Claudia Piñeiro, Ihr erster Erzählband ist eben erschienen. Was für eine Beziehung haben Sie zu diesem Genre?
Mein Kopf scheint eher dafür gemacht, Romane zu planen. Der Roman ist sozusagen mein Zuhause. Wenn ich eine Erzählung schreibe, muss ich mich permanent zwingen, mich kurz zu halten, der Roman hingegen erlaubt mir Exkurse und ausschweifende Gedankengänge. Aber ich lese sehr gerne Kurzgeschichten, gerade in Argentinien haben wir in diesem Genre eine lang zurückreichende Tradition und rege Gegenwartsstimmen. In den vergangenen Jahren habe ich etliche Erzählungen verfasst, sie jedoch nie gebündelt in einem Band veröffentlicht.
Sie versetzen die Figuren in Situationen, aus denen es kein Zurück mehr gibt und verleiten sie zu radikalen Entscheidungen.
Ich möchte, dass sich die Lesenden in die Figuren beziehungsweise in die Situationen hineinversetzen. Wie würden wir reagieren, wenn uns wiederführe, was meinen Figuren widerfährt? Sind wir wirklich sicher, dass wir nicht genauso drastisch handeln würden? Ich wollte die Figuren vor einen Abgrund stellen, der sich auftut, wenn die Welt nicht so reagiert, wie sie sollte. Denn erst vor diesem Abgrund, erst in einer solchen Extremsituation, erkennt man, wer die Figuren wirklich sind. Die eigentliche Handlung ist letztlich immer nur eine Ausrede, eine Art notwendiger Umweg, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.
Im Zentrum Ihrer Erzählungen stehen aber ganz normale Menschen. Menschen, mit denen man redet, sich streitet oder die man ignoriert – Menschen, mit denen man sich identifizieren kann?
Das Wort »normal« ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Ich versuche, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten: Wenn es normale Menschen gibt, muss es ja auch seltsame geben. Aber wer entscheidet, wer normal ist? Ich glaube, bei genauerem Hinsehen sind wir alle seltsam. Weil wir ja alle unterschiedlich sind, weil jeder Mensch eben anders ist als alle anderen auf der Welt. Das Wort »normal« ist also ein kompliziertes Wort. Ich mag die Idee, nicht vom Seltsamen, also vom Extremfall, auszugehen. Ich fände es sehr schwierig, über einen Serienmörder zu schreiben. Von einer Figur zu erzählen, die an ihrem Schreibtisch sitzt, innehält, plötzlich den Computer packt und ihn nach einem Arbeitskollegen wirft, ist viel einfacher. Diese Figur hält es einfach nicht mehr aus, sie kann nicht mehr so weitermachen. Das ist eine Wut, die einem selbst vertraut ist. Es geht mir um den Moment, in dem einem der Kragen platzt, in dem eine Grenze überschritten wird. Solche Momente kennt jeder von uns. Mit einer solchen Figur kann man sich besser identifizieren. In meinen Geschichten geht es um Dinge, die uns alle beschäftigen: Beziehungen, Kinder, Gewalt, das Leben, der Tod. Das Schlüsselwort lautet Empathie. Es geht darum, sich in die Lage des anderen zu versetzen.
Wollen Sie mit Ihren Erzählungen auch einen kritischen Blick auf die Mittelschicht werfen?
Die Mittelschicht ist sehr geheimniskrämerisch, anders als die Ober- oder Unterschicht. Die Mittelschicht möchte ständig beweisen, wie gut sie ist. Sie will ihre Mängel verbergen, richtet den Blick immer darauf, was die anderen sagen könnten und fürchtet sich vor deren Urteil. Es sind diese Geheimnisse, die mich interessieren und die ich in all meinen Geschichten thematisiere.
Wann haben Sie sich entschieden, die über Jahre hinweg entstandenen Erzählungen, in einem Erzählband zu veröffentlichen? Zu welchem Zeitpunkt stand für Sie fest, dass es sich um den Korpus einer Erzählsammlung handelt?
Zumeist ermutigen die Verleger dazu, vorhandene Erzählungen zusammenzustellen. Die Geschichten sollten einen gemeinsamen roten Faden haben. Anfangs wusste ich noch nicht, was dieser rote Faden sein würde, aber als ich anfing, meine Lieblingsgeschichten auszuwählen, merkte ich, dass die Figuren sich alle ähnlich waren.
Wann wird aus einem Text eine Erzählung und wann ein Roman? Könnten sich bestimmte Erzählungen dieses Bandes auch zu einem Roman entwickeln?
Ich denke oft darüber nach, ob der Erzählband auch als Roman gelesen werden könnte, aber ich glaube nicht. Alle Texte waren von Anfang an als Kurzgeschichten angelegt. Der Roman erlaubt Raum für Exkurse und bietet den Rahmen, die Figuren detailliert zu beschreiben, was bei einer Erzählung für die Handlung meist gar nicht relevant ist. Andere Dinge sind wichtiger. Konzentriere ich mich auf die Form der Erzählung, möchte ich diese Mikrowelt schildern. Es ist mir gar nicht mehr möglich, anschließend einen Roman daraus zu machen. Daher habe ich auch noch nie einen Roman in eine Erzählung verwandelt oder umgekehrt. Ich glaube, Antonio Skármeta sagte einmal so was wie: »Beschreibst du den Meeresgrund, so schreibst du einen Roman, erzählst du aber nur von einem vorbeischwimmenden Fisch, ist es eine Erzählung.«
Die Interviews erschienen erstmals in den Zeitschriften Clarín, Infobae, La Izquierda Diario und La Vaca und wurden aus dem Spanischen übertragen und neu zusammengestellt.