Herr Cohen, Sie unterrichten Deutsche Literatur an der New Yorker Universität. In Ihren Publikationen liegt ein besonderer Schwerpunkt auf marxistischer, deutschsprachiger Literatur bzw. Literaturtheorie, wie etwa Anna Seghers oder Bertolt Brecht. Wie kam es zu diesem speziellen Interesse?
Mein Vater war ein Linker Sozialdemokrat in der Schweiz, er hat Marx & Engels gelesen und hatte Luxemburg und Lenin in der Bibliothek. Somit dachte ich in meiner Kindheit, jeder vernünftige Mensch sei links, ohne dass ich mich damit näher beschäftigt hätte. Nach der Schule ging ich dann zum Studieren an die Filmhochschule in Paris, und zwar mit großer Begeisterung, ich dachte, das sei mein Leben. Ich habe dann auch erstmal als Filmregisseur gearbeitet. Das waren Auftragsfilme, Industrie- und Werbefilme, nun ja, und ich dachte: Dass kann es nicht gewesen sein. Zwei Jahre habe ich nicht gewusst, was nun werden soll. Schließlich habe ich dann meine Frau, eine Amerikanerin, kennengelernt und lebte mit ihr in Kalifornien. Noch bis dahin habe ich mich nicht näher mit linker Theorie und Literatur beschäftigt! Als aber Reagan Präsident wurde, war das wie ein Schock, den ich mir nicht erklären konnte. Ich rief daraufhin einen Freund meines bereits verstorbenen Vaters – einen Gewerkschaftsführer – an, und sagte: Ich muss jetzt endlich Marx lesen, wo soll ich anfangen? Er empfahl mir die Frühschriften, was ganz ausgezeichnet war! Ich besorgte mir also die ersten vier Bände von Marx. So begann die tiefere Beschäftigung mit linker Theorie, bald kamen Lukàcs und andere hinzu.
Das Interesse an linker Literatur entwickelte sich schließlich bei mir als Spätfolge des Elternhauses: Mein Vater war lange Zeit Journalist gewesen und hatte sich viel mit der linken Literatur der Weimarer Republik beschäftigt. Vor allem Bertolt Brecht war eine Art Familienheiliger, seitdem mein Vater ihn 1947 in Zürich kennengelernt hatte und ein Jahr zu dessen Freundeskreis in der Schweiz zählte, bis Brecht dann in die sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR, einreiste. Es gab danach noch einen Briefwechsel zwischen Brecht und meinem Vater, der heute im Brecht Archiv in der Akademie der Künste (Berlin) aufbewahrt wird. Brecht war mehrmals in meinem Elternhaus zu Gast, worüber ich auch 1998 zum 100-jährigen Geburtstag von Bertolt Brecht geschrieben habe. Allerdings kann ich nicht sagen, was davon noch authentische Erinnerung ist und was aus den Erzählungen meiner Eltern herrührt. Schließlich wurde immer so viel von diesen Begegnungen erzählt! Mein Vater hat mir und meinem Bruder zum Einschlafen auch immer Brecht-Gedichte und Tucholsky-Texte vorgelesen. Ich hatte also wirklich einen ganz tollen Start in die Literatur. Als ich dann in New York anfing zu studieren, war es relativ klar, dass die linke Literatur und Literaturtheorie der Weimarer Republik mein Fachgebiet werden würde. Ich habe dann über Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstandes promoviert.
War es leicht, für dieses Thema Professoren zu finden?
Die NYU ist eine riesige Universität, die größte Privatuni der Vereinigten Staaten, mit über fünfzigtausend Studierenden. Der Fachbereich der Germanistik ist dabei ziemlich klein und war damals von Sozialdemokraten besetzt, die ohne weiteres offen waren gegenüber einem linken Promotionsthema. Mein Doktorvater hatte Seminare angeboten, in denen zum Beispiel Benjamin, Lukàcs oder Anders gelesen wurden. Insofern gab es überhaupt kein Problem, 1988 eine Dissertation über die Ästhetik des Widerstandes zu schreiben. Auch die Professoren hassten Ronald Reagan. Der Fachbereich hat sich seither sehr verändert, doch ich habe als Linker niemals Probleme gehabt. Ich habe auch noch mehr linke Kollegen hier. Es gibt auch Kollegen, die total auf die Dekonstruktion abfahren und sich als links verstehen. Es existiert wahrscheinlich ein Unterschied zu deutschen Universitäten, auch wenn es in den USA immer wieder mal Episoden der Kommunistenhatz gegeben hat; doch gibt es hier nicht das unmittelbare Trauma des Kalten Krieges, der DDR und so weiter. Man ist in den USA an den Unis linken und auch marxistischen Haltungen gegenüber gelassener als in Deutschland. Ich kann nicht sagen, dass ich hier auf bedeutende Art angeeckt bin.
Mit Blick auf Seminare zur Literaturtheorie, wie sie in Deutschland – zumal seit der Normierung im Zuge der Umstellung auf das Bachelor/Master System – angeboten werden, mutet es geradezu kurios an, aus New York City von Forschung und Publikationen zu linker europäischer oder gar linker deutscher Literatur und ihrer Geschichte bzw. Theorie zu hören. Schließlich dominieren an deutschen Universitäten ganz klar Struktur- und Diskursanalyse; Stanzel, Genette, Kristeva, Foucault, Barthes und Iser füllen die Handapparate der Seminare, doch wer Lukàcs oder Benjamin waren bzw. welche Auffassung von Literatur und Theater Brecht oder Sartre vertreten haben, können heutzutage nach absolviertem Literaturstudium nur die wenigsten wirklich beantworten. Unterscheidet sich die aktuelle US-amerikanische Literaturwissenschaft hier wesentlich von der deutschen?
Was meine Lehre und Forschung angeht: Ich verwende durchaus Stanzel und insbesondere Genette als Werkzeuge, aber nicht als Bibel. Auch wenn bei mir natürlich ein großes Interesse an Inhalt, Ideologie und Ideologiekritik besteht, so liegt der Zugang zu den Texten in den Seminaren doch auf genauer Lektüre, das was man in den USA »close reading« nennt. Der Zugang ergibt sich über Text und Sprache. Dazu ermutige ich die Studenten: möglichst textnah argumentieren. Dass ist unbedingt notwendig, gerade wenn man ideologiekritisch argumentieren möchte, da man sonst abhebt in eine irgendwie vage Ideologie-Debatte. Es stört mich natürlich nicht, wenn die Studenten eine andere Meinung als ich selbst vertreten, solange sie wirklich genau am Text entlang argumentieren.
Zu Barthes, Foucault, Derrida ist zu sagen: Die waren früher alle mal Linke. Gerade beim frühen Barthes finden sich sehr interessante Aspekte, wohingegen sich ein Lyotard komplett davon abgestoßen hat und mit seiner Kritik der großen Erzählung, wie mir scheint, mit seinem eigenen Marxismus abrechnet. Barthes hat sich von seiner Meinung nicht losgesagt, sondern ist von seiner linken Haltung weggedriftet, wohingegen sich Lyotard tatsächlich gegen linkes Denken gestellt hat; aber natürlich gibt es auch hier unterschiedliche Meinungen. Derrida wiederum, der, wie es schien, immer sehr gegen die marxistische Theorie angedacht hat, hat zum Schluss ein Buch über Marx geschrieben und war gegen Ende, so scheint es mir, linker als seine Anhänger.
Sie treten also ein für eine pluralistische Herangehensweise an Texte, in der die Ansätze nicht gegeneinandergestellt werden. Es ist aber eben sehr auffällig, dass gewisse Namen im deutschen Literaturstudium kaum noch oder nur sehr nebensächlich auftauchen.
Zur Situation in Deutschland kann ich nicht viel sagen. Während in den USA etwa Lukàcs überwiegend von Linken gelesen wird, ist Benjamin eine Art Gott der Dekonstruktion, ein absoluter Superstar für die US-amerikanische Literaturtheorie. Die Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten himmeln ihn an, wo er am dunkelsten wird, und vernachlässigen seine Freundschaft mit Brecht und seinen eigenwilligen Marxismus.
Über die Art und Weise, wie sich Literatur, respektive Kultur, in einer wissenschaftlichen Betrachtung angenommen werden kann und sollte, wird an deutschen Universitäten kaum noch gestritten. Paradoxerweise hat gerade der Poststrukturalismus, der doch die Überwindung jeglicher materieller Einschränkungen des Denkens proklamierte, zu einem »Ende der Geschichte« etwa der Literatursoziologie oder jeglichen substanziellen Methodenstreits in der Literaturwissenschaft geführt. Wie stehen Sie in diesem Kontext der drastischen Polemik Sartres gegenüber, der seinerzeit den Poststrukturalismus als eine Ideologie bezeichnete, welche »das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx zu errichten vermag« sei? Ist an dieser Polemik vielleicht etwas dran? Sozialwissenschaften stützen sich oftmals nur noch auf die Diskursanalyse und verwandeln die Sprache in einen mythischen Ort, in dem alles geregelt wird, sodass soziale Gegebenheiten vernachlässigt werden können. Ist der Poststrukturalismus nicht schon heutzutage in seiner Rezeption – nicht von der Intention seiner Begründer her – Ideologie geworden?
Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus sind, um in der Polemik zu bleiben, »vorbei«. Etwas weniger scharf formuliert: Sie sind historisch geworden. Der Poststrukturalismus ist eine philosophisch-ideologische Phase gewesen, die man heute schon relativ gelassen betrachten kann. Das Extremste, wozu diese Phase geführt hat, war das Geschwafel vom »Ende der Geschichte«, was sich mittlerweile nun wirklich als Unsinn herausgestellt hat.
Poststrukturalisten sollten auch nicht als homogene Masse gesehen werden, zumal durchaus Zwischenformen bestehen, zum Beispiel Bourdieu, der ja äußerst viel gelesen und studiert wird. Ähnlich verhält es sich mit Barthes. Bei beiden können progressive linke, marxistische Leser viel Interessantes finden. Ich neige schon dazu, Sartre in diesem Satz zuzustimmen. Das sieht man, wie gesagt, vor allem bei Lyotard, wenn er das Ende der »großen Erzählungen« ausruft, womit er vor allem auch den Marxismus meint. Wenn wir den Kapitalismus aber als große Erzählung sehen, so ist es, mit Sartre, natürlich eine enorme Attacke, wenn man uns gerade den Marxismus als Instrument, diese große Erzählung zu analysieren, aus den Händen schlägt. Aber mit den jüngsten Krisen des globalen Kapitalismus ist die Kritik an der politischen Ökonomie bis in die bürgerlichsten Kreise salonfähig geworden. Wenn man die New York Times liest, kann man sich zum Teil nur noch wundern. Mit einher geht auch das Ende des Poststrukturalismus, auch wenn dies nicht automatisch die Rückkehr einer marxistischen Ökonomiekritik bedeutet.
Zumindest an deutschen Universitäten klafft da aber ein großer Graben zwischen dem öffentlichen Diskurs und den Methoden der Sozial - und Geisteswissenschaften.
Sicherlich ist es so, dass auch die bürgerlichen Kreise den Kapitalismus kritisieren – sie kommen ja nicht mehr daran vorbei – aber kaum von einer handhabbaren Position heraus. Über eine vage Kritik kommen sie so nicht hinaus. Ohne eine progressive Weiterentwicklung des Marxismus ist die Entwicklung einer konstruktiven Kapitalismuskritik nicht leistbar. Für mich persönlich sind hier historisch Bertolt Brecht und heutzutage Wolfgang Fritz Haug von zentraler Bedeutung. Mit Haug arbeite ich bei der Zeitschrift Das Argument zusammen, und ich fühle mich seinen Positionen äußerst nah.
In Ihrem Roman Exil der frechen Frauen spielen Sie oft mit verschiedenen Blickwinkeln auf Literatur und Geschichte und beschäftigen sich mit deren Widersprüchen, etwa mit der häufigen Frage, wie wohl spätere Generationen die Verhältnisse früherer Zeiten bewerten werden. Ihre sehr emotionalen Beschreibungen der Innenwelt ihrer drei Heldinnen werden plötzlich durch kühle Faktizität unterbrochen. Nicht zuletzt sind die expliziten Diskussionen um die Literatur zwischen einer Vielzahl der auftauchenden Personen ein immer wiederkehrendes Thema, wodurch die Lesenden des Romans zu Reflexionen über das Medium »Roman« selbst angeregt werden. War genau dies Ihre Intention? Gibt es eine spezielle Schreibweise oder literarische Methode, die Sie sich angeeignet haben?
Ich kann das in dieser Allgemeinheit nicht beantworten, da gerade in der Belletristik jedes Projekt ein Prototyp ist, bei jedem Projekt kommen andere Probleme ins Spiel. In der Tat sind für mich das Verhältnis von Literatur und Geschichte und die Widersprüche eines nachträglichen Blicks zentral. Als aller erstes: Ich wollte jede Besserwisserei vermeiden. Wir wissen heutzutage sehr viel, was die historischen Figuren nicht wussten. Es ist billig und für jeden halbwegs gebildeten Menschen einfach, Brecht, Lukàcs, Bloch, Seghers, alle bekannten und weniger bekannten linken Intellektuellen von einem heutigen Standpunkt aus zu kritisieren. Mir geht es in meinem Buch darum, sie zu verstehen. Sie haben alle samt und sonders Stalin und der UdSSR die Treue gehalten – aus Gründen, die ich zum Teil sehr gut verstehen kann. Wen gab es denn sonst, an den man sich als Gegengewicht gegen den Faschismus noch hätte halten können? Doch dazu gehört natürlich auch, dass sie den stalinistischen Terror »übersehen« haben, ihn einfach nicht wahrhaben wollten und konnten, aufgrund ihrer eigenen Lage. Auf keinen Fall soll durch solch eine verstehende Art und Weise der stalinistische Terror geleugnet oder verharmlost werden, und eine meiner drei Hauptfiguren, Maria Osten, wird ja schließlich auch dessen Opfer. Ich möchte aber diese drei Frauen, um die es in dem Buch geht, und ihre Freunde, eben auch die genannten großen Namen, verstehen. Ich möchte nicht gescheiter tun, als sie es gewesen sind. Ich möchte auch für mich selber nachvollziehen können, wie es vielleicht gewesen sein könnte. Es ist nicht meine Haltung: »Wie konnten die nur? Waren die denn blind?«, wie es die Haltung der bürgerlichen Historiker ist. Ich versuche, echt zu verstehen.
Gerade dadurch wirkt das Buch, wirkt die Geschichte der drei Frauen noch ergreifender. Das Ende von Maria Osten, dieser überzeugten Antifaschistin, die sich so sehr mit der Sowjetunion identifizierte, und die dann selbst Opfer von Folter und Hinrichtung durch den stalinistischen Repressionsapparat wird, berührt gerade deshalb so sehr, weil ihre vorherige Begeisterung für die UdSSR so glaubhaft geschildert wurde.
Es ist mir in diesem Kontext durchaus recht, wenn das Buch so gelesen wird, dass die Lesenden an der Innenwelt der drei Frauen teilhaben. Allerdings habe ich versucht, mich hier zurückzuhalten. Ich wollte nicht so tun, als sei ich diese drei Frauen gewesen, mich nicht zu sehr mit ihnen identifizieren. Zum einen ist das einer gewissen Scheu geschuldet – ich habe da eine dezidierte feministische Haltung – mich als Mann mit diesen drei Frauen, mit ihrem Verhalten als »weiblich« zu identifizieren. Zum anderen wollte ich Ihnen auch eine gewisse Fremdheit lassen. Das Buch ist nicht als »Rührstück« anzusehen. Aber wie ich schon sagte, freut es mich auch, wenn man am Schluss sehr bewegt ist, und ich glaube auch, dass man es sein sollte. Nur habe ich versucht, dies nicht auf einfache Weise zu bewirken, sondern gerade beim Tod der drei Frauen einige Schritte zurückzutreten. Gerade bei Olga Benario ist dies besonders deutlich, wenn das Geschehen im Konzentrationslager Ravensbrück eigentlich komplett von außen geschildert wird, mittels »kühler Faktizität«, wie Sie es genannt haben. Ich hoffe aber, dass trotzdem bei den Lesenden hier starke Emotionen eintreten.
Beeindruckt haben mich die Diskussionen um linke Standpunkte in Literatur und Kunst, wie sie in Ihrem Roman geschildert werden.
Das zweite Hauptthema des Buches, neben dem Politischen, ist das Schöpferische. Ich habe ja mit Ruth Rewald und Maria Osten zwei Frauen ausgesucht, die selber Schriftstellerinnen waren; keine bedeutenden, doch das ist Nebensache. Ich habe nicht versucht sie bedeutender zu machen, als sie vielleicht waren. Es hat mich auch nicht interessiert zu beurteilen, wie gut ihre Texte sind. Ich habe sie einfach als schriftstellernde Frauen wichtig und ernst genommen, und zwar ebenso ernst wie jegliche männlichen Schriftsteller. Die Mischung interessiert mich: schriftstellerisch tätig und gleichzeitig politisch tätig. Zu den drei Hauptfiguren kommen ja noch viele weitere Figuren, Anna Seghers etwa spielt eine nicht unwichtige Nebenrolle. Und noch weitere Frauen kommen hinzu, die schöpferisch tätig sind, die Fotografie etwa ist hier von großem Interesse für mich: Gerda Taro, Annemarie Schwarzenbach und Tina Modotti, letztere ist die Fotografin, die das Bild auf dem Einband der Originalausgabe gemacht hat. Zu der Fotografie habe ich auch eine biografische Beziehung, mein Vater hatte Freundschaften zu einigen politischen Fotografen. Ich kann mich an viele Diskussionen über Ästhetik und Wirkung von Fotografie in meiner Kindheit und Jugend erinnern – auch Maler waren Freunde meines Vaters, ich hatte wirklich dieses anregende Elternhaus! Und eben jene Diskussionen zwischen engagierten Künstlern habe ich als autobiografische Grundlage verwendet, um in meinem Buch solche Kunstgespräche zu gestalten. Das gilt natürlich auch für die Gespräche unter Männern, insbesondere denke ich da an dasjenige in Brasilien zwischen dem Anthropologen und Ethnologen Lévi-Strauss, dem Architekten Niemeyer und dem Schriftsteller Jorge Amado. Ich habe die Werke aller drei studiert, über Niemeyer habe ich auch schon einen Aufsatz veröffentlicht. Aber es ging mir immer um den schöpferischen Vorgang: Wie geschieht Kunst? Und bei den schöpferischen Frauen kommt natürlich noch der entscheidende Aspekt hinzu: Wie geschieht Kunst in einer Welt, die auch noch in der Kunst von Männern dominiert wird? Dies wird gerade bei Gerda Taro deutlich, die neben ihrem Partner Robert Capa, einem der größten Fotojournalisten der Welt, versucht hat, sich als Frau in der Fotografie zu behaupten, einer klar männlich dominierten Kunst. Der Fokus bleibt immer auf den Frauen, etwa auch bei der Karikaturistin Eva Herrmann.
Diese Diskussionen über die Literatur lösen auch Reflexionen über das Medium »Roman« selbst aus, über das, was man gerade in den Händen hält.
Am reflexiven Moment, wie es die Postmoderne zum Prinzip erhebt, ist mir wichtig, dass man darüber nachdenkt, was man in den Händen hält, ohne dass es mir darum geht, dabei stehen zu bleiben. Der Leser soll durchaus im Sinne solch einer Reflexion verunsichert werden, aber auf produktive Weise; es ist eben kein reines Spiel, wie in der postmodernen Programmatik. Es geht ja auch immer um die Frage: Was ist eigentlich ein Roman, und was habe ich hier eigentlich vor mir? Immerhin haben all die Figuren wirklich gelebt und haben das, was hier geschildert wird, auch tatsächlich getan. Es ist ja ungewöhnlich, wenn auch nicht völlig neu, das in einem Roman auf Quellen verwiesen wird. Über diese wird man aus der Versenkung in reine Fiktion herausgeholt. Und in der Tat ist es das, was ich möchte: Man ist sich nicht mehr ganz sicher, was für eine Gattung man vor sich hat. Natürlich ist es ein Roman, da ich ganz frei geschrieben habe, was für das Buch richtig war, und dabei nicht behaupte, es sei faktentreu. Die Vorgänge sind überwiegend faktentreu, aber allgemein entsteht eine Grauzone zwischen Fakten und Fiktion. Es ist ein Roman, aber es ist durchaus erwünscht, dass die Lesenden auf diese Weise verunsichert werden.
Sie schließen ihren Roman mit den Worten: »Die Lebenden aber machen immer weiter ihre Geschichte. Sie machen sie nicht aus freien Stücken, sondern unter Umständen, die sie sich nicht ausgesucht haben und die ihnen oft nicht mehr Raum zum Handeln lassen als jenen, von denen hier berichtet wurde.«
Dies ist fast wortwörtlich ein Marx-Zitat, ohnehin verwandelt sich auf den letzten beiden Seiten der Text in eine Montage aus Zitaten. Auf diese Weise wollte ich, wie das beim Ende von Olga Benario in Ravensbrück schon erwähnt wurde, meine individuelle Autorenstimme verlieren, ich wollte, wie die drei Hauptfiguren, meinerseits zurücktreten. Es würde mich gar nicht mal stören, wenn man sagte, dass ich hier im historischen Diskurs verschwinde. Ich lasse also andere, verallgemeinernde und stärkere Stimmen als meine eigene sprechen. So heißt es zum Beispiel auf der vorletzten Seite von Anna Seghers: Die Toten, die in ihrer Erinnerung jung bleiben, das ist der Titel einer ihrer großen Romane, dann heißt es auf der letzten Seite oben, »Dass die Menschheit jene große Sache einst verwirklichen werde, von der sie längst den Traum besaß«. Das ist eine Abwandlung eines unter Marxkennern sehr populären Zitats aus dem Frühwerk. Marx schreibt in seinem Brief an Ruge: »Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.« Auch Ernst Bloch zitiert dies mehrmals, es erschien mir als ein wunderbares Bild einer konkreten Utopie. Und schließlich: Im 18. Brumaire, dem Band 8, heißt es bei Marx und so bei mir nahezu wörtlich: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Ich wollte, dass der Text übergeht in solch große Weisheiten, die weiser sind als ich selbst. Und ich wollte die drei Figuren überführen in eine Art kollektive Geschichte der Menschheit, und zwar der »Massen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten, deren Geschichte hoffentlich einmal die Hauptgeschichte der Menschheit sein wird«. Meine Rede geht also über in die größere Rede von gescheiteren Menschen, als ich es bin. Solche Montagen sind eine Geste der Hochmoderne, vielleicht auch der Spätmoderne, was bisher in den Rezensionen kaum bemerkt wurde.
Überzeugung und Mut der vielen »frechen Frauen« ihres Buches schlagen oftmals in einen Pathos um, der den Lesenden vor dem Hintergrund der Lage der Protagonistinnen zwischen Wirtschaftskrise, Faschismus und auch Stalinismus in Wirklichkeit als Ausdruck von Verzweiflung erscheint. Mut vermag Ihr Buch neuen sozialen Bewegungen somit kaum zu machen, insbesondere in dem Wissen, dass hier wahre Geschichte erzählt wird – wenn selbst eine Olga Benario tragisch endete, was kann dann überhaupt noch einE EinzelnE ausrichten?
Die Tatsache, dass die drei Frauen ums Leben kommen, wird ja bereits auf den ersten Seiten mitgeteilt. Ich wollte diese Spannung nicht, dass man sich auf den Nägeln kaut, ob die drei vielleicht überleben. So viel zum formalen Aspekt. Der wichtige Punkt dabei ist jedoch: Wie auch immer ich zu oder auf diese Frauen gekommen bin, zum Teil auch über Umwege, so finde ich es doch angemessen, dass alle drei umkommen. Denn mir steht vor Augen, dass in diesem Weltkrieg fünfzig oder sechzig Millionen Menschen umgekommen sind. Und es wäre eine Verharmlosung gewesen, wenn ich Figuren gewählt hätte, die überlebt haben. Bei diesem überwältigenden Schrecken musste es bleiben. Es passt zur Realität, zur Wirklichkeit dieser schrecklichen Jahrzehnte, dass diese Frauen umgekommen sind. Und was ich nicht mag ist, rein voluntaristisch, aus dem Kopf heraus, etwas Positives hinzuzudichten. Das Positive, das zu sagen wäre, kann nur aus den realen Verhältnissen kommen. Ich kann das am Beispiel der Ästhetik des Widerstandes erläutern: Peter Weiss hat das zwischen 1975–1981 veröffentlicht. Damals waren zwar die realsozialistischen Länder in einem schlechten Zustand, aber niemand, von links bis rechts, hat geahnt, dass diese bald nicht mehr existieren würden. Und so kommt zwar bei Peter Weiss Verbitterung über die Situation des Sozialismus in den 70er-/80er-Jahren zum Ausdruck, aber es bleibt die Hoffnung, allein weil es diese Länder gibt – dass sie sich auf irgendeine Weise reformieren, ändern könnten. Und ich habe mein Buch mindestens fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden dieser Länder geschrieben; und diese Tatsache musste zum Ausdruck kommen. Ich konnte nicht naiv an einer Hoffnung festhalten, für die ich keine reale Grundlage sehe; ich wollte keine billige Hoffnung aufkommen lassen. Doch es gibt eine Formel von Bertolt Brecht, die mich Zeit meines Lebens begleitet hat und an die ich mich halte, es ist das Motto seiner Schrift Der Drei-Groschen-Prozess: »Die Widersprüche sind die Hoffnungen«. Brecht verweist nicht auf eine konkrete Situation, aus der wir Hoffnung ziehen könnten, sondern als Dialektiker verweist er darauf, dass jedem Ding Widersprüche innewohnen. Und ich denke, wir leben gerade in einer Zeit, die voll von Widersprüchen ist. Und die Hoffnung muss, meiner Meinung nach, ausgehen von der größtmöglichen Aufmerksamkeit für die Widersprüche unserer Zeit, für die Widersprüche des Kapitalismus. Hier gibt es Ansätze für Kritik, kritisches Verhalten, für Widerspruch und Widerstand.
Herr Robert Cohen, vielen Dank für das Interview!
Das Interview führte Markus Munzlinger. Erstmals erschienen in: schleswig-holsteiner web_scripte 2, 2012, herausgegeben von der Rosa Luxemburg Stiftung Schleswig-Holstein e. V.