Hannelore Cayre wurde im vornehmen Neuilly-sur-Seine geboren, doch der Schein trügt. Ihre Kindheit erlebte sie in der Pariser Banlieue, der Vater war Tunesier, die Mutter Österreicherin. Das Thema der Entwurzelung zieht sich durch ihr Werk, und von sozialer Mobilität, die allerorts so gern zitiert wird, ist darin keine Rede. Gleich zu Beginn des ersten Romans Der Lumpenadvokat erwähnt sie Frédéric Moreau und liefert die grimmige Beschreibung des Justizpalasts, in dem ihr Romanheld Christophe Leibowitz-Bertier, ein abgebrühter Anwalt, sein Dasein fristet. Desillusioniert verteidigt er kleine Delinquenten, die auf die schiefe Bahn geraten sind ... Keine leichte Kost, aber dennoch realistisch. Diese Realität kennt Cayre, selbst Pflichtverteidigerin, nur zu gut, hat sie doch mit Anzug- und Krawattenträgern weitaus weniger zu tun als mit Taschendieben und Ganoven. Wozu von spektakulären Fällen träumen? Die sind der kleinen Elite der Anwaltszunft vorbehalten, in die man hineingeboren wird ... »Es gibt keinen schlechten Fall, höchstens ein schlechtes Honorar«, ist das Fazit dieser Immigrantin der zweiten Generation, die davon träumte, eine Tochter aus gutem Hause zu sein.
Wie schon Flauberts Held kommt sie naiv und hoffnungsfroh nach Paris. Wie auch er meint sie, dass das Glück dort auf der Straße liegt. Sie möchte Medizin studieren, aber da sie in Mathe nicht gut genug ist, schreibt sie sich eben in Recht ein, denn das Recht bringt einen bekanntlich weit. Sie bemerkt die Kluft zwischen ihrer Kindheit in der Banlieue und ihrem neuen Leben in Paris an der ironischen Miene, die die Leute aufsetzen, wenn sie nach der »Buslinie 83, Richtung Rue d’Assas« fragt. Diese feinen Pinkel, wie sie sagt, heißen nicht Leibowitz-Berthier. Sie erzählt von ihrem Vater, der verzweifelt versuchte, Anerkennung zu finden, und von ihrer Mutter, die ein Filmstar werden wollte, es aber nur zu einer Autogrammsammlung brachte. Ihr literarischer Boden ist eine Pariser Schlafstadt, Leere, Neid, Distanz. Auch ihre Romanfigur stammt aus einem Milieu ohne Vergangenheit, ohne Geschichte, ja sogar »ohne echtes Judentum«.
Nach ihrem Jurastudium zieht es sie zum Film, und Anfang der Neunzigerjahre dreht sie zwei Kurzfilme (Albertina a maigri, eingeladen auf Filmfestivals in Avoriaz und Brüssel und ausgezeichnet mit dem Prix Procirep 92, sowie Vivre son patrimoine, gezeigt auf dem Festival Film de Femmes in Créteil). Danach kehrt sie wieder zur Juristerei zurück, ohne jedoch das Kino zu vergessen. Sie spezialisiert sich auf Urheberrecht und wird Finanzdirektorin bei France 3 Cinéma. Doch die kreative Cayre, die schon von klein auf schreibt und leidenschaftlich gern liest, ist unterfordert. »In dieser Zeit gab es für mich die Bücher, sonst nichts«, erinnert sie sich. Sie kündigt ihre Stelle bei France 3 und möchte ihr Leben umkrempeln. Mit 27 Jahren schreibt sie ihren ersten Roman, der jedoch abgelehnt wird. Ein tragischer Autounfall macht ihr einen Strich durch die Rechnung und fesselt sie für zwei Jahre an ein Krankenhausbett. Sie überlebt und bleibt ihrer Kämpfernatur treu. Drei Jahre verbringt sie in Chile und adoptiert ihr erstes Kind. Sie schreibt weiter, es entsteht La guerre des Saintes, ein Drehbuch, das trotz sattem Vorschuss ein Film auf dem Papier bleiben soll, wie es in der Filmsprache heißt. Immer den Kopf oben behalten, ist ihre Devise. Sie nimmt ihr Studium wieder auf und wird 1997 vereidigt. Was nun? »Ich wollte keine ruhige Kugel schieben«, sagt sie, eine Frau, die weiß, was sie will. Sie optiert also, wie ihr Ehemann, fürs Strafrecht. Doch gleichzeitig beginnt sie, wieder zu schreiben, notiert sich, was ihr unterkommt, in Akten, von Amtskollegen, aus den Kulissen des Justizpalasts. Der Umweg über den Film und ihr Sinn für die pointierte Szene verleihen ihrem Schreiben Schärfe und Anschaulichkeit. Sie sucht die Wirklichkeit, frei von Klischees und konventionellem Schwarz-Weiß-Denken. Auf dem Postweg verschickt sie ihr Manuskript. Aus den Éditions Métailié, die in der Regel keine französischen Autoren verlegen, kommt drei Tage später ein Anruf. Ein Erfolg, der auch frischen Wind in die enge Welt des französischen roman noir bringt.
Ihr Debüt Der Lumpenadvokat ist vor allem eine Gesellschaftssatire, eine Kritik des Justizbetriebs, eine Offenlegung der menschlichen Natur, die auf Verzweiflung, Gewalt und manchmal auch auf Hoffnung gründet. Sie versteht sich als Fürsprecherin der »Kleinen« wie sie, der Lumpenadvokaten, die als Pflichtverteidiger bereitstehen – zu Winzigstgehältern, »mit denen man gerade mal den Einkaufswagen füllen kann«. Ihnen sind die höheren Anwaltskasten auf immer verschlossen, weil sie andern nicht nach dem Mund reden. Sie stellt die Schattenseite der Strafrechtler ins Zentrum, die feine Grenze zwischen Legalität und Illegalität, wo die Inhaftierung des Täters erst recht zu neuen Straftaten führt. Sie hat einen Satz von Simone de Beauvoir verinnerlicht, der lautet: »Um die Menschen zu verstehen, muss man die Extreme erforschen.« Ihr Feld ist die Menschlichkeit, die Verzweiflung, samt ihrer selbstzerstörerischen Seite. Beim Verteidigen muss man in die Persönlichkeit eintauchen, mit allen ihren mörderischen Abgründen und krankhaften Gedankengängen. Der Mensch ist weder weiß noch schwarz, genau hier liegt die Ambivalenz der Justiz. Um Recht zu sprechen, muss man verstehen, und wenn man versteht, muss man akzeptieren, dass man sich täuschen und falsch urteilen kann.
Während ihrer Ausbildung hörte sie, man solle sich davor hüten, Mitgefühl für den Klienten zu empfinden. Sie widerspricht heftig: »Was für einen Sinn hat dieser Beruf, wenn man sich nicht ganz und gar hineingibt?« Sie denkt wieder an den Dieb von Darien und an das unbeschreibliche Vergnügen, das eine Grenzüberschreitung mit sich bringt. Leibowitz ist wie eine dieser Zeichentrickfiguren, die ständig eins übergebraten bekommen: Sie stehen immer wieder auf. Ein typischer Antiheld.
Und die Kritik aus den eigenen Reihen? Darauf pfeift sie. Im Übrigen kommen, seit ihre Bücher erschienen sind, die Kollegen zu ihr, um sich zu bedanken und ihr sogar neue Ideen zu liefern. »Sie alle erkennen sich irgendwie darin wieder. Und außerdem: Macht es nicht Spaß, ein Flegel zu sein?«
Aus: Magazine Avocats et Droit, Nummer 16, Mai 2000