Man nennt ihn den »Balzac Ägyptens«, rückte ihn in die Nähe von Tolstoi, Dickens und Thomas Mann. Treffender als der Vergleich mit den Großen der Weltliteratur ist es jedoch, Nagib Machfus den »Vater des ägyptischen Romans« zu nennen. Denn: Auch wenn das an die 40 Romane, Kurzgeschichten und Novellen umfassende Lebenswerk des heute 78-Jährigen inzwischen längst zur Weltliteratur gehört, so ist Nagib Machfus doch vor allem ein typisch ägyptisch-arabischer Erzähler, der tief in der Kultur und Tradition seines Landes und der ägyptischen Gesellschaft verwurzelt ist.
Nagib Machfus ist der erste Schriftsteller arabischer Sprache, der den höchsten Lorbeer errungen hat, den die Literatur zu vergeben hat. Damit hat er den Traum aller arabischen Literaten und Intellektuellen – vom Golf bis an den Atlantik – verwirklicht: Die arabische Literatur hat endlich den universellen Durchbruch geschafft, der von drei Schriftstellergenerationen so sehr erhofft – und so vergeblich erwartet – worden war. Auf die Frage, ob er jemals damit gerechnet hatte, sagte Nagib Machfus am Tag der Preisverleihung in seiner typischen Bescheidenheit: »Ich hatte keine Ahnung. Weder ich noch meine Freunde haben es erwartet. Ich wusste nicht einmal, dass man mich vorgeschlagen hatte, und konnte es zunächst nicht glauben. Mein erster Gedanke galt meinen großen Lehrmeistern – Tāhā Hussein, Taufīq al-Hakīm und Akkad, die alle den Preis vor mir verdient hätten, und ihn nie bekamen. Ich bin sehr glücklich, dass ich diese Chance hatte, weil es eine Chance für Ägypten und die ganze arabische Welt ist, die neue Horizonte eröffnet …«
»Neue Horizonte« sind dringend nötig – nicht nur in der arabischen Welt, wo seine Bücher in manchen Ländern verboten sind, wo man ihn immer wieder der Häresie und des Verstoßes gegen die »islamische Moral« bezichtigt hat. Neuer Horizonte bedürfen auch wir hier im Westen. Wir nehmen seit ein paar Jahren zwar Anteil an den Exzessen der sogenannten Renaissance des Islams. Von der wirklichen Renaissance der arabischen Kultur zu Beginn unseres Jahrhunderts haben wir jedoch nichts wahrgenommen.
Ägypten erlebte damals – vor allem in den 1920er Jahren – die bewegteste Phase seiner geistig-intellektuellen Entwicklung. Denker und Schriftsteller wie Taufīq al-Hakīm, Tāhā Hussein, Salama Moussa und Lotfi as-Said – um einige nur zu nennen – gaben dem kulturellen Leben Ägyptens neue Impulse. Die ersten Tageszeitungen erschienen, politische Gewerkschaften und Parteien kamen auf. Der enge Kontakt mit Europa führte zu einer regen Übersetzertätigkeit. Es war die erste Intellektuellengeneration, die in Paris und London ausgebildet worden war. Dort hatten sie das Theater, den Film und vor allem die europäische Literatur entdeckt. Bald entstanden in Kairo die ersten Kunstgalerien und die berühmten literarischen Salons.
In diesem kulturellen Klima entstand, nach Jahrhunderten der Dekadenz, die moderne arabische Literatur. Einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten war und ist Nagib Machfus. Wie schon sein großes Vorbild Tāhā Hussein hat er die arabische Sprache, eine der ältesten der Welt, die von 140 Millionen gesprochen wird, von ihrer jahrhundertelangen Verkrustung und Schwere befreit und wurde auf diese Weise selbst Maßstab und Vorbild ganzer Schriftstellergenerationen.
Wenn – um mit Georg Luka zu sprechen – die Stadt die Wiege des Romans ist, so kann man sagen, Nagib Machfus ist der Romancier der größten, faszinierendsten Stadt des Orients: Kairos. Was Balzac für das Paris des 19. Jahrhunderts, Dickens für das viktoriansche England, Tolstoi und Gorki für das zaristische Russland bedeuteten, das ist Nagib Machfus für das Ägypten des 20. Jahrhunderts.
Er wurde am 11. Dezember 1911 als Sohn einer Kleinbürgerfamilie in einem der ältesten historischen Viertel Alt-Kairos geboren und hatte an der Universität von Kairo Philosophie studiert. Doch bald nach Abschluss seines Studiums kam er in Konflikt zwischen den Geisteswissenschaften und der Schriftstellerei. Er hat sich für das Schreiben entschieden – für den Roman, eine Literaturgattung, die damals in der arabischen Welt noch völlig unbekannt war. »Bei uns«, so sagt er, »verstand man damals unter Literatur den Essay, die Poesie und die Geschichtsschreibung. Ein literarisches Werk wie beispielsweise Tausendundeine Nacht – das einzige, das in Europa und auf der ganzen Welt berühmt und bekannt war – wurde an den ägyptischen Universitäten überhaupt nicht gelehrt oder behandelt. Man betrachtete Tausendundeine Nacht als ein Produkt der Volksdichtung, das keinerlei literarische Bedeutung hatte.«
Nagib Machfus hat es als Erster gewagt, schreibend »zu erzählen«. Damit hat er die reiche arabische Fantasie »literaturfähig« gemacht. Religiöser Dogmatismus und engstirniger Buchstabenglaube hatten die große Fabulierkunst der Nomadenvölker und ihre Mythen, Märchen und Legenden – die man sich an den Nachtfeuern der Karawansereien, in den Wüstennächten Arabiens, in den Bergen des Jemen und auf den Straßen und Plätzen Tunesiens und Marokkos erzählte und heute noch erzählt – jahrhundertelang unterdrückt und verdrängt. Nagib Machfus hat alle Elemente der volkstümlichen Erzählkunst in sein episches Werk aufgenommen. Auf diese Weise hat er das klassische Arabisch aus seiner sprachlichen und religiösen Zwingburg befreit. Er gab ihm eine neue, lebendige und volksnahe Ausdruckskraft. Allein mit dieser neuen Sprache, die einfach, knapp und präzise war, konnte er die Wirklichkeit der ägyptischen Gesellschaft unseres Jahrhunderts beschreiben. Und so erschloss er der arabischen Literatur eine ganz neue Gattung: die Novelle und den Roman.
Sokaq al-Midaq (Die Midaq-Gasse), sein erster Roman, der die Aufmerksamkeit der arabischen Literaturkritik auf sich zog, ist der Gesang der Altstadt: trist und heiter zugleich. Es ist die Geschichte des Lebens einer kleinen Gasse und gleichzeitig die Geschichte der Veränderung, des Wandels. Denn die Veränderung der Gasse bedeutet auch die Veränderung der Menschen, die in ihr leben: Der Tod der Gasse – der alten Viertel – ist auch der Tod der Traditionen, der Werte, der Menschlichkeit und Solidarität, um die der Dichter trauert.
Seit Anfang der Sechzigerjahre ist Nagib Machfus nicht mehr nostalgisch. Er ändert seinen Stil und sein Sujet. Er ist nicht mehr auf der Suche nach den verlorenen Orten und interessiert sich nicht mehr für eine Welt im Verfall. Von nun an gilt sein Interesse der unmittelbaren Gegenwart. Die Revolution von 1952 hatte das politische und gesellschaftliche Klima Ägyptens verändert. Auch wenn in seinen frühen Romanen der gesellschaftskritisehe Aspekt stets gegenwärtig war, so rückte jetzt die soziale Problematik in den Mittelpunkt seines Schaffens.
Auch wenn es in den Romanen Nagib Machfus’ nie an lebensvollen Gestalten, an Helden und einer mit großem dichterischem Atem geschilderten Szenerie fehlt, so ist der eigentliche Held und ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv die Zeit – die alles verändernde und zerstörende Zeit. In seinem 1962 erschienenen Roman Der Dieb und die Hunde steht nicht mehr der Mensch in der Gesellschaft im Mittelpunkt, sondern der Mensch in der Zeit. Mit den Romanen der Siebzigerjahre setzte wiederum eine neue Phase ein: Noch einmal hat der Erneuerer der arabischen Sprache seine eigene Sprache völlig erneuert; oder wie einer seiner Bewunderer und »Schüler«, der ägyptische Novellist Mansi Kandil, es formuliert: »Keiner hat die Architektur des Romans, die literarischen Techniken und Schulen so vollkommen beherrscht wie er. Immer wieder hat er seine Sprache verändert, verjüngt und bereichert. Auf diese Weise ist er als Romancier nie veraltet. Für uns, die dritte Schriftstellergeneration nach ihm, ist er ein Vorbild, ein Symbol.«
Mit dem Hausboot am Nil hatte Machfus mit den Nasseristen abgerechnet, denn die Revolution der »Freien Offiziere« hatte die Hoffnungen und Erwartungen des ägyptischen Volkes – vor allem der Intellektuellen – nicht erfüllt. Für Nagib Machfus und seine Freunde konnte das Nasser-Regime das Grundproblem der ägyptischen Gesellschaft nicht lösen, nämlich die Frage der Demokratie. Folter, Repression und willkürliche Gewalt stürzten die aufgeklärten Intellektuellen in Ratlosigkeit und Verwirrung, das ägyptische Volk in Hoffnungslosigkeit, Schrecken und Angst. Die pessimistische Erkenntnis, dass sein Land – Ägypten – vom Ideal einer gerechten Gesellschaft noch weit entfernt ist, wurde zum zentralen Thema eines seiner letzten Romane: Malhamat Harafisch – das Epos der Außenseiter. Dieser Roman, in dem sich Mythos, Zeit und Raum vermischen, erinnert an Gabriel García Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit – an die vergebliche Suche des Menschen nach dem Heil.
Als engagierter Romancier setzte sich Nagib Machfus sein Leben lang für die Grundwerte des Humanismus ein – für Freiheit und Gerechtigkeit. Als aufgeklärter Zeitgenosse, der sich der Philosophie der Aufklärung verpflichtet fühlt, plädierte er zeit seines Lebens für eine Trennung zwischen Staat und Religion, d. h. für eine Säkularisierung der arabischen Gesellschaft. So geht er auch in seinem vor Kurzem abgeschlossenen Roman Koschtomor scharf mit den Fundamentalisten ins Gericht, die er für eine ernste Gefahr hält. Ihrer engstirnig rückwärtsgewandten Ideologie stellt er das Bild einer aufgeklärten, humanen Weltschau entgegen, einer kulturellen und intellektuellen Erneuerung, die in die Zukunft weist, nicht in eine idealisierte Vergangenheit.
Erdmute Heller: Vater des ägyptischen Romans. Erstmals auf Deutsch erschienen in: Tages-Anzeiger, Zürich, 10. Dezember 1988. © Erdmute Heller, München