Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zunächst möchte ich der Schwedischen Akademie und ihrem Nobelpreis-Komitee für die ehrenvolle Berücksichtigung meiner langjährigen beharrlichen Mühen danken. Alsdann wünsche ich mir, dass Sie, meine Damen und Herren, meine Rede mit Nachsicht anhören, wird sie Ihnen doch in einer Sprache vorgetragen, die viele von Ihnen nicht verstehen. Diese Sprache ist aber der eigentliche Preisträger, und deshalb muss es wohl so sein, dass ihr Klang nun zum ersten Mal auch in Ihre Oase der Zivilisation dringt. Und ich bin großer Hoffnung, dass dies nicht das letzte Mal gewesen ist und dass Literaten arabischer Herkunft ihren verdienten Platz einnehmen werden unter den internationalen Autoren, die in unsere von Kummer erfüllte Welt einen Hauch von Freude und Weisheit getragen haben.
Meine Damen und Herren!
Der Kairoer Korrespondent einer ausländischen Zeitung berichtete mir, dass in dem Augenblick, als bei der Preisverleihung mein Name genannt wurde, Schweigen herrschte. Viele hätten sich in jenem Moment gefragt, wer ich eigentlich sei. – Erlauben Sie deshalb, dass ich mich Ihnen vorstelle, und das mit jenem Grad an Objektivität, der der menschlichen Natur möglich ist.
Ich bin ein Sohn zweier Zivilisationen, die sich in einer bestimmten Epoche der Geschichte zu einem fruchtbaren Bund vereint haben. Die eine ist die etwa 7000 Jahre alte Pharaonenzeit und die andere die islamische Zivilisation. Sicherlich brauche ich Sie, die Sie der geistigen Elite angehören, weder mit der einen noch mit der anderen bekannt zu machen. Da wir aber nun einmal an diesem Ort der Zwiesprache und des gegenseitigen Kennenlernens zusammengetroffen sind, kann es vielleicht ganz nützlich sein, sie sich noch einmal zu vergegenwärtigen.
Ich werde jedoch nicht von den Feldzügen der pharaonischen Imperien sprechen, denn das Reden über Kriege ist zu einem Symbol überlebten Stolzes geworden, und das moderne Gewissen wird unruhig bei solchen Erinnerungen. Danken wir Gott, dass dem so ist! Ich will auch nicht darüber erzählen, wie diese Zivilisation sich erstmals der Gottheit zuwandte und das menschliche Gewissen entdeckte. Das ist ein weites Feld, zudem gibt es ja keinen unter Ihnen, dem die Lebensgeschichte des Königs und Propheten Echnaton unbekannt wäre. Ebensowenig werde ich auf die Leistungen in Kunst und Literatur eingehen und auf ihre berühmtesten Wunder: die Pyramiden, die Sphinx oder die Tempelanlagen von Karnak. Denn sogar der, der noch keine Gelegenheit hatte, selbst vor ihnen zu stehen, hat doch wenigstens über sie gelesen oder davon Bilder gesehen. Nein, da ich von meiner Natur her nun einmal ein Erzähler bin, will ich Ihnen die Zivilisation der Pharaonenzeit anhand einer Geschichte vorstellen. Hören Sie also eine historische Begebenheit.
Die Blätter eines Papyrus berichten, wie einem der Pharaonen hinterbracht wurde, zwischen einigen Frauen seines Harems und einigen Männern seiner Dienerschaft sei es zu Beziehungen der Sünde gekommen. Man erwartete nun von ihm, dass er alle Beschuldigten töten lasse, wie es den Gebräuchen und Sitten der damaligen Zeit entsprach. Stattdessen aber schickte er nach den höchsten Rechtsgelehrten und trug ihnen auf, zu untersuchen, was ihm zu Ohren gekommen war. Und er sagte zu ihnen, er wolle die Wahrheit erfahren, damit er ein gerechtes Urteil fällen könne …
Mir scheint, dass solches Handeln großartiger ist als die Gründung eines Reiches oder der Bau der Pyramiden. Es ist ein Symbol dafür, dass diese Zivilisation über alle äußerliche Pracht erhaben war. Das Reich ging unter, und nichts blieb als eine Überlieferung aus vergangenen Tagen. Auch die Pyramiden werden eines Tages zerfallen. Aber die Wahrheit und die Gerechtigkeit werden fortdauern, solange die Menschheit Vernunft aufbringt und ihr Gewissen eine Stimme hat.
Und wenn ich von der islamischen Zivilisation spreche, dann nicht von ihrer Mission, die Menschheit in Gottes Reich zu vereinen, das auf Freiheit, Gleichheit und Toleranz gründet. Auch nicht von der Erhabenheit des Propheten, den einer Ihrer Denker die bedeutendste Persönlichkeit der Menschheitsgeschichte nannte. Ich will nicht von seinen Eroberungen sprechen, in deren Gefolge man Tausende von Minaretten errichtete, von denen der Ruf zum Gebet, zum Glauben und zur Nächstenliebe über den Erdkreis zwischen den höchsten Erhebungen Indiens, Chinas und den Grenzen Frankreichs ertönt. Und ebenfalls nicht von der Verbrüderung aller Religionen und Rassen, die sich in ihrem Schoß vollzog, mit einer Toleranz, die die Menschheit weder davor noch danach gekannt hat. Nein, stattdessen möchte ich Ihnen von einer prägenden Begebenheit berichten, die das Wesen der islamischen Zivilisation anschaulich zum Ausdruck bringt.
Nach einer Schlacht mit dem Byzantinischen Reich, aus der die islamische Zivilisation siegreich hervorging, tauschten die Sieger ihre Gefangenen gegen Bücher aus den philosophischen, medizinischen und mathematischen Wissenschaften des alten griechischen Erbes. Diese Tat ist ein erhabenes Zeugnis für das Streben des menschlichen Geistes nach Wissen, denn sie, die gottesgläubig waren, wussten sehr wohl, dass die Schriften, denen ihr Wunsch galt, Früchte einer heidnischen Zivilisation waren.
Es war mir bestimmt, meine Damen und Herren, dass ich im Schoß dieser beiden Zivilisationen geboren wurde, dass ich von beiden Seiten die Muttermilch einsog und mich an den Schätzen ihrer Literaturen und Künste nährte. Aber auch vom Zaubertrank Ihrer reichen Kultur habe ich getrunken. Und all diese Inspirationen haben – zusammen mit meinem eigenen Bestreben – mich diese Worte finden lassen, die das Glück hatten, die Gunst der Schwedischen Akademie zu gewinnen und mit dem Nobelpreis gekrönt zu werden. Dafür möchte ich mich in meinem eigenen wie im Namen der hervorragenden dahingegangenen Geister, ohne die diese Zivilisationen nie entstanden wären, nochmals bedanken.
Meine Damen und Herren!
Vielleicht fragen Sie sich: Wie kann ein Mensch aus der Dritten Welt die Muße finden, Geschichten zu schreiben … Eine berechtigte Frage.
Ich komme aus einer Welt, die unter einem Schuldenberg begraben liegt, den sie nur um den Preis von Not oder gar Hungerkatastrophen abtragen kann … In Asien kommen Menschen in Flutkatastrophen um … In Afrika gehen andere am Hunger zugrunde … Und in einer Zeit, die nach Menschenrechten ruft, werden Millionen Bürger Südafrikas aller Rechte beraubt, als ob sie keine Menschen wären.
Auf der Westbank und im Gazastreifen sind die Menschen heimatlos, obwohl sie auf ihrem eigenen Land leben, das bereits das Land ihrer Väter, Großväter und Urgroßväter war … Jetzt haben sie sich erhoben, um das einzuklagen, was der Mensch, seit er Mensch ist, für sich beanspruchen durfte: das Recht auf eine bewohnbare Heimat. Dieser tapfere und heldenmütige Aufstand wird vergolten, indem man Männern, Frauen und Kindern die Knochen bricht, sie niederschießt, ihre Häuser zerstört und sie in Gefängnissen und Konzentrationslagern foltert. Was dort passiert, ruft bei hundertfünfzig Millionen Arabern Schmerz und Verbitterung hervor und wird, wenn sich nicht weitsichtige Menschen guten Willens finden, die dem Einhalt gebieten und für einen akzeptablen Frieden eintreten, die ganze Region in ein Inferno stürzen.
Warum also findet ein Mensch, der aus der Dritten Welt kommt, die Muße, Geschichten zu schreiben?
Zum Glück macht uns die Kunst hochherzig und gütig. Und so wie sie unter glücklichen Menschen zu Hause ist, so ist sie es auch unter den Unglücklichen und bietet beiden gleichermaßen ein willkommenes Mittel, ihr Innerstes auszudrücken. Deshalb wäre es in diesen Schicksalstagen der Entwicklung unserer Zivilisation unverständlich und unannehmbar, das Stöhnen der Menschen ungehört verhallen zu lassen. Ohne Zweifel aber ist die Menschheit ihren Kinderschuhen entwachsen, und unsere Zeit ist erfüllt von der Hoffnung auf Entspannung zwischen den Supermächten. Die Vernunft kämpft gegen alle Kräfte an, die uns in die Katastrophe treiben. Und so wie sich die Naturwissenschaftler bemühen, die Umwelt von den Verschmutzungen der Industrie zu reinigen, so müssen auch die Intellektuellen daran gehen, die Menschheit von allen Zerstörungen des Geistes zu befreien. Wir haben das Recht und die Pflicht, die Politiker und Wirtschaftsmanager der Industrienationen aufzufordern, sich endlich den wahren Aufgaben unseres Jahrhunderts zu stellen. In der Vergangenheit war jeder Herrscher nur darauf bedacht, der eigenen Nation den größtmöglichen Vorteil zu sichern. Die übrigen Nationen sah er ausschließlich als Gegner oder Objekte der Ausbeutung. Seine obersten Ziele waren Überlegenheit und Mehrung des persönlichen Ruhms. Dafür wurden so viele Ideale und Werte missbraucht, so viele Mittel geheiligt. Unzählige Menschen wurden ermordet, Lüge, Arglist, Erniedrigung und Brutalität als Zeichen von Kraft und Klugheit ausgegeben. Heute muss diese Art von Politik mit ihren Wurzeln ausgerottet werden. Die wirkliche Größe der Regierenden darf heute einzig an ihrem Weitblick und ihrem Verantwortungsgefühl für die gesamte Menschheit gemessen werden. Denn die Industriestaaten und die Staaten der Dritten Welt sind eine Familie, und ein jeder von uns ist entsprechend seiner Entwicklung, seiner Bildung und seiner Erfahrung für deren Gedeihen mitverantwortlich. Deshalb überschreite ich nicht meine Kompetenzen, wenn ich den Politikern im Namen der Dritten Welt sage: Schauen Sie nicht von oben auf unsere Katastrophen herab, nutzen Sie Ihre Position für deren Überwindung. In Ihren Positionen sind Sie für jede Fehlentwicklung verantwortlich, nicht nur für den Menschen, auch für die Tiere und die Vegetation bis in die hintersten Ecken und Enden unserer Erde. Wir haben genug von Ihren Reden. Wir wollen, dass Sie endlich anfangen zu handeln und den Dieben und Wucherern das Handwerk legen. Sie, die Sie das Schicksal unseres Planeten bestimmen, retten Sie die versklavten Bürger Südafrikas; retten Sie die Hungernden in Afrika; retten Sie die Palästinenser vor den Kugeln und der Folter, retten Sie die Israelis davor, ihre eigenen großen geistigen Traditionen zu besudeln; retten Sie die Schuldnerländer vor den erbarmungslosen Gesetzen der Ökonomie, kontrollieren Sie die Mächte der Wirtschaft, und zwingen Sie sie, die Verantwortung gegenüber der Menschheit höher zu stellen als die Gefolgschaft zu einer Wissenschaft, deren Gesetze in unserer Zeit schon längst hinfällig geworden sind.
Meine Damen und Herren!
Ich bitte um Nachsicht, wenn ich Ihre Stimmung getrübt habe. Aber durften Sie von einem Menschen, der aus der Dritten Welt kommt, etwas anderes erwarten? Läuft nicht jeder Topf über, wenn man zuviel in ihn hineinschüttet? Und wo sonst sollte unser Stöhnen erhört werden, wenn nicht in Ihrer Oase der Zivilisation, die von einem großen Initiator angelegt wurde, um der Wissenschaft, der Literatur und den menschlichen Werten zu dienen? Hat er nicht zur Wiedergutmachung sein ganzes Vermögen für das Gute und die Wissenschaft hingegeben? Ist es also tatsächlich so vermessen, wenn wir, Kinder der Dritten Welt, uns von den Entwickelten, den Industriestaaten wünschen, sie mögen so handeln wie er, seinem Verhalten nachfolgen und sich seine Anschauungen zu eigen machen?
Meine Damen und Herren!
Trotz allem, was um uns herum geschieht, werde ich bis an mein Lebensende Optimist bleiben. Und ich werde nicht wie der Philosoph Kant sagen, dass das Gute erst in der nächsten Welt siegt. Nein, es erringt täglich einen Sieg, und vielleicht ist das Böse sogar schwächer, als wir gemeinhin denken. Unsere ersten Vorfahren, die den wilden Tieren, den Insekten, den Unbilden der Natur, den Seuchen, der Angst und dem Egoismus schutzlos ausgeliefert waren, sind der unwiderlegbare Beweis für meine Behauptung. Ohne den täglichen Sieg des Guten hätten sie ebensowenig überlebt wie die Menschheit sich hätte weiterentwickeln, Staaten errichten, sich ausbreiten, Erfindungen machen, den Kosmos erobern und die Menschenrechte verkünden können. Und doch ist das Böse ein Ungeheuer, das brüllend um sich schlägt, und bekanntlich empfindet der Mensch viel intensiver das, was ihm Schmerzen bereitet, als das, was ihn erfreut. Deshalb hatte unser Dichter Abou Alaa recht, als er sagte: Die Trauer in der Stunde des Todes ist um ein Mehrfaches tiefer als das Glücksgefühl, das einen in der Stunde der Geburt durchströmt.
Ich danke Ihnen und bitte um Ihre Nachsicht.
Nagib Machfus: Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur. In Abwesenheit von Nagib Machfus verlesen von dessen persönlichem Beauftragten, Mohammed Silmahwih, auf dem Festakt der Schwedischen Akademie am 8. Dezember 1988. Übersetzung ins Deutsche von Thassein und Uwe Hage-Ali. © by Nobel Foundation, Stockholm.