre zwei für ihre Zeit ebenso eindrückliche wie wagemutige Romane vorlegte, wichtige Pionierleistungen beide, wäre unklug und undankbar. Aus der Diskussion um Ansätze und Verlauf der Frauenbewegung in unserem Land kann Elisabeth Gerter mit ihrem Werk jedenfalls nicht länger ausgespart bleiben.
Es ist in Schwester Lisa mehrfach abzulesen, wie wenig Respekt Elisabeth Gerter vor heißen Eisen hatte, wie sehr ihr daran gelegen war, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, besonders eindrücklich und offen in der Enttarnung des bisher scheinheilig, aber wirtschaftlich zweckdienlich idealisierten Berufsbildes der Krankenschwester.
Im Sommer 1914 wurde E. Gerter als jüngste Teilnehmerin des neuen Lehrschwesternkurses in die Schwesternschule des Roten Kreuzes in Zürich aufgenommen. Nach dem ersten Ausbildungssemester am Mutterhaus in Zürich-Fluntern absolvierte sie die sechs Praktikumsmonate im Kantonsspital Glarus, dem ersten einer großem Zahl von Vertragsspitälern des Mutterhauses. Die beiden weiteren Jahre ihrer Ausbildung verbrachten die Schwesternschülerinnen im vollwertigen Pflegeeinsatz, hauptsächlich im Kantonsspital Zürich oder auf städtischen Außenstationen des Mutterhauses wie etwa in den Gemeindekrankenpflegen von Aussersihl oder Enge. In der chirurgischen Abteilung des Kantonsspitals hatte die junge Schwesternschülerin auch Gelegenheit, Wesen und Wirken des »Allmächtigen« aus nächster Nähe mitzuerleben. Der für seine bahnbrechenden Thoraxoperationen berühmte, wie wegen seiner Unbeherrschtheit und den verletzenden Umgangsformen Untergebenen gegenüber gefürchtete Professor Ferdinand Sauerbruch war von 1910–1918 ordentlicher Professor an der Universität Zürich und Direktor der chirurgischen Klinik und der Poliklinik des Kantonsspitals. Tatsächlich führten die »preußischen Befehls- und Unterordnungsverhältnisse« zu bitteren Zerwürfnissen in der Klinik; der »Fall Sauerbruch« kam in der Presse zur Sprache und gab im Kantonsrat zu reden, doch die rebellierenden Assistenzärzte zogen den Kürzeren.
Ende 1916 rief die Mutter ihre Tochter zur Pflege des todkranken Vaters nach Hause; dieser starb, erst zweiundfünfzigeinhalbjährig, am 8. Januar 1917. E. Gerter beschloss nun, noch vor Beendigung der dreijährigen Ausbildungszeit und somit ohne Diplom, aus der Rotkreuzschwesternschule auszutreten. Sie hoffte, als Privatpflegerin ihre verwitwete Mutter und zwei noch minderjährige Schwestern besser unterstützen zu können. Beträchtlich waren die Beträge nicht, die sie in den folgenden drei Jahren heimschicken konnte – die Mutter legte sie beiseite und gab sie der Tochter wieder in den Notjahren ihrer ersten Ehe. Vermutlich waren die finanziellen Überlegungen nur Vorwand gewesen: Mit dem vorzeitigen Schulaustritt wollte E. Gerter der von ihr als heuchlerisch empfundenen Ordensmoral und einem ausbeuterischen Arbeitssystem so rasch als möglich entrinnen.
Nach Wochen der Arbeitslosigkeit kam sie in einer Privatklinik in Leysin unter, im »neuen Davos«, dem Imperium Dr. Auguste Rolliers. Dieser hatte 1903 eine erste Klinik in Leysin eröffnet und entwickelte dort seine bald Weltruhm erlangende Behandlungsmethode der Heliotherapie, der Heilung von Knochentuberkulose durch intensive Sonnenbestrahlung. In den Zwanzigerjahren unterstanden »dem Chef« etwa fünfunddreißig Heil- und Kuranstalten in Leysin. Anfang 1918 legte Elisabeth Gerter in Bern das »Bundesexamen« ab, die Prüfung, die der 1910 gegründete schweizerische Krankenpflegebund für freie Krankenschwestern veranstaltete; anschließend trat sie ins Rotkreuzpflegerinnenheim Bern ein. Die sogenannten »Heimschwestern« erhielten freie Unterkunft, Kost, Wäsche und oft auch Dienstkleidung. Sie bekamen ein geringes festes Monatsgehalt und für jeden Tag im Pflegeeinsatz einen bescheidenen Zuschuss. Heimschwestern waren sozial zwar gesicherter als unabhängige Privatkrankenpflegerinnen, hatten sich aber den Anordnungen der Heimvorsteherin strikte zu unterziehen und mussten jede ihnen zugewiesene Pflege übernehmen. Für die obligatorische Hausarbeit im Heim an pflegefreien Tagen gab es keine Entschädigung. Pflegeeinsätze führten E. Gerter im Grippejahr 1918 ins Berner Oberland, ins Inselspital und auf Quartierstationen der Universitätspoliklinik, wobei sie täglich der aus Krankheit, Arbeitslosigkeit und Teuerung erwachsenen Not und Bedrängnis der Arbeiterbevölkerung begegnete. Nach ihrer Kündigung im Heim arbeitete sie vorübergehend als freie Schwester in einem Mailänder Spital; als Privatpflegerin reiste sie anschließend mit ihrer Patientin und deren Familie nach Paris und Nizza. 1920 nahm sie wieder eine Stelle in Leysin an, diesmal in der Clinique Semiramis.
Am 8. Februar 1921 heiratete sie in Basel den Uhrmacher und Kaufmann Karl August Müller. Sie hatte ihn in Leysin kennengelernt, wo er in einer andern Klinik seine Knochentuberkulose am Bein auskurierte. Es war keine glückliche Ehe. Müller fühlte sich zum Dichter berufen und bemühte sich in den Krisenjahren der Nachkriegszeit nur selten um Arbeit; den Herbst 1923 verbrachte er in Florenz und Livorno, anschließend lebte er einige Monate in Zürich. Den Lebensunterhalt musste E. Gerter bestreiten, als Haushalthilfe, Privatpflegerin und während Monaten wieder als Klinikschwester in Leysin. Sie schickte ihrem Mann buchstäblich den letzten Rappen und musste gelegentlich in demütigender Weise noch Geld von Patienten borgen. Im Frühjahr 1925 übersiedelte das Ehepaar nach Biel, wo er als Heimarbeiter auf seinem Beruf arbeitete, während sie in die Fabrik ging, bis er genug Aufträge hatte, dass sie ihm als Hilfskraft zur Hand gehen musste. Der Verdienst war passabel, Müllers Ausdauer jedoch gering, und im Sommer 1927 versuchten sie in Brüssel Fuß zu fassen, umsonst, und auch in Biel ging es nach der Rückkehr nicht besser – »wir hatten seit zwei Tagen kein Geld mehr, nicht einmal mehr so viel für eine Marke«, heißt es in einem Brief E. Gerters vom Juli 1928. Eine nächste Station war La Chaux-de-Fonds, dann wieder Basel, aber da ging diese Verbindung, in der E. Gerter viele Opfer gebracht, aber auch wertvolle geistige Anregung empfangen hatte, schon der Auflösung entgegen. Die Ehe wurde am 31. Mai 1930 geschieden.
Im Dezember 1932 heiratete Elisabeth Gerter den Basler Maler Karl Aegerter, den sie schon an die zehn Jahre kannte. Seit 1923 war er mit Karl Müller befreundet, während der Bieler Jahre wohnte er eine Zeit lang bei ihm. Von 1927 an geriet Elisabeth Gerter immer stärker unter den Einfluss seiner ebenso starken wie damals unausgeglichenen Persönlichkeit – »du bist in allem maßlos. Im Guten wie im Bösen«, schreibt sie ihm anfangs 1931, und aus ihren zahlreichen erhaltenen Briefen sind die häufig wechselnden Hochstimmungen und Depressionen der ersten Jahre dieser Liebe deutlich ablesbar. Das problemreiche, quälende Dreiecksverhältnis in Schwester Lisa hat seine Wurzeln unverkennbar in intensiv Erlebtem.
Karl Aegerter war ganz schattenhalb aufgewachsen. Als Halbwaise und Sohn eines verarmten Bauern in der Langen Erlen bei Basel erlebte er ein Kinderschicksal ähnlich dem C. J. Looslis: vom sechsten bis zum dreizehnten Altersjahr wuchs er als Heimzögling auf. Nach der Schule arbeitete er in der Fabrik, konnte dann in Basel eine Flach- und Dekorationsmalerlehre absolvieren, und nachdem er als wandernder Handwerksgeselle und bei Häuserrenovationen mit seinem älteren Bruder August zusammen genug erspart hatte, wanderte der Siebenundzwanzigjährige 1915 nach München, wo er von 1916 an vier Jahre an der Akademie der bildenden Künste studierte – Raskolnikow hieß einer seiner ersten Bilderzyklen. Nach Aufenthalten in Dresden und Basel begab er sich – wie später immer wieder – seiner geschwächten Lungen wegen ins Bündnerland, wo er sich am Heinzenberg, in der Viamala, am Albula, im Oberland und im Engadin intensiv der Landschaftsmalerei widmete. Sein Lebensthema aber wurde der Mensch, der vom Schicksal Gezeichnete: Arbeitslose, Flüchtlinge, Blinde, Kriegsgeschädigte, aber auch der Arbeiter, die Kohlenhauer der belgischen Borinage, Basler Fabrikler – Kollegen, wie er sie in den Krisenzeiten der Dreißigerjahre kennenlernte, wenn er nach Wochen der Arbeitslosigkeit zeitweilig bei der »Chemie« unterkam. Der schon früh stark vom Sinn für soziale Gerechtigkeit Geprägte ließ es aber nicht dabei bewenden, seinem Mitgefühl für die Unterdrückten und Benachteiligten nur in der Kunst Ausdruck zu verleihen. Schon in den Zwanzigerjahren wurde er Mitglied der kommunistischen Partei, gab für die Parteitätigkeit während Jahren sein künstlerisches Schaffen auf, war eine Zeit lang Sekretär der KP Basel und von 1932 bis zum Verbot der kommunistischen Partei in der Schweiz im November 1940 Mitglied des Basler Großen Rates.
Elisabeth Gerter ließ sich auch politisch von Aegerter beeinflussen. Aus aufgefundenen Notizheften und aus vielen Briefstellen geht hervor, dass sie sich intensiv mit linker Publizistik befasste, mit Trotzkis Literatur und Revolution, mit Bebels Standardwerk Die Frau und der Sozialismus, von dem sie Aegerter mitteilt, »es interessierte und langweilte« und mit den Werken der Sowjetschriftstellerin Alexandra Kollontai. Motiviert durch eigene leidvolle Erfahrung kommentiert sie zustimmend die Schriften von Helene Stöcker, der Gründerin des »Bundes für Mutterschutz« und das damals berühmteste Buch im Kampf gegen den deutschen Abtreibungsparagrafen 218: Gebärzwang und kein Ende des deutschen Kommunisten Emil Höllein. In Biel traten sie und ihr erster Mann der kommunistischen Partei bei. Sie erkannte aber deutlich die Grenzen revolutionärer Agitation in der Schweiz, wie aus einem Brief an Karl Aegerter vom August 1928 hervorgeht: »Es wäre auch eine große, schöne Aufgabe, in Fabriken Frauen zur Partei zu ziehen – aber man muss bedenken, dass wir in der Schweiz kein Proletariat haben. Alle diese Mädchen und Frauen sind Kleinbürger oder sehnen es von Herzen zu sein. Wir haben keine Hungernden, keine Verzweifelnden. Und Satte zu überzeugen ist schwer.«
Als sie nach langem Unterbruch wieder in den angestammten Beruf zurückkehrt – als Privatpflegerin in Zürich im Frühling, als Nachtschwester im Kreisspital Männedorf im Sommer 1931 – ist sie froh, über Zürcher Genossen einige Kontakte in einer ihr sonst fremden Umwelt zu finden. In Männedorf waren nur die Hälfte der Schwestern Diakonissinnen; bei den freien Schwestern versucht sie, für eine eigene Schwesterngewerkschaft zu agitieren, »aber es dürfte vorderhand von Kommunismus nicht einen Schein haben«, schreibt sie nach Basel. Es kommt zu keinen Resultaten: als Nachtschwester ist sie ohnehin zu isoliert und im September verlässt sie ihre Stelle und zieht zu Aegerter nach Basel. Dort wird sie Kassierin der KP-Sektion Kleinbasel.
Erste schriftstellerische Versuche hat Elisabeth Gerter schon um 1923/24 unternommen. Unter ihrem Mädchennamen Elsa Hartmann brachte sie Kurzgeschichten bei der sozialdemokratischen Berner Tagwacht und beim kommunistischen Basler Vorwärts unter. In den folgenden Jahren arbeitete sie bruchstückweise an einer ersten Fassung ihres Romans. Als sie Schwester Lisa um 1933 die endgültige Form gab, konnte sie tatsächlich auf reiche Erfahrungen in den verschiedensten Arten des Krankenschwesterndienstes zurückgreifen – sie übte ihren Beruf auch in den ersten Jahren ihrer zweiten Ehe in Basel immer wieder gelegentlich aus: die wirtschaftliche Lage des Künstlerehepaars war alles andere als rosig, und im Journalismus fasste sie erst Ende der Dreißigerjahre richtig Fuß.
Die Ungeschminktheit, mit der Elisabeth Gerter in ihrem ersten Roman den Schwesternberuf schilderte, stempelte diese Erinnerungen zu einem für damals brisanten Enthüllungsbuch, hatte es doch bisher noch niemand gewagt, so schonungslos hinter die weißen Kulissen zu leuchten. Diese Insiderkritik aus Kantonsspitälern, Schwesternheimen und Tuberkuloseheilstätten, die Entlarvung von Spitalhierarchien und Klassenmedizin, die Anprangerung der Arbeitskraftausbeutung, aber auch der seelischen Verkrüppelung eines Berufsstandes mag im Detail überspitzt, dramatisch gerafft und mit erlaubter dichterischer Freiheit gestaltet sein. Dass die Autorin den Kern der Sache traf, ist jedoch nicht zu bezweifeln – Skeptikern steht das wohldokumentierte Sachbuch zum Roman zur Verfügung: Der Krankenschwesternstand in der Schweiz von Pfarrer Paul Pflüger, von 1913–1922 als sozialdemokratischer Stadtrat in Zürich Leiter des Vormundschafts- und Fürsorgewesens. Diese 1929 erschienene sorgfältige Berufsstudie kann zwar bereits etwas fortschrittlichere Zustände anführen, als Schwester Lisa sie erfahren hatte, aber die im Roman aufgedeckten Berufsmissstände der Kriegs- und Nachkriegszeit bestanden auch Ende der Zwanzigerjahre noch. Beim Erscheinen des Romans vereinzelt laut gewordene Vorwürfe, E. Gerter habe übertrieben und bewusst nur die Schattenseiten des Schwesterndaseins heraufbeschworen, können leicht mit Zitaten aus Pflügers Buch widerlegt werden. So liest man bei Pflüger beispielsweise: »Die Arbeitszeit der Schwestern ist nicht gesetzlich geregelt … Zwölf bis fünfzehn Stunden Arbeitszeit kommt oft vor … Die ›Nachtschwestern‹ in Spitälern haben wochenlang von abends sieben oder acht Uhr bis morgens sieben oder acht Uhr die Patienten mehrerer Krankensäle zu besorgen.«
Ebenso aufschlussreich und von wohl unbeabsichtigter Offenherzigkeit ist eine spätere Direktquelle: Schwesternhaus vom Roten Kreuz. Chronik von den Anfängen bis heute (1882–1952). Da heißt es unter anderem: »Während der Dreißigerjahre nahm die Besserstellung der Schwestern ihren langsamen, aber sichern Fortgang: sukzessive erhielten die Pflegerinnen Teuerungszulagen und wurden die Ansätze der Alterspension erhöht … Zum ersten Mal erhielten die Schwestern Ferienbeiträge und wurde die segensreiche Organisation der Freitage eingeführt … Um den Forderungen der Neuzeit zu entsprechen, war der Trachtenzwang aufgehoben und das Tragen von Zivilkleidung außerhalb des Dienstes freigegeben worden.« Wer wollte angesichts dieses »langsamen, aber sichern« Fortschritts Elisabeth Gerter vorwerfen, sie sei ins Leere gestoßen mit ihren entschieden und klar vorgebrachten Postulaten zur Modernisierung und zur wirtschaftlichen Besserstellung eines Berufsstandes, dessen Angehörige allzu lange teils aus weltanschaulich-religiösen, teils aus schlau berechneten Rentabilitätsüberlegungen als vorwiegend »karitative Wesen« tabuisiert wurden?
Es ist im Rückblick interessant, wie Schwester Lisa vom »Leser-Fußvolk« damals aufgenommen wurde! Auf das als »Frauenbuch« klassierte Werk erhielt die Redaktion der Büchergilde doppelt so viel Zuschriften von Männern wie von Frauen; mehrfach wurde die Bezeichnung »Frauenbuch« ausdrücklich abgelehnt, ebenso der Untertitel »Irrweg einer Frau«. »War es wirklich ein Irrweg? Und ich sage Nein, denn es bewahrheitet sich hier wiederum, dass unser Weg dann kein Irrweg ist, wenn wir zurückgeführt werden, einen Ansporn bekommen, der Kraft in sich birgt und jugendlichen Mut, sich das Leben, die Freiheit, das Glück zu erobern.« Diese in etwas unverbindliche Begeisterung mündende Feststellung ist für viele Leserzuschriften typisch. »Freiheit«, »Glück« – dagegen hatte E. Gerter sicher nichts einzuwenden, aber sie lässt Schwester Lisa politischer argumentieren: wenn diese am Schluss des Buches wieder in den Schwesternberuf zurückkehrt, tut sie es ja, weil sich ihr »ein neues Gebiet« zu erschließen scheint. Im Wartezimmer der Stellenvermittlung sind ihr Broschüren mit fortschrittlichen Thesen zur Gestaltung des Schwesternberufs in die Hände geraten, wie sie sie früher nie zu Gesicht bekommen hatte! Aus einigen der sich über drei Seiten hinziehenden Diskussionsbeiträgen geht aber hervor, dass die emanzipatorische wie die sozialkritische Botschaft des Romans doch auch angekommen ist: »Und mögen auch die Rollen im Erwerbsleben der Gatten vollständig vertauscht, die Frau die Gebende, der Mann der Nehmende sein, so muss doch ihr Leben scheitern an der uralten, verstaubten Tradition, dass der Mann der Herr ist«, schreibt eine Berner Leserin, und eine offenbar gewerkschaftlich geschulte Rorschacherin stellt fest: »Dann aber weist es (das Buch, G. H.) auch auf die Ausbeutung verschiedener Erwerbsstände, speziell des Krankenpflegepersonals hin, und man frägt sich: Muss das so sein? Nein, und abermals nein. Aber es gilt, sich allerorten zu organisieren, um, was dem Einzelnen nie möglich sein wird, bessere Arbeits- und Lohnverhältnisse zu erringen.«
In einem sind sich alle Zustimmenden einig, im Lob der »offenen und freien Art der Darstellung ohne Schminke und Heuchelei«. Nicht alle ertrugen diesen damals ungewohnten Mut: »Meine Frau und ich finden übereinstimmend, dass das Buch nicht in die Volksbibliothek hineingehört. Der Beruf der Krankenschwester wird von der Verfasserin aufs Äußerste entwürdigt. Ihre Ansichten über Verantwortung der Geschlechter gegeneinander, über freie Liebe usw. müssen alle recht Denkenden geradezu empören.« Mehrfach werden dem zweiten Teil des Romans gegenüber Vorbehalte angebracht, die schon etwas für sich haben. Ein Zürcher Gildenfreund hält den ersten Teil für »einen wertvollen Beitrag zum großen sozialen Roman, den das Leben selbst bietet« und fährt fort: »Der zweite Teil, mehr von persönlichen Erlebnissen, von innern Kämpfen handelnd, vermag wohl auch zu fesseln, hinterlässt aber in mir ein zwiespältiges Bild.« Deutlicher, doch vielleicht zu einseitig vom klassenkämpferischen Standpunkt aus und ohne viel Verständnis für die Fragen individueller Emanzipation formuliert der Kritiker des kommunistischen Basler Vorwärts seine Bedenken gegen den zweiten Teil des Buches, in dem sich ja tatsächlich auch die bekenntnisfreudigen Kapitelüberschriften häufen: »Die Autorin kämpft da einen verzweifelten Kampf mit ihrer Sexualität… Er übertönt den Kampf mit dem Dasein, er übertönt jede Milieuschilderung, ja, genau so, wie er wahrscheinlich die Autorin einmal gequält hat, so quält er jetzt den Leser. Man kann dabei nicht einmal genau sagen, wo dieses Quälende anfängt. Man spürt nur, wie die gesamte Erzählung aus dem gemeinsamen in ein individuelles Schicksal hinüberwechselt, aber in ein Schicksal, das für uns als Arbeiterklasse weder wichtig noch besonders genug ist, dass wir uns so ausführlich und in jeder Nuance damit beschäftigen müssen.«
Stoff und Problematik ihres Erstlings beschäftigten Elisabeth Gerter auch weiterhin: 1944 kam sie mit einer zweiten Fassung des Romans heraus. Eine Notiz von 1939 erwähnt Pläne für eine »Erweiterung« von Schwester Lisa, doch dann ist vom Erstling nicht mehr die Rede: Der fremde Klang wird von allen Beteiligten als »weiteres neues Werk« der Autorin bezeichnet, obschon bestenfalls die äußere Tarnung halbwegs dichthielt. Die Erzählperspektive hat gewechselt: an Stelle der Icherzählerin Lisa tritt nun objektivierend eine dritte Person, die Tesas Schicksal schildert. Die fanalartig-programmatischen Kapiteltitel sind nüchternen Nummern gewichen, Anfang und Schluss sind neu, geändert auch die Namen von Personen und Örtlichkeiten, der Umfang ist beträchtlich gewachsen. Geblieben aber sind Themen und Problemkreise, und sie werden am selben Stoff, in gleichem Aufbau und in zahlreichen wörtlich identischen Abschnitten vermittelt.
Da es sie schon gibt, diese seltsam verkleidete Zweitfassung, reizt sie natürlich zu Vergleichen. Angesichts der autobiografisch tatsächlich ergiebigeren und auch zeitgeschichtlich interessanten neuen Eingangskapitel war ja ohnehin die Frage zu entscheiden, ob nicht die Zweitfassung neu aufzulegen sei. Der Entscheid zu Gunsten von Schwester Lisa fiel jedoch leicht, vor allem – aber nicht ausschließlich – aus künstlerischen Gründen. Im Aprilheft 1934 der Büchergilde berichtete E. Gerter auch über die Entstehungsgeschichte ihres Erstlings: »Die ersten Kapitel habe ich in den stillen Stunden kranker Tage verfasst. Als einmal der Anfang gemacht war, schrieb ich auch während der Arbeitszeit weiter. Auf der Nachtwache, wenn alles ruhig war, setzte ich mich im Office an den Tisch, und oft hab ich mich so ins Schreiben vertieft, dass ich meine Arbeit darüber ganz vergaß, bis plötzlich an der Wand die Zimmernummern aufleuchteten und mich an die Pflicht erinnerten.
Als ich später wieder arbeitslos wurde, fand ich Zeit, die literarischen Anfänge zu überarbeiten und in Romanform zu bringen. Zuerst hatte ich mächtige Illusionen. Eine neue Ausdrucksform wollte ich finden. Aber immer kleiner und verzagter bin ich vor dieser Aufgabe gestanden. Die schwungvollen, hochtönenden Sätze wollten so gar nicht zu dem einfachen Thema passen und – hätten mich denn alle die Frauen, zu denen ich sprechen wollte, verstanden, wenn ich diese Sprache gebraucht? Nein, ich musste einen andern Weg zu ihnen finden, und ich begann nochmals von vorne. Dem Thema entsprechend hielt ich nun auch die Form einfach und knapp.«
Diese Vorsätze hat sie damals weitgehend durchgehalten. Die Sprache ist stellenweise von eruptiver, expressionistischer Gewalt; der drängende, manchmal verkürzte Hauptsatz herrscht vor – Ausrutscher in die »hochtönende« Prosa des Entwurfs sind selten. Für die Zweitfassung gingen die guten Vorsätze leider vergessen: im »fremden Klang« geht es stellenweise nicht nur »schwungvoll«, sondern deutlich überschwänglich zu; in den nun häufigen Übergängen und in den Reflexionen bei Kapitelanfängen, dort also, wo die Autorin mehr will als erzählen, wirkt ihre Sprache schwerfällig, ja gestelzt; der Roman hat unverkennbar an Tempo, Rasse, Härte und Unmittelbarkeit verloren – typisch dafür die beiden Buchanfänge. Die Erstfassung setzt knapp und drängend ein, mit sieben Sätzen auf rund fünf Zeilen. So aber beginnt Der fremde Klang: »Der Wege waren es drei, von wo das Neue daherschreiten konnte, und am Anfang eines jeden stand sein Symbol. Es konnten aber auch drei Strömungen sein, die in dem Neuen Zusammenflüssen und am Ende ein eigenes Symbol aufstellten.« Während einer Privatpflege wird Schwester Lisa Zeugin eines Dreiecksverhältnisses, was ihre eigenen Sehnsüchte weckt (S. 89). In der Zweitfassung gerät dies zum baren Kitsch: »In dieser gesteigerten Atmosphäre wächst Tesas Unruhe noch mehr. Zwei gebildete Männer sieht sie am gleichen Altar der Anbetung bauen. Und in ihr glüht die Sehnsucht umsonst. Sie muss die Erfüllung suchen …« Es ist ein Jammer, diesen künstlerischen Niedergang verfolgen zu müssen – die Folgen eines Jahrzehnts autodidaktischen schriftstellerischen Schaffens ohne Kontrollinstanz, was sich in den spätem Werken der Autorin immer nachteiliger bemerkbar machte.
Auch der Vergleich in Bezug auf die sozialkritisch-gesellschaftspolitische Stoßkraft fällt zu Ungunsten der Zweitfassung aus. Diese wirkt verbindlicher, gedämpfter, schon wegen der meist unbeholfenen, gelegentlich philosophisch verbrämten Ausführlichkeit vieler Übergänge: kaum je resultiert aus der größeren Ausführlichkeit auch ein stärkeres Aufbäumen. Am deutlichsten offenbart sich die vorsichtige Abschwächung im Vergleich mit der stärksten, für die frühen Dreißigerjahre geradezu sensationell mutigen Passage des Erstlings – da ist die sonst überall in die Breite geratene Zweitfassung von diskreter Dürftigkeit: Sie kommt mit einem Fünftel der zehn Seiten aus, auf denen Schwester Lisa ihr Genfer Abtreibungserlebnis geschildert hat. Die Operation selber wird jetzt mit ein paar blassen Sätzen abgetan, vom Laufbandbetrieb in der Abtreibungsfabrik, vom demütigenden Stationenweg durch die Sprechzimmer ängstlicher oder arroganter Frauenärzte ist nichts mehr zu vernehmen, wenig von den Seelenqualen, nichts von der Rebellion gegen ökonomische Abhängigkeiten. Die bittere Anklage der Arbeitslosen: »Die Krise, die ganze Gesellschaftsordnung ist schuld, dass ich mein Kind nicht behalten kann –,« ist ins Sentimental-Phrasenhafte verbogen: »O Ungeborenes, kleines Wesen, das du noch nicht bist, du bist deiner Mutter eine Last oder vielmehr eine Angst. So groß ist das Unrecht der Welt, dass eine Mutter sich vor dem Kommen ihres Kindes ängstigt … Spielball sind wir in eines Mächtigen Hand, so will es manchmal scheinen …« Ähnlich zurückgenommen auch ein Patientenkommentar zum Generalstreik. Von der zu erkämpfenden sozialistischen Gesellschaft (S. 82) ist nicht mehr die Rede; umständlicher und holpriger heißt es im Fremden Klang: »Schwester, hat nicht ein jeder das Recht zu leben so gut wie der andere? Alles ist so teuer geworden, unerschwinglich teuer, und warum? Wir können es nicht mehr zulassen, dass sich Reiche an Armen noch mehr bereichern. Und dass jenen, die arbeiten, Löhne bezahlt werden, die nicht zum Notwendigsten reichen, und also ihre Kinder darben. Es muss anders werden und darum …« Nein, die Neufassung von Schwester Lisa trug außer den Einblicken in Kindheit und Jugend der Autorin nichts zur Bereicherung von Elisabeth Gerters Werk bei. Wer sie bei ihrem Erscheinen in der Presse lobte, musste in Unkenntnis der Erstfassung handeln. – Aber mit diesem kritischen Ausblick auf ein späteres Werk haben wir vorgegriffen. Zunächst wartete Elisabeth Gerter nochmals mit einer Pionierleistung auf.
Schwester Lisa war 1934 das meistdiskutierte Gildenbuch gewesen, im Maiheft 1936 stand der Titel auf der Liste der vergriffenen Bücher. Elisabeth Gerter schien auf dem Weg zur Erfolgsautorin, sie hatte 1934 auch schon ihren zweiten Roman begonnen: Die Sticker. Nicht ein Einzelschicksal, eine ganze Industrie stand diesmal im Zentrum, die alles beherrschende Industrie ihrer ostschweizerischen Heimat. Die Stickereiindustrie war während vielen Jahren das Paradepferd der schweizerischen Exportwirtschaft; ihre Ausfuhrziffern übertrafen die der nächstwichtigen Uhren-, Seiden- und Maschinenindustrie; und zwischen St. Gallen und Paris verkehrten über Winterthur-Eglisau-Basel vor dem Ersten Weltkrieg direkte Wagen für Stickereifabrikanten und Modeschöpfer! Als ausgesprochene Luxus- und Modeindustrie war die Stickereiindustrie jedoch äußerst krisenempfindlich; ihre Geschichte ist denn auch durch erstaunliche Erfolge wie drückende Rückschläge gekennzeichnet. Ursachen der periodisch auftretenden Krisen waren aber nicht allein die Modelaunen. Mit einer Exportquote von 95% – von einem Inlandmarkt war also kaum die Rede – reagierte die Stickereiindustrie überaus empfindlich auf alle politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen des Welthandels. Wesentliche Gründe für immer wieder ausbrechende Überproduktionskrisen lagen auch im raschen technischen Entwicklungsprozess von der Handstickmaschine über die Schifflistickmaschine bis zu den um die Jahrhundertwende aufkommenden Automaten, sowie in der komplizierten Binnenstruktur dieses Industriezweigs mit seinem beträchtlichen Anteil von hausindustriellen Kleinbetrieben, die von den Bestimmungen des Fabrikgesetzes nicht betroffen waren. Ähnlich kompliziert und mannigfaltig waren auch die – zum Teil paritätischen – Organisationsformen von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite. Kam noch dazu, dass die von Eigeninteresse geleiteten Fabrikanten schweizerischer Stickmaschinen mit der steigenden Ausfuhr ihrer Erzeugnisse in potenzielle Kundenländer der ostschweizerischen Stickereiexporteure wesentlich dazu beitrugen, diesen den Markt zu verderben. Von den empfindlichen Rückschlägen der ersten Zwanzigerjahre hatte sich die Stickereiindustrie nicht mehr richtig erholen können. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 erlebte sie aber einen beinahe vernichtenden Einbruch, der im Verbreitungsgebiet dieser typischen Regionalindustrie, in erster Linie im Kanton St. Gallen und den beiden Appenzell, auf Jahre hinaus wirtschaftlichen Niedergang und bittere Not für weite Bevölkerungskreise zur Folge hatte. Von den stolzen Spitzenwerten der Jahre 1910 bis 1913 mit jährlichen Ausfuhrmengen von rund 90 000 Zentnern sackte der Export auf 7200 und 6300 Zentner in den Jahren 1934 und 1935 ab, von rund 216 Millionen Franken auf 13 bis 15 Millionen!
»Es ist wohl jedem bekannt, dass sich in der Ostschweiz (der Heimat meiner Jugend) schon seit Jahren eine Tragödie abspielt«, beginnt Elisabeth Gerter ihren Aufsatz »Über die Entstehung des Romans ›Die Sticker‹« im kommunistischen Zentralorgan Die Freiheit, das den Roman 1939 im Feuilleton brachte, wie übrigens auch die sozialdemokratische Thurgauer Arbeiterzeitung, das bürgerliche Ostschweizer Tagblatt und Der schweizerische Jungbauer – für Abdruckhonorare von je rund sechzig bis achtzig Franken! »Ich brauche gar nicht zu fragen, was mit den einst so fleißigen, fröhlichen Menschen geschehen sei. Sie stürmen nur so auf mich ein, all die Einzelschicksale, vom Exporteur Pfund und vom Fabrikanten Brägger, der eine falliert und auf und davon, der andere habe sich eine Kugel durch den Kopf geschossen. Der Puncher Baumgartner sei Knecht in Niederwil und sein Anneli müsse das Brot mit Putzen und Waschen verdienen. Den Handstickern Moser, Berger und Gschwind seien die Maschinen demoliert worden. Jetzt beziehen sie die Arbeitslosenunterstützung: Drei Franken im Tag, das macht in der Woche achtzehn Franken aus – und sie schämen sich noch, stempeln zu gehen. Während ich mitten im Hören des Geschehenen war, hieß es auf einmal: Im ganzen Rheintal seien die Brücken besetzt. Die Sticker lassen keinen Stich mehr hinüber. Da ging ich hin und sah mir die Brückenbesetzung an … und erlebte sie mit …« (Der volle Wortlaut des aufschlussreichen Aufsatzes findet sich im Anhang zur Neuausgabe der Sticker 1978). Die Demonstrationen der zumeist arbeitslosen Lohnsticker an den Rheinbrücken richteten sich gegen den schweizerisch-österreichischen Staatsvertrag vom März 1933, der vor allem die Stichpreisfrage, die Arbeitszeit und die Reduktion des Maschinenparks in der Schifflistickerei beider Nachbarstaaten regeln sollte.
Seit jeher waren im Vorarlbergischen die Stichpreisansätze tiefer als im Rheintal. Diese Differenz wurde durch Bestimmungen im Staatsvertrag nur vermindert, nicht aber aufgehoben. Der Anreiz für St. Galler Exporteure, im Vorarlbergischen billiger sticken zu lassen, bestand also weiterhin. Die durch zunehmende Arbeitslosigkeit verbitterten Rheintaler schenkten den Versicherungen, die Arbeitsvergebungen aus der Schweiz nach Vorarlberg hielten sich in mäßigem Rahmen, keinen Glauben – sie wollten sich selber Gewissheit verschaffen. Am Freitag, dem 15. Juni 1934, kam es daher zum zweiten Mal zu Demonstrationen auf allen Rheinbrücken. Sie verliefen wiederum diszipliniert; die Brückenbesetzer beschränkten sich trotz anders lautenden Drohungen darauf, die zum Sticken im Vorarlbergischen bestimmte Ware genau zu registrieren. Die gewerkschaftlich isolierte Situation und die von politisch bedenklichen Ideologien infiltrierten Überlegungen der aus wirtschaftlicher Notlage und Ausweglosigkeit operierenden Rheintaler Lohnsticker spiegelten sich deutlich im Text der von ihnen angeschlagenen Plakate.
Als der schweizerische Bundesrat den Staatsvertrag auf den März 1935 tatsächlich aufkündigte, bedeutete dies aber keinen Sieg des dissidenten Verbandes der Rheintaler Lohnsticker. Diese Kündigung offenbarte nur die trostlose Situation beider Vertragspartner, die der Krise damals weder auf die eine noch die andere Art Herr zu werden wussten. Hans Widmer, eine der zentralen Figuren im Sticker-Roman, denkt konsequenter und radikaler. Mit Kollegen und Freunden zusammen hat er zwar an einem Lösungsversuch mitgearbeitet, wie er den Schweizer Arbeiterdichtern der Dreißigerjahre zukunftsträchtig erschien. In Jakob Bührers Sturm über Stifflis ist es der »Arbeitsplan für das Land«, eine aus utopisch-sozialistischen Grundsätzen entwickelte Zukunftsvision, die den existenzvernichtenden, aus dem schrankenlosen Kapitalismus erwachsenden Wirtschaftskrisen ein für alle Mal ein Ende setzen soll. Die Rheintaler Sticker Elisabeth Gerters wollen dasselbe Ziel mit dem Aufbau einer Selbsthilfe-Genossenschaft für Produktion und Warenvertrieb auf solidarischer Basis erreichen. Das von Arbeitern in Gang gesetzte Experiment, dem sich später auch einzelne Unternehmer anschließen, scheint sich gut anzulassen – aber Widmer ist es nicht geheuer dabei. Er denkt weiter, studiert das internationale Genossenschaftswesen, das schwedische, das russische … »da, Köbi, da hab ich einzusehen gelernt, dass wir hier die Basis für eine Genossenschaft, wie ich sie erträumte, noch gar nicht besitzen. Im heutigen Wirtschaftssystem muss jedes Unternehmen in eine Sackgasse verlaufen … Vor Widmers Augen entschwand der Freund, entschwand die Ausstellung. Dafür entstand vor ihm die Welt wie sie war, und die Welt, wie sie kommen musste.«
Diese letzten Sätze des Buches könnten auf einen streng ideologisch ausgerichteten Politroman schließen lassen. Selbstverständlich sind Die Sticker ein politischer, ein gesellschaftskritischer Roman – der richtige Roman zur rechten Zeit. Es ist unverkennbar, dass E. Gerter sich gründlich in die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge hineingearbeitet hat, dass sie sich in der Partei und durch entsprechende Lektüre in der Kapitalismuskritik geschult hat, aber ihr Roman ist keineswegs zu Agitpropdürre verurteilt: er entwirft am Beispiel eines Rheintaler Stickerdorfs und seiner Bewohner aus allen Schichten ein packendes und farbiges Gemälde von Glanz und Elend unserer einst bedeutendsten Exportindustrie. Es bleibt aber nicht bei der zutreffenden Analyse einer Epoche in ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problematik, der Roman erschließt auch die privat-menschlichen Bezirke, wartet mit eindrücklichen, lebensechten Gestalten beidseits der Klassenschranken auf und dokumentiert den Sinn für innere und äußere Dramatik der Autorin; er ist auch da dichterisches Kunstwerk, wo er die sozialkritische Anklage führt. Die Sticker gehören an die Seite der wenigen großen zeitkritischen Gesellschaftsromane, die die Schweizer Literatur in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat.
Ein kühner Wurf, der in die Zeit passte wie nur je ein Roman – aber als ihn die Autorin 1936, 1937 zur Veröffentlichung anbot, stieß sie auf taube Ohren. »A propos ›Die Sticker‹ – ja, es gab einen Kampf um das Buch. Bis ich einen Verleger gefunden hatte«, schrieb sie 1954 ihrem Schriftstellerkollegen Paul Ilg. Die Büchergilde Gutenberg, die eben erst Schwester Lisa als vergriffen gemeldet hatte, zögerte lange und lehnte dann ab, desgleichen der Rascher Verlag. Diese vergebliche Verlegersuche mutet auf den ersten Blick seltsam an: es klopfte ja keine unbekannte Anfängerin an, E. Gerter konnte doch auf einen für die damaligen Verhältnisse ungewöhnlichen Erfolg hinweisen. Nun war allerdings das schweizerische Verlagswesen damals noch nicht so entwickelt und, von zwei, drei Ausnahmen abgesehen, bedeutend konservativer, um nicht zu sagen ängstlicher. Die wagemutigeren, die politisch engagierten Verleger wie ein Emil Oprecht, waren in den Dreißigerjahren zudem mit zum Teil wichtigen und bedeutenden Manuskripten von Emigranten mehr als nur eingedeckt, und es gab damals in der ganzen Dcutschschweiz nur rund zehn Verlage mit einem einigermaßen ausgebauten und kontinuierlich gepflegten Belletristikprogramm.
Was will man sich da groß wundern, dass Elisabeth Gerter, Gattin eines kommunistischen Parlamentariers, Autorin eines ungebärdigen emanzipatorischen Erstlings, der vielen bisher sorgsam gehüteten Tabus zu Leibe rückte, in den noch deutlich klassenkämpferisch geprägten Dreißigerjahren mit ihrem zweiten, nicht minder brisanten Roman auf Ablehnung stieß? Ging es doch dem gut bürgerlichen, in seiner Gesellschaftskritik viel behutsameren Meinrad Inglin zur gleichen Zeit nicht besser: nachdem er seit 1931 für ein so großartiges und politisch unverfängliches Buch wie Die graue March vergeblich einen Schweizer Verleger gesucht hatte, schloss er 1934 mit Staackmann in Leipzig ab. So kam es dann vier Jahre später zu einer der kläglichsten Blamagen im schweizerischen Literaturgeschehen: Inglins Schweizerspiegel, sein Meisterwerk, einer der wichtigsten Zeitromane unseres Landes, kam im nationalsozialistischen Deutschland heraus! Nicht minder enttäuschend und kein Ehrenzeichen für die schweizerische Verlegerschaft, dass im selben Jahr 1938 Die Sticker zwar nicht im Ausland, aber im Selbstverlag publiziert werden mussten! Der Gerechtigkeit halber muss indes auf einen Umstand hingewiesen werden, der zu interessanten Überlegungen Anlass bietet:
E. Gerter hatte ihr Manuskript auch zwei Verlegern angetragen, deren besonderes Interesse vorausgesetzt werden konnte: Emil Oprecht, dem einzigen bedeutenden sozialistischen Belletristikverleger der Schweiz, und dem in Hinwil, einem Zentrum der Zürcher Textilindustrie, beheimateten Albert Züst-Verlag. Im schon erwähnten Brief an Paul Ilg heißt es dazu: »Albert Züst wollte daran korrigieren. Der Oprecht-Verlag wollte achtzig Seiten kürzen, die ›bösen‹ Fergger und der romantische Schönenberger sollten daraus verschwinden.« Ob es den beiden ernst damit war, den Roman unter Vertrag zu nehmen und ob ein Abschluss nur daran scheiterte, dass die Autorin über Änderungen und Striche nicht mit sich reden ließ, ist nicht mehr auszumachen. Ob E. Gerter nun tatsächlich 1937 keinen Verleger fand oder durch unkooperative Hartnäckigkeit willige Verleger abschreckte – für ihr weiteres Schaffen hatte dies verhängnisvolle Folgen.
K. Aegerter war mit dem damaligen Leiter der Genossenschaftsdruckerei Aarau bekannt. Im Sommer 1938 ließ er dort auf eigene Rechnung vorerst tausend, nachher weitere tausend Exemplare der Sticker drucken; der schweizerische Textil- und Fabrikarbeiterverband hatte sich zum Voraus für die Abnahme von fünfhundert Exemplaren verpflichtet, über Subskriptionslisten vertrieb das Ehepaar Aegerter seinerseits einen Teil der Auflage. Die Druckerei befand sich damals an der Renggerstrasse, die ihren Namen zu Ehren Albrecht Renggers trug, der Innenminister der helvetischen Republik, 1803 Landamann der Schweiz und von 1815–20 aargauischer Regierungsrat gewesen war. Das mit den Stickern ins Leben gerufene Unternehmen wurde »Rengger-Verlag« getauft. Es ist längst eine Binsenwahrheit, dass verlegen nicht nur drucken und vertreiben bedeutet, aber der Rengger-Verlag verfügte selbstverständlich über keine Lektoratsabteilung – Elisabeth Gerier war also Erst- und Letztinstanz bei ihrer schriftstellerischen Arbeit; ihre Werke nahmen den direkten Weg von der Schreib- in die Setzmaschine. Bei den Stickern hatte dieses Direktverfahren noch kaum nachteilige Folgen. Man käme sich recht schulmeisterlich vor, wollte man den Finger auf vereinzelte Sprachschnitzer oder Unebenheiten in der Darstellung historischer Abläufe und Zusammenhänge legen; dahingestellt sei, ob nicht doch der Schnitt einigen Wildwuchses von Vorteil gewesen wäre. Es ist in zweifacher Hinsicht bedauerlich, dass E. Gerter von 1938 an ihre eigene Verlegerin war. Ihrem Bildungsweg entsprechend ist sie ja die typische Autodidaktin. Was sie sich an Fremdsprachen, an Kenntnissen und Einsichten auf dem Gebiet der bildenden Künste, in Literatur und Geschichte aneignete, hatte sie als Kindermädchen in Italien, als Pflegerin in Leysin und im Ausland oder auf Nachtwachen in beharrlichem Selbststudium, später im Umgang mit ihrem zweiten Mann, in dessen Politiker- und Künstlerkreisen, auf Reisen und in Weiterbildungskursen erworben, beispielsweise durch die Teilnahme am philosophischen Seminar Professor Schmalenbachs. Die Problematik des literarisch tätigen Autodidakten lässt sich in vielen Fällen nachweisen, auch am Beispiel der Arbeiterdichter bis hin zu Jakob Bührer. Obwohl dieser immerhin mit einigen Werken bei Oprecht untergekommen war, sah sich Dieter Zeller, der die gegenwärtige Werkausgabe im Z-Verlag betreut, 1977 in einer Nachbemerkung zu Sturm über Stifflis (Erstausgabe 1934 bei Oprecht und Büchergilde Gutenberg) zur bedauernden Feststellung veranlasst: »Die vorliegende Neuausgabe ist ein fotomechanischer Nachdruck der Originalausgabe. Aus diesem Grunde musste leider auf eine Korrektur der dort festgestellten Sprach- und Druckfehler weitgehend verzichtet werden.«
Nun wäre es ja ausgesprochen kleinbürgerlich, die Bedeutung von Bührers und Elisabeth Gerters Schaffen, der Werke der Arbeiterdichter überhaupt, allfälliger Sprachfehler und Stilschnitzer wegen herabmindern oder negieren zu wollen. Ebenso verfehlt wäre es aber zu übersehen, dass Kunst selbst da, wo sie ausdrücklich zum Kampf antritt, immer auch Form bedeuten muss. Es ist daher zweckmäßig und einsichtig, dass sich schreibende Arbeiter heute zu Gruppen, zu »Werkstätten« zusammenfinden, in denen nicht nur kritische Inhalte erdacht, sondern auch in fruchtbarer gegenseitiger Kontrolle und Kritik an Sprach- und Stilformen gearbeitet wird. Für die ausgeprägte Individualistin Elisabeth Gerter war die Personalunion von Autorin und Verlegerin besonders verfänglich, weil für sie Formprobleme ohnehin weit hinter dem Engagement für die Bedrängten, den ringenden und leidenden Menschen rangierten. In der 1965 zum zehnten Todestag vom Gatten herausgegebenen Monografie Elisabeth Gerter, die auch interessante Ausschnitte des zeitlebens regen Briefwechsels der Autorin enthält, stellt der Basler Schriftsteller Rudolf Graber deutlich genug fest: »Es ging ihr nicht um artistische Belange«, und auch sie selber hat sich mehrmals über ihre Auffassung von der Aufgabe des Schriftstellers geäußert, besonders unmissverständlich in einem Brief vom Mai 1946 an Jakob Bührer:
»… Ich weiß, dass nie die Form (über diese könnte man sprechen), sondern der Grundgehalt, das Thema ausschlaggebend ist. Ich kann nicht wie die andern in die gewünschte Ewigkeit, in den Taumel von heute und aus der Realität fliehen. Solange ein Mensch hungert, und ich sehe es täglich, es geschieht nah um mich, solange kann ich aus der Menschenwelt nicht heraus … Der Arme soll wieder wie zu Pestalozzis Zeiten sich auf das Jenseits freuen, damit die andern umso besser im Diesseits ihn ausbeuten können. Oder glauben auch Sie, dass es so etwas nicht mehr gebe? Ich aber komme aus der Menschenwelt nicht heraus. Sie umgibt mich wie die Sandhaufen das Sandkorn. Solange noch ein Mensch leidet, gleich welches Leid es sei, so lange bin ich ihm verpflichtet.« Ähnlich entschieden tönte es, wenn sie sich gegen ihrer Meinung nach unfaire Rezensionen ihrer Werke wehrte – E. Gerter durchbrach damit ungerührt das hier zu Lande heute noch funktionierende fatale Tabu des weitgehend eingleisigen »Dialogs« zwischen Kritiker und Autor. Im April 1939 reagierte sie auf eine ablehnende Besprechung der Sticker: »Da ich eine Arbeit fertig machen wollte, kann ich erst jetzt auf Ihre Zeilen zurückkommen. Diese geben mir gründlichen Aufschluss über Ihre Anschauung – Sie stehen leider nicht allein mit Ihrer Ansicht, dass der Stoff mit dem künstlerischen Wert des Buches gar nichts zu tun hat. Allerdings stehe ich auch nicht allein mit meiner Meinung (es sind das zwei Weltanschauungen), dass der Inhalt sogar die Form bestimmt.« Und besonders wehrhaft ihre Erwiderung auf eine Radiokritik der Sticker im Frühjahr 1939: »Ihre Buchbesprechung habe ich selbstverständlich am Radio abgehört und lehne ab, dass Sie in meinem Namen gesprochen haben. Ich nenne mich sehr wohl Künstlerin, denn unsäglich viel hab ich gerungen, den immensen Stoff, der mir am Herzen lag, in eine lebendige Form zu bringen. Ich glaube sogar, das Prädikat ›Künstlerin‹ eher beanspruchen zu können als jene, die nur abgedroschene Themen von Großvaters Zeit her ›behandeln‹ … Ist es Ihnen nicht möglich, sich zu der Meinung durchzuringen, dass, wenn ein Buch nicht in alteingefahrenen, verfahrenen Wegen geht, es trotzdem künstlerisch sein kann? Sind sie vielleicht der Meinung, dass ein Roman, der nicht eine Einzelfigur als Mittelpunkt hat, sondern wie meiner, einmal ein Dorf und eine Industrie, in dem aber trotzdem die Menschen keine Schemen sind, nichts mit Kunst zu tun hat? Ja, beste Frau, was verstehen Sie denn unter Gestaltung? Glauben Sie nicht auch, dass es viel schwerer für den Schaffenden ist, ein ganzes Dorf mit seinen Sorgen und Freuden und einem sozial-ökonomischen Problem lebendig zu gestalten, als nur eine einzige Person mit dem überlebten Begriff von Liebe und Frau? …«
Die Sticker weckten ein überdurchschnittliches aber auch widersprüchliches Echo. Zogen die einen Hauptmanns Weber oder wegen der detaillierten Sachkundigkeit der Autorin in der Schilderung der technologischen Entwicklung und der Fabrikationsmethoden Émile Zola zum Vergleich heran, so bestritten andere rundweg, es mit einem Kunstwerk zu tun zu haben oder sprachen zumindest von Reportagestil. Man belächelte die Frau, die sich anmaßte, Probleme aus Industrie, Handel und Politik literarisch zu bewältigen, hatten bis dahin ja auch die Männer gerne die Hände davon gelassen. Man warf ihr undifferenzierte Schwarz-Weiß-Malerei vor – ein Glück noch, dass ihr an sich leicht zu durchschauendes Pseudonym dicht genug hielt und die Kritiker nicht auch noch die Kommunistenspur aufnahmen!
Elisabeth Gerter wusste, dass sie mit ihrem Industrieroman in der Schweiz Pionierarbeit geleistet hatte; sie war mit Recht stolz darauf und setzte sich tapfer zur Wehr, etwa dem schon erwähnten Kritiker gegenüber: »Nun noch eine kurze Bemerkung zur Frau an sich. Staatspolitische Kurse werden für sie gegeben. Bücher erscheinen für sie. Radioreden wenden sich speziell an sie. Ist es nun nicht erfreulich, dass man davon Resultate sieht, dass unter anderm gerade auch eine Frau sich an einen wirtschaftlich-sozialen Roman wagt? Das Urteil über diesen braucht selbstverständlich nicht nachsichtiger zu sein.« Noch drastischer und auch ein wenig pathetisch formuliert sie solche Überlegungen in einem Brief an Dr. Arthur Steinmann aus Herisau, dessen Dissertation Die ostschweizerische Stickerei-Industrie. Rückblick und Ausschau (Zürich, 1905) sie neben andern Fachschriften als Quelle für ihren Roman benützt hatte: »In unserm demokratischen Staate sollte es doch immerhin noch erlaubt sein, dass eine Vertreterin der Schaffenden, die vor Gott ein Talent zu verantworten hat, auch zu Worte kommen darf. Es scheint mir, dass die Reihe der landläufigen Romane über Liebe und Reichtum auch einmal unterbrochen werden darf. Jede Episode im Buch kann ich dokumentarisch beweisen … Es lag mir ferne, wie der Bund-Rezensent fälschlicherweise behauptet, dass ich auf der Arbeitnehmerseite nur Engel und auf der Arbeitgeberseite nur Bösewichte sah. Der Fergger Graf, der alte Fabrikant Mettler, Fabrikant Feudt, auch das Familienleben des Exporteurs Ikler zeugen von etwas anderem. Das Ostschweizer Tagblatt, Rorschach, kommt der Wahrheit näher, wenn es schreibt: ›Die Autorin bemüht sich, Licht und Schatten gerecht zu verteilen.‹«
Von den großen bürgerlichen Blättern brachte die Basler National-Zeitung eine vor allem aus politischer Sicht erstaunlich positive Würdigung. Lebhafte Beachtung fand der Roman begreiflicherweise in der Ostschweiz, wobei aber öfters auch eine unverkennbar ambivalente Einstellung zu diesem ungewöhnlichen und unbequemen Buch zum Vorschein kam. Die Autorin erinnerte sich noch viele Jahre später daran, dass ihr Roman gerade in der Ostschweiz auch auf bemerkenswerte Widerstände stieß. So teilte sie im August 1954 Paul Ilg mit: »Nach dem Erscheinen hat das Buch in St. Gallen Aufsehen erregt, alle Buchhandlungen haben es ausgestellt. Aber wie Sie vermuten, ist es dann von den Saturierten blockiert worden. Das St. Galler Tagblatt wagte vorerst nicht, darüber zu schreiben. Die Treuhandgesellschaft (gemeint ist die im November 1922 mit Bundesbeteiligung gegründete Stickerei-Treuhand-Genossenschaft St. Gallen. G. H.) hat sogar versucht, mir einen Prozess anzuhängen.« Zustimmung und Lob gab es in der sozialdemokratischen Presse, in der kommunistischen »Freiheit« und in den Gewerkschaftszeitungen; die auf »heimelig« gestimmten Ausführungen im »Textil- und Fabrikarbeiter« erstaunen dabei ebenso sehr wie die Tatsache, dass damals nirgends die respekterheischende Pionierleistung einer Frau auf dem Gebiet des sozialkritischen Romans in unserm Lande gebührend anerkannt wurde. Vom basel-städtischen Departement des Innern erhielt E. Gerter immerhin eine Anerkennungsgabe für Die Sticker. Dass die akademische Forschung und die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung damals und bis heute Elisabeth Gerter ignorierten, verwundert wenig, geht es doch einem C. J. Loosli, Jakob Bührer, Chariot Strasser oder Hans Mühlestein nicht besser. Enttäuschender die kaum über den Tag hinaus reichende Beachtung von links, wozu E. Marti in Aufbruch. Sozialistische und Arbeiterliteratur der Schweiz feststellt: »In der Tat sind die Frauen auch in der Arbeiterbewegung weitgehend heimatlos und werden nicht voll berücksichtigt – so wie es Bührer festgestellt hat. Eine Elisabeth Gerter hat dies deutlich gespürt, und das wurde ihr auch zu verstehen gegeben. 1939 gibt die Schweizerische Metallarbeiterzeitung auf Veranlassung Peter Bratschis ein Büchlein über ›Schweizerische Arbeiterdichter der Gegenwart‹ heraus, das ›mit denjenigen Dichtern bekannt machen soll, die entweder aus dem Arbeiterstand hervorgingen oder die vornehmlich den Arbeiter oder die Arbeit als Gegenstand ihrer Dichtung gewählt haben‹.« Auf wen traf diese Definition besser zu als auf die Frau, von der im Jahr zuvor Die Sticker erschienen waren – E. Gerter fehlt aber in dieser Anthologie. Ob sie den Herausgebern tatsächlich unbekannt war, ob Frauen nicht infrage kamen, oder ob man sie wegen ihrer KP-Bindungen beim SMUV bewusst ignorierte, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Sie fehlt auch in der Sammlung Stilles Wirken (Büchergilde Gutenberg, 1949), in der Olga Brand Leben und Wirken von vierzehn Schweizer Dichterinnen würdigte. Unter diesen beschaulichen Titel hätte E. Gerter zwar auch schlecht gepasst!
Um 1942/43 schlossen sich Karl Aegerter und Elisabeth Gerter der sozialdemokratischen Partei Basel an; von 1948–67 war Aegerter auf Vorschlag seiner Partei Mitglied des Basler Strafgerichts. Die wirtschaftliche Basis des Künstlerehepaars war aber auch weiterhin recht schmal; größere Aufträge für Karl Aegerter – durch Baugenossenschaften und Coop Basel – und Aufkäufe von Bildern durch kantonale Behörden stellten sich erst in den Fünfzigerjahren ein. Trotzdem sie wahrlich nicht auf Rosen gebettet waren, setzten sich die beiden aber immer wieder und mit zäher Beharrlichkeit für andere ein, nicht zuletzt für zahlreiche Flüchtlinge, was durch mündliche und schriftliche Zeugnisse mehrfach belegt ist. Beide mussten über eine fast unerschöpfliche Arbeitskraft verfügen; sie stellten sich auch jahrelang für ihre Standesorganisationen zur Verfügung, er während neun Jahren als Präsident der GSMBA, Sektion Basel, sie als Mitgründerin und Vorstandsmitglied des Basler Schriftstellervereins. »Sie hätte am liebsten eine Art Gewerkschaft aus unserm Verein gemacht«, bezeugten später Kolleginnen und Kollegen – also auch hier die vorausdenkende, temperamentvolle Wegbereiterin.
1943 delegierte sie der schweizerische Schriftstellerverein in die Jury des großen Romanwettbewerbs der Büchergilde, wo sie neben andern mit Hans Oprecht, Jakob Bührer und Kurt Guggenheim zusammenarbeitete.
Auch im Kampf um die Frauenrechte stand sie beim Vortrupp: als Vorstandsmitglied des Basler Frauenstimmrechtsvereins wie in ihrem schriftstellerischen Werk. Schon beim Besuch der Saffa in Bern 1928 freute sie sich, dass die Frauen ihr Licht nicht mehr unter den Scheffel stellen – aber über die Rolle des Staates ist sie gar nicht erbaut: »Da, wo die Steuern zu zahlen sind, ist Demokratie: die Frauen gehen mit den Männern hinein. Wo gewählt und abgestimmt wird, ist Diktatur: der Frau wird der Eintritt verwehrt«, lässt sie später Tesa im Fremden Klang feststellen.
Ihre Öffentlichkeitsarbeit, der Einsatz für die Flüchtlinge und die immer mehr zum Brotberuf anwachsende Tätigkeit als freie Journalistin – als Kunstkritikerin für die Basler Arbeiterzeitung, Mitarbeiterin verschiedener Zeitungen und Zeitschriften von der Nationalzeitung, dem Schweizerischen Frauenblatt und dem Genossenschafter bis zur Schweizer Jugendwoche und bei den Radiostudios Basel und Zürich – hinderten Elisabeth Gerter nicht, ihr schriftstellerisches Schaffen auch nach der mühsamen Verlagssuche mit dem Sticker-Roman intensiv fortzusetzen. Nach der Zweitfassung von Schwester Lisa entstanden eine Großzahl von Novellen und Erzählungen, Tiergeschichten, Hörspiele und mehrere Romane. Keins dieser heute vergriffenen Werke, soweit sie mir bekannt sind, kommt an Schwester Lisa oder Die Sticker heran. Eine große Vorliebe entwickelte sie für die Rahmennovelle, aber sie bediente sich dieser klassischen Erzählform in allzu naiver Direktheit und ohne großes künstlerisches Raffinement. Eine dieser Novellen, Das silberne Tor, kam 1942 noch bei der Büchergilde unter, elf Jahre später findet sie sich als Schlussteil eines Dreierzyklusses im Band Die große Frage, der wie alle ihre weiteren Werke im Rengger-Verlag erschien und mit Zeichnungen ihres Gatten illustriert war. Ein zweiter Novellenband Die Schicksalstüre kam erst nach ihrem Tod heraus. Er enthält u. a. eine größere Zahl von Geschichten aus dem Stickeralltag, die vom Stofflichen her eine gute Ergänzung zum Sticker-Roman darstellen.
Die Thematik hat sich inzwischen noch geweitet: Neben Erzählungen aus den frühem Erlebniskreisen, aus der Sticker- und der Krankenhauswelt, finden sich nun auch Künstlernovellen und Erzählungen aus der Kriegszeit mit deutlich pazifistischem Einschlag, wie zum Beispiel Die Kompanie der Mütter. Armeleute-Schicksale, das nackte Elend im Londoner Eastend, die Anprangerung kolonialistischer Ausbeutungspraktiken im alten China – auch in den Erzählungsbänden ist der sozial-ethische Grundton unüberhörbar, tritt das Mitleid mit Bedrängten und Benachteiligten, das unermüdliche Einstehen für Verfolgte klar zutage, ebenso unverhüllt auch das gesellschaftskritische Engagement, besonders eindrücklich in den bis nach Fukien reichenden Auslandschweizererfahrungen eines St. Galler Stickmusterentwerfers (Die goldene Lüge). Ein weiteres Hauptthema der letzten Jahre sind die Heimkehrer: Künstler, Kaufleute und ihre Familien, die, vom Kriegsgeschehen vertrieben oder dem Mobilisationsbefehl gehorchend, nach Basel zurückkehrten. Gelungene Einfälle, packende Stoffe, Spannung – daran fehlt es meistens nicht, aber die künstlerische Aufarbeitung lässt immer mehr zu wünschen übrig: Das Können der Autorin hält mit dem hochgemuten Wollen immer weniger Schritt.
Das gilt auch für ihre zwei späten Romane. Der Kreis der äußern und der innern Dinge ist eine Art Schlüsselroman auf die Basler Kunstszene der Kriegsjahre. Die Eingliederungsschwierigkeiten einiger aus den Niederlanden und Paris heimgekehrter Basler Maler und Bildhauer, eine fast krimihaft geschürzte Fabel, autobiografische Einblendungen, Schlaglichter auf Intrigen und andere zweifelhafte Praktiken hinter den Fassaden des Kunstbetriebs – vom Stofflichen her ist der Roman wohlversehen, und mit Anteilnahme begegnet man auch dem kunstverständigen Magistraten Häusler, in dem unschwer der 1918 in den Regierungsrat gewählte und bis zu seinem Tod im Frühjahr 1941 als Erziehungsdirektor amtende Sozialdemokrat Fritz Hauser zu erkennen ist. »Sechs Jahre nach dem Tod des Regierungsrats Dr. Fritz Hauser ist für die Basler Künstler die Lücke noch nicht ausgefüllt. Mein Mann, auch der Sänger Wilhelm Tisch, mit dem er verkehrt, haben ihn sehr verehrt«, schrieb E. Gerter später an Jakob Bührer. Auch dieses Manuskript hätte gründlich überarbeitet werden müssen. Seine zweifellos vorhandenen Qualitäten sind jetzt überschattet und überwuchert von teilweise unverdautem Bildungsballast und von aufdringlicher Schicksalssymbolik, wie das der unbeholfen-feierliche Titel schon andeutet. Auch der aus den Endvierzigern stammende Roman Denn sie wissen vom Licht ist vom Stofflichen her eine gar nicht unergiebige Lektüre und wartet mit ein paar eindrücklichen Gestalten auf. Er schildert die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen der belgischen Kohlenarbeiter um Hornu und Wasmes, der Gegend also, in der van Gogh als Missionar gelebt hatte. E. Gerter kannte die Borinage von einem langem Aufenthalt im Jahre 1947, wo sie während Tagen einen Bergwerksbetrieb über und unter Tag besichtigen konnte und dabei auch in die dramatischen Ereignisse während der deutschen Besetzung eingeweiht wurde, die sie geschickt in den Roman einbrachte. In künstlerischer Hinsicht kommt aber dieser zweite Industrieroman E. Gerters nicht an Die Sticker heran. Es fehlt ihm, wie all den späten Werken, die gründliche sprachlich-stilistische Durcharbeitung; der – nie besonders ausgeprägte – Stilwille und die Selbstkontrolle der Autorin ließen immer beträchtlicher nach; vermutlich zehrten die Last des Brotberufs und die ersten schmerzhaften Anzeichen einer schweren Krankheit schon zu sehr an Elisabeth Gerters Kräften. Sie wollte dies bis zuletzt nicht wahrhaben. Mit ungezügeltem Schaffensdrang hetzte sie sich von Manuskript zu Manuskript, kaum dass sie sich in den letzten Jahren nach einer ersten Krebsoperation im Bündnerland, in Thusis vor allem, etwas mehr Ruhe gönnte. Im Herbst 1954 stellten sich während eines Erholungsaufenthalts in Arosa Lähmungen ein. Eine Gehirntumoroperation durch Professor Krayenbühl von der Zürcher Universitätsklinik verlief erfolglos, das Krebsleiden war schon zu weit fortgeschritten. Knapp zweieinhalb Monate nach ihrem sechzigsten Geburtstag starb Elisabeth Gerter am 28. August 1955 im Diakonissenhaus Riehen nach geduldig ertragenen langen Monaten schmerzhaften Leidens.