La Bernerie (Frankreich), den 25.3.37
Sehr geehrter und lieber Kollege Brockhoff,
vor einiger Zeit haben Sie vom Sinai der Zürcher Illustrierten herab zehn Gebote für den Kriminalroman erlassen, und über die Forderungen, die Sie aufstellen, hätte ich gerne mit Ihnen diskutiert. Einige Behauptungen haben meinen Widerspruch und meine Kritik geweckt – nur hätte ich Ihnen gerne meine Bemerkungen mündlich mitgeteilt. Es scheint mir ungerecht, dass Sie einen Monolog von mir schweigend über sich ergehen lassen müssen, ohne korrigierend, richtigstellend eingreifen zu können, falls mir ein Irrtum unterläuft oder ein Missverstehen Ihrer Gedanken. Da wir aber – genau wie die beiden Königskinder – nicht zusammenkommen können, muss unsere Auseinandersetzung, unsere friedliche und freundliche Auseinandersetzung, in den Spalten der Zürcher Illustrierten vor sich gehen. Sie wird die Form eines kleinen Sängerkrieges annehmen, in welchem das Publikum die Rolle der Elisabeth (so hieß die Dame doch, für die Wagner den Einzug der Sänger komponiert hat?) übernehmen wird. Ohne Musikbegleitung. Und das ist gut so.
Ich habe immer gefunden, das Alte Testament habe mit der Aufstellung der Zehn Gebote – deren Übertretung, nebenbei bemerkt, uns immer noch den Stoff für unsere Romane liefert – einen bedauerlichen Präzedenzfall geschaffen. Alle Leute, die den dunklen Drang verspüren, ihren geplagten Mitmenschen Vorschriften zu machen, fühlen sich seither verpflichtet, ihr Thema in zehn Teile zu gliedern, auch wenn es mit fünf, vier oder drei Geboten erschöpft wäre. So hat man uns geplagt mit den Zehn Geboten für die Hausfrau und den Zehn Geboten für den Junggesellen – auch Staubsaugerbesitzer und Radiohörer wurden für würdig erachtet, mit der Zahl zehn geplagt zu werden.
Zehn Gebote!… Sei’s drum. Und meinetwegen Zehn Gebote für den Kriminalroman. Vielleicht erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ein Roman, als Menschenprodukt, als lebloses Ding, mit Geboten nicht viel anfangen kann. Die Gebote gelten eigentlich für den Verfasser. Aber ich will gern zugeben, dass die Formel »Zehn Gebote für den Kriminalromanschriftsteller« nicht gerade sehr wohllautend geklungen hätte …
Dafür geben Sie mir vielleicht etwas anderes zu: dass nämlich ein Teil Ihrer Forderungen sich von selbst versteht. Der Londoner Detection-Club, der einige Schriftsteller der infrage stehenden Gattung gruppiert – Agatha Christie, Dorothy Sayers, Crofts, Cunningham –, schreibt in seinen Statuten seinen Mitgliedern das vor, was Sie, lieber Kollege, ausspinnen: Wahrscheinlichkeit der Handlung, Verzichten auf Banden samt Chefs, faires Spiel, Vermeiden unnötiger Sensation, anständige Sprache.
Anständige Sprache. In unserem Falle anständiges Deutsch. Dies Postulat habe ich in Ihren Geboten vermisst. Mit Unrecht wahrscheinlich; es schien Ihnen wohl, dieses Postulat, so selbstverständlich, dass Sie es nicht weiter erwähnt haben.
Der Kriminalroman, wie er heute in den angelsächsischen Ländern blüht, gedeiht und wuchert, ist, wie Sie ganz richtig sagen, ein Spiel; ein Spiel, das nach gewissen Regeln gespielt wird. Die Einhaltung dieser Regeln versteht sich gewöhnlich von selbst – nur ist es manchmal schwer, diese Regeln einzuhalten. Da werden Sie mir recht geben.
Durch das Spielerische, das in ihm steckt, ist der Kriminalroman verwandt mit seinem salonfähigeren Bruder, der sich kurzweg ›Roman‹ nennt und darauf Anspruch erhebt, zu den Kunstwerken zu zählen. Und diese Kunstwerke wurden gelesen, bis sie Kunstprodukte wurden, künstliche Produkte, Angelegenheiten gewisser Cliquen, einiger Snobs. Bis in ihnen nur noch Seelenzerfaserung getrieben wurde oder der Autor in Philosophie, Psychologie, Metaphysik machte und die Hauptanforderungen des Romans vergaß, als da sind: Fabulieren, Erzählen, Darstellen von Menschen, ihrem Schicksal, der Atmosphäre, in der sie sich bewegen. Auch Spannung musste der gute Roman enthalten. Es war eine andere Art Spannung als die, welche in Kriminalromanen herrscht, aber eine Spannung musste vorhanden sein.
Und weil der Roman die Spannung als unkünstlerisch verwarf, erlebte der verachtete Bruder, der Kriminalroman, jenen Erfolg, der ihn in den Augen gewisser Leute zum Parvenü stempelte.
Doch all dies wissen Sie ja besser als ich, und nicht, um Ihnen einen Vortrag über die Entwicklung des Romans zu halten, schreibe ich Ihnen. Doch war diese Vorrede nötig.
Denn: Der Kriminalroman hat von allen Eigenschaften, die den Roman ausmachen, einzig die Spannung beibehalten. Eine besondere Art Spannung. Ein wenig fabuliert er auch, jedoch ohne die sicheren Pfade zu verlassen. Und freiwillig verzichtet er auf das Wichtigste: das Darstellen der Menschen und ihres Kampfes mit dem Schicksal.
Menschen und ihr Schicksal! Bewusst verzichtet der Kriminalroman auf diese künstlerische Eigenschaft. Er ist, in seiner heutigen Form, durchaus formal-logisch, abstrakt. Und dies möchte ich Ihnen vor allem auf Ihre »Zehn Gebote« antworten: Ein Roman, nach diesem Rezept geschrieben, ist schicksalslos. Der Mord, der ein-, zwei-, dreifache Mord, am Anfang, in der Mitte und vielleicht auch gegen Ende, geschieht nur, um einer Denkmaschine Stoff zu logischen Deduktionen zu geben. Ich gebe zu, das kann reizvoll sein. Als die Methode neu war – denken Sie an den Mord in der Rue Morgue und an den Vater aller Sherlock Holmes', Hercule Poirots, Philo Vances, Ellery Queens, an den Großvater aller Inspektoren, Kommissäre von Scotland Yard: an den Chevalier Dupin E.A. Poes –, als die Methode neu war, war sie sogar künstlerisch, aber vielleicht doch nur, weil sie ein Dichter handhabte. Jetzt aber ist sie abgegriffen – um nicht zu sagen abgeschmackt.
Ein sogenannter guter Kriminalroman – mag sein aufklärender Held nun zur Behörde gehören oder privat detektiven – ist wohl stets folgendermaßen konstruiert:
Am Anfang schuf der Autor das Personenverzeichnis und setzte es, um die Gehirntätigkeit des Lesers zu schonen, auf die Kehrseite des Titelblatts. Im ersten Kapitel passiert der Mord. Hernach sind die Seiten öde und leer bis zum Auftauchen des Schlaumeiers. Dieser ist ein Mensch, »gewiss ein geschickter und findiger Mensch« (wie Sie schreiben), mit einem Psychologenblick. Diesen Blick benutzt er dazu, um Geheimnisse zu enträtseln. Und jede Person des Verzeichnisses trägt ein solches im Busen – und sorgsam wahrt sie es. Aber das nützt ihr nicht viel. Der Schlaumeier erscheint, wirft der Person seinen Psychologenblick in einen unsichtbaren Einwurf, zieht am Ring und empfängt Geständnis samt notwendigem Indizium. Nur die Hand braucht er auszustrecken. Der gleiche Vorgang wiederholt sich bei den anderen Personen – und wenn der Schlaumeier bei allen seinen Psychologenblick eingeworfen und sein Ticket empfangen hat, geht er hin, wie mit einem simplen Rabattsparmarkenbüchli, und kauft sich den Täter. Die Lösung aber blühet ihm als Blümlein am Wege. Das Blümlein Lösung steckt sich der Schlaumeier aufs Hütelein oder verziert mit ihm sein Knopfloch und wandert weiter, anderen Taten zu. Der Täter jedoch, der »gewiss ein böser Mensch ist (im Allgemeinen)« – wie Sie schreiben –, der Täter büßt seine Untaten unter dem elektrischen Stuhl, auf dem Fallbeil oder über dem Galgen – wenn er es nicht vorzieht, Selbstmord zu begehen. Gut. Alles gut und recht! Aber warum ist der Täter ›gewiss ein böser Mensch‹? Gibt es gewiss böse Menschen im Allgemeinen und ungewiss gute im Besonderen? Gibt es überhaupt gute und böse Menschen? Sind Menschen nicht einfach Menschen – weder Bestien noch Heilige –, durchschnittliche Menschen, keine Heroen, keine Schlaumeier, keine geschickten, findigen, keine gewiss bösen, sondern einfach Menschen, mögen sie nun Glauser, Brockhoff, Hitler, Riedel heißen oder Emma Künzli und Guala? Haben wir Schreiber nicht die Pflicht – auch wenn wir Spannung machen, auch wenn wir idealisieren –, immer und immerfort (ohne zu predigen, versteht sich) darauf hinzuweisen, dass nur ein winziger, ein kaum sichtbarer Unterschied besteht zwischen dem ›gewiss bösen Menschen (im Allgemeinen)‹ und dem ›geschickten, findigen mit den planmäßigen Überlegungen‹?
Sie sehen, Fragen plagen mich wie Bremen im Juli. Aber, wenn Sie Falltüren, Banden, geheimnisvoll undurchsichtige Apparate, die Todesstrahlen entsenden, wenn Sie bereit sind, den »romantischen Zauber« abzuschaffen, und ihn verpönen, dann müssen Sie auch die Einteilung in böse und gute Menschen abschaffen. Denn diese Einteilung ist genauso ein fauler romantischer Zauber wie die armen Falltüren und die Requisiten einer Zeit, die naiver war als die unsrige.
Die Handlung eines Kriminalromans lässt sich in anderthalb Seiten gut und gerne erzählen. Der Rest – die übrigen hundertachtundneunzig Schreibmaschinenseiten – sind Füllsel. Es kommt nun darauf an, was man mit diesem Füllsel anstellt. Die meisten Kriminalromane sind bestenfalls verlängerte Anekdoten – denn in unserer chaotischen Zeit unterscheidet man die literarischen Ordnungen nicht mehr nach dem Inhalt, sondern einzig und allein nach der Länge: drei Seiten: Short Story, Kurzgeschichte. Fünfzehn bis zwanzig Seiten: Novelle. Hundert Seiten: Kurzroman. Ja, das gibt es auch! Lachen Sie bitte nicht. Der Kurzroman ist von Leuten erfunden worden, die nicht Englisch konnten und eine Short Novel, die einfach eine Erzählung war, mit Kurzroman übersetzt haben. Über hundert Seiten beginnt der Roman, der Kriminalroman, dies Zwitterding zwischen einem Kreuzworträtsel und einem Schachproblem …
Warum ist er nicht mehr? Warum strebt er nicht höher?
Die Leute, die in ihm auftreten, sind weiter nichts (gewöhnlich, es gibt Ausnahmen) als Bahnhofsautomaten: rot, blau, grün, gelb angemalt. Bahnhofsautomaten, in deren unsichtbaren Einwurf der Schlaumeier statt eines vulgären Zwanzigrappenstückes seinen Psychologenblick einwirft. Keine Menschen. Sie stehen, diese Automaten (und Sie kennen sie wie ich: die Millionärsgattin oder Millionärstochter, den Haushofmeister, der gewöhnlich Butler heißt, den Arzt – schurkisch oder nicht –, das Zimmermädchen, den Sekretär und wie sie alle heißen), sie stehen im luftleeren Raum. Denn all die Landhäuser, all die Buildings, all die Millionärspaläste, die uns vorgesetzt werden, haben nicht einmal die greifbare Wirklichkeit eines zugigen Bahnsteiges (der Ort, wo die Automaten eigentlich stehen sollten) mit seinem Geruch nach Kohlenrauch, mit seinem Gepäckraum, in dem es nach Leder und Tabak riecht, mit der monotonen Musik seiner Signalapparate …
Spannung ist ein vorzügliches Element; sie erleichtert dem Publikum die Anstrengung des Lesens. Sie lenkt den Geist, den von Sorgen geplagten Geist, von den Widerwärtigkeiten des Lebens ab, sie hilft vergessen. Genau wie irgendein Schnaps, genau wie irgendein Wein. Aber wie es auch echten Kirsch und Façon gibt, gerade so gibt es die echte Spannung und die Fuselspannung – verzeihen Sie das neue Wort. Und Fuselspannung nenne ich jede Spannung, die nur ein Ziel kennt: die Auflösung, das Ende des Buches. Sie gestattet nicht, diese Ersatzspannung, jede Seite des Buches als Gegenwart zu betrachten, in welcher der Leser minuten- oder sekundenlang lebt. Dass diese kurzen Zeitabschnitte, diese Minuten und Sekunden sich ihm zu Stunden, zu Tagen, zu Monaten weiten können, genau wie im Traum – das Wecken dieses Gefühls würde mir erst die Echtheit der Spannung beweisen. Solange die Spannung die Gegenwart verneint, muss die Zukunft die Rechnung bezahlen. Beim Lesen eines Buches geht es noch harmlos zu. Einzig ein öder Geschmack im Munde, ein leeres Gefühl im Kopfe zeigt an, dass die Spannung verfälscht war. Sie hat auf eine Lösung hingearbeitet, sie hat es versäumt, die guten Traumbilder zu wecken, nichts klingt nach, weil nichts in uns zum Klingen gebracht worden ist. Diese Hast nach der Zukunft auf Kosten der Gegenwart – ist sie nicht der Fluch unserer Zeit? Wir haben überhaupt vergessen, dass es eine Gegenwart gibt, die gelebt werden will. Wir haben vergessen, dass es sich lohnt, diese Gegenwart zu leben und sie nicht zu verschlingen wie ein Fresser, der Suppe, Fleisch, Gemüse hinunterschlingt, weil er nur an den Kuchen denkt, der am Ende der Mahlzeit winkt. Oder wie ein Rennfahrer benimmt sich der heutige Mensch, der durch die schönste Gegend keucht, nur um irgendeinen farbigen Pullover zu erringen, in dem er nicht schöner aussehen wird – im Gegenteil, er wird seine Ähnlichkeit mit einem kranken Äfflein nur deutlicher machen.
Besinnung und Besinnlichkeit im Lesen zu wecken, auch mit unseren bescheidensten Kräften und Mitteln, sollte für uns eine Pflicht sein. Glauben Sie mir, es lohnt sich, diejenigen zu enttäuschen, die nach den ersten zehn Seiten des Buches gleich am Ende nachblättern, um nur so schnell als möglich zu erfahren, wer der Täter ist …
Wie einverstanden bin ich mit Ihnen, wenn Sie schreiben, der Täter müsse eine genügend große Rolle spielen, damit man für ihn und seine Taten Interesse aufbringe. Wie aber, wenn es uns gelingen könnte, die Spannung des Buches so zu gestalten, dass es dem Leser fast gleichgültig ist, wer der Täter ist? Wenn es uns gelingt, den Leser mit viel Hinterlist in unser Traumgespinst zu locken, wenn er mit uns träumt in kleinen Zimmern, die er nie gesehen hat, wenn er mit Menschen spricht, die ihm plötzlich wirklicher scheinen als seine nächsten Bekannten, wenn er Dinge des täglichen Lebens, die er nicht mehr beachtet, weil sie ihm allzu geläufig geworden sind, plötzlich in neuer Beleuchtung sieht, im Lichte unseres Scheinwerfers, den wir für ihn erfunden haben? Wie aber, wenn es uns gelänge, jedes Kapitel unserer Geschichte mit einer anderen Spannung zu laden, nicht der primitiven, die ihn vorwärtshetzt, einer anderen, habe ich gesagt! Wenn es uns gelingt, Sympathien und Antipathien in ihm zu wecken für unsere Geschöpfe, für die Häuser, in denen sie wohnen, für die Spiele, die sie spielen, für das Schicksal, das über ihnen schwebt und sie bedroht oder ihnen lächelt?
Das alles tat früher der ›Roman‹ schlechthin, das Kunstwerk. Wäre es nicht eine lohnende Aufgabe für uns, ihm wieder Leser zuzuführen durch seinen verachteten Bruder, den Kriminalroman? Vielleicht gelingt es uns, dem Kriminalroman die Verachtung zu nehmen, die Leute von Geschmack, Leute von Unterscheidungsvermögen ihm entgegenbringen? Und wenn wir es ganz geschickt anstellen, wenn wir es verstehen, auch die andere, die ›Kriminalspannung‹ nicht ablaufen zu lassen, so wird es uns vielleicht gelingen, jene zu erreichen, die nur John Kling oder Nick Carter lesen ¼ Wir brauchen und sollten uns nicht schämen, Kriminalliteratur zu produzieren. Haben nicht auch Größere, als wir es sind, Verbrechen und ihre Aufklärung geschildert? Hat Schiller nicht den Pitaval übersetzt und Conrad nicht den Geheimagenten geschrieben? Und Stevenson seinen Selbstmörderklub?
Aber so wenig ein gutes Kochbuch allein genügt, um ein Risotto kunstgerecht zuzubereiten, so wenig genügen »Zehn Gebote«, um einen guten Kriminalroman zu schreiben. Sie werden verzeihen, wenn ich mir erlaubt habe, Ihre Forderungen mit einigen anderen zu ergänzen. Neu sind meine Forderungen nicht – und wahrscheinlich hätte ich sie nie formulieren können, wenn ich sie nicht angewandt gesehen hätte. Und bevor ich von einem dieser Verwirklicher kurz spreche, müssen Sie mir erlauben, meine Forderungen zusammenzufassen:
Vermenschlichen! Die Bahnhofsautomaten zu Menschen machen. Und vor allem die Denkmaschine, den Schlaumeier mit der Blümchenlösung im Knopfloch nicht mehr idealisieren. Ich weiß mich einig mit Ihnen in dieser Forderung. Schreiben Sie nicht auch, er müsse ein Mensch sein? Ich möchte weitergehen. Er braucht gar nicht findig und geschickt zu sein. Es genügt, wenn er über Einfühlungsvermögen und einen gesunden Menschenverstand verfügt. Vor allem aber: Er muss uns nahegebracht werden und nicht mehr in jenen fernen Höhen schweben, in denen man nach einem Regen trocken bleibt und in der alle Rasierklingen tadellos schneiden. Er muss herunter von seinem Sockel, der Schlaumeier! Er muss reagieren, wie Sie und ich. Versehen wir ihn mit diesen Reaktionen, geben wir ihm Familie, eine Frau, Kinder – warum soll er immer Junggeselle sein? Und wenn er doch unbeweibt durchs Leben pilgern soll, einzig darauf bedacht, kriminelle Rätsel zu lösen, so soll er wenigstens eine Freundin haben, die ihm das Leben sauer macht ¼ Warum ist er immer tadellos gekleidet? Warum hat er immer genügend Geld? Warum kratzt er sich nicht, wenn’s ihn beißt, und warum schaut er nicht ein wenig dumm drein – wie ich –, wenn er etwas nicht versteht? Warum entschließt er sich nicht, Kontakt mit seinen Mitmenschen zu suchen, die Atmosphäre zu erleben, in der die Leute leben, die ihn beschäftigen? Warum nimmt er nicht teil an deren Schicksal? Warum isst er nicht mit ihnen zu Mittag und flucht innerlich über die angebrannte Suppe – wie viel Spannung kann in einer angebrannten Suppe verborgen sein! – oder hört sich mit ihnen einen Vortrag über die Ehe von einem berühmten Professor am Radio an? Bei solchen Darbietungen gehen die Menschen aus sich heraus – sie gähnen. Wie aufschlussreich kann solch ein Gähnen sein ¼
Und wenn des Schlaumeiers Stehkragen verschwitzt ist – welche Offenbarung! Ganz zu schweigen von einem zerrissenen Sock! …
Nein, ich treibe nicht Schindluder, ich sabotiere unsere Diskussion nicht. Ich habe vom Schicksal gesprochen, von seiner Unvernunft. Dürfen wir verschweigen, dass es Formen annimmt, die tragisch und lächerlich zugleich sind? Dürfen wir vom Schicksal nur dann sprechen, wenn es glattgebügelt aussieht wie eine Hose, die gerade aus der Werkstatt des Schneiders kommt, oder wenn es schwarz ist wie ein frisch gefärbtes Trauerkleid?
Bei einem Autor habe ich all das vereinigt gefunden, was ich bei der gesamten Kriminalliteratur vermisst habe. Der Autor heißt Simenon, und er hat einen Typus geschaffen, der, obwohl er einige Vorläufer hatte, nie mit einer solchen Leidenschaftlichkeit gesehen worden ist: den Kommissär Maigret. Ein durchschnittlicher Sicherheitsbeamter, vernünftig, ein wenig verträumt. Nicht der Kriminalfall an sich, nicht die Entlarvung des Täters und die Lösung ist Hauptthema, sondern die Menschen und besonders die Atmosphäre, in der sie sich bewegen. Besonders die Atmosphäre: ein kleiner Hafen und sein ›elegantes‹ Café – im Gelben Hund; die Schleuse eines Binnenkanals – im Fuhrmann von der Providence; ein Provinzstädtlein im Süden – im Verrückten von Bergerac; ein Pariser Mietshaus – im Chinesischen Schattenspiel. Doch wozu die Liste verlängern? Merkwürdig an diesen Romanen – die eigentlich längere Novellen sind – ist Folgendes: Man bleibt gleichgültig, im Grunde, gegen die Lösung, obwohl die Fabel meist nach bewährtem Rezept hergestellt ist. Aber es weht zwischen den schwarzen Druckzeilen jene Traumluft, es scheint jenes Licht, das auch die bescheidensten, kleinsten Dinge zum Leben erweckt – zu einem bisweilen gespenstischen Leben. Der Täter? – Er ist ein Mensch unter anderen, wie es im alltäglichen Leben auch der Fall ist. Und dass er entlarvt wird, ist gar nicht so wichtig, es gibt kein Aufatmen am Ende, keinen Theatercoup, die Geschichte hat eigentlich kein Ende, sie hört auf – es ist ein Abschnitt des Lebens, aber das Leben läuft weiter, unlogisch, packend, traurig und grotesk zugleich.
Ich möchte Georges Simenon danken. Was ich kann, habe ich von ihm gelernt. Er war mein Lehrer – sind wir nicht alle jemandes Schüler? …
Ich schweife ab. Wahrscheinlich wissen Sie all diese Dinge, die ich vorgebracht habe, viel besser als ich. Leider habe ich noch nie die Gelegenheit gehabt und das Vergnügen, einen Ihrer Romane zu lesen. Aber ich bin ganz sicher, dass alle Vorwürfe, die ich hier gegen die Gattung ›Kriminalroman‹, seine ›Helden‹, seine ›Schlaumeier‹ erhebe, Sie nicht treffen. Ich bin überzeugt, dass Sie mit Ihrem Roman 3 Kioske am See großen Erfolg errungen haben. Wenn mein Brief bisweilen den Eindruck einer Belehrung erweckt haben sollte, so bitte ich Sie zu glauben, dass mir dies fernlag. Es handelte sich für mich mehr darum, einige Gedanken klar formulieren zu können. Und wie soll man dies tun, wenn man nicht versucht, diese Gedanken in Worte zu kleiden?
In guter Freundschaft verbleibe ich, Ihr ergebener
Glauser