Um nicht selbst eine Autobiografie schreiben zu müssen, hat Nagib Machfus, lange bevor er mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde und Weltruhm erlangte, seinem Schriftstellerkollegen und Bewunderer Gamal al-Ghitani viel Autobiografisches anvertraut, das dieser unter dem Titel Nagib Machfus erinnert sich (Beirut 1980, Neuauflagen 1987 und 1988, Kairo) veröffentlichte. In seiner Einleitung deutet der 1945 geborene Ghitani die Bedeutung an, die Nagib Machfus für ihn selbst hat.
Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen weit zurückliegenden Tag – es mag im Jahr 1960 oder vielleicht auch 1961 gewesen sein, das genaue Datum weiß ich nicht mehr. Sicher weiß ich nur noch, dass es an einem Freitag war. Ich stand in der Abdal-Chalek-Sarwat-Straße, gerade gegenüber vom Eingang zur ausgebrannten Oper, und wartete auf einen Freund. Da fiel mein Blick, zum allerersten Mal, auf Nagib Machfus. Er ging Richtung Ataba-Platz, war offenbar auf dem Weg zum allwöchentlichen Opernclub. Wie ich ihn erkannte? Sicher von seinen Bildern, die sich mir eingeprägt hatten; diesen Bildern, die in allen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Jedenfalls hatte ich ihn noch nie zuvor zu Gesicht bekommen. Doch nun durchströmte mich ein Glücksgefühl. Sah ich doch hier einen der ganz Großen, deren Werke ich gelesen hatte, den einzigen arabischen Romanschriftsteller, dessen Werke mir wirklich etwas bedeuteten; diese Werke, in denen ich die Adressen der Gegend wiederfand, in der ich selbst wohnte, Adressen aus Alt-Kairo. Nagib Machfus – ich betrachtete ihn den anderen großen Romanautoren durchaus ebenbürtig, deren Werke ich in jenen längst vergangenen Zeiten durcharbeitete: Tolstoi, Dostojewski, Thomas Mann und viele andere.
Ein Jahr verging. Mein neuer Arbeitsplatz lag im schicken Stadtteil Dokki, und jeweils frühmorgens ging ich von meinem Wohnviertel al-Gamalija dorthin, und zwar via Kasr-al-Nil-Brücke. Dort nun begegnete ich Nagib Machfus. Ich erinnere mich noch, seine Schritte waren rasch, sein Körper kräftig, etwa doppelt so groß wie heute, sein Haar völlig schwarz. Er war gerade über fünfzig und arbeitete als Kulturberater im Filmamt. Sein Arbeitsplatz war im Fernsehgebäude, wohin er jeden Tag zu Fuß ging, auf demselben Gehsteig wie ich. Auch den Fluss überquerte er an derselben Stelle. Und wie üblich trug er in der rechten Hand die Morgenzeitungen. Ich wurde mit ihm bekannt und begleitete ihn jeweils ein kurzes Stück, bevor ich dann wieder meinen eigenen Weg in entgegengesetzter Richtung fortsetzte. An einem dieser schon weit zurückliegenden Vormittage überreichte ich ihm ein Exemplar der Beiruter Zeitschrift al-Adib, die damals der inzwischen verstorbene Albert Adib herausgab und in der, in der Julinummer 1963, unter dem Titel Ein Besuch meine erste Kurzgeschichte veröffentlicht war. Am folgenden Tag sagte mir Nagib Machfus, er habe die Geschichte gelesen, sie sei gut und habe ihm gefallen. Dabei erschien auf seinem Gesicht jener Ausdruck, den ich später noch so gut kennenlernen sollte – jedesmal wenn ihm eine Erzählung oder ein Roman, den er gelesen hatte, gefiel.
Dann schlug er mir einmal vor, ich solle in den Opernclub kommen, und dort begann dann meine eigentliche Verbindung mit dem großen Literaten, eine Verbindung, die bis heute nicht abgerissen ist. Während eines Vierteljahrhunderts beobachtete ich sein Interesse an jeder Art literarischer Produktion, die ihm junge oder unbekannte Autoren zuschickten. Alles las er aufmerksam durch und äußerte dann seine Meinung darüber – mündlich, wenn er den Autor traf, schriftlich, wenn dieser nicht in der Nähe wohnte.
Das ist auch so etwas: Nagib Machfus versäumt es nie, auf einen Brief zu antworten, und er erhält sehr viele Briefe. Das kann ein Brief von jemandem an einer europäischen Universität sein, der sich für sein literarisches Schaffen interessiert, oder von einem obskuren Schreiber, der in einem abgelegenen Dorf wohnt. Das ist etwas, was ich – leider – nicht von ihm gelernt habe. Denn mir ist das Briefeschreiben so oft so lästig, und ich bringe nichts zu Papier, es sei denn ich spüre einen intensiven inneren Drang dazu.
Gelernt habe ich von Nagib Machfus, dass literarisches Schaffen harte Arbeit ist, dass es Ausdauer und Beharrlichkeit erfordert, dass es kein Mittel ist, in die Welt der Stars oder in die Zeitungsspalten über die feinen Leute oder ins Fernsehen aufgenommen zu werden. Nagib Machfus verfasste seine berühmtesten Werke, während er noch im Schatten stand. Gelernt habe ich von ihm auch diese eiserne Zeitdisziplin. Er hat verstanden, dass die uns verfügbare Zeit knapp ist, dass »das Leben kurz, die Wissenschaft (und das will hier heißen, ›die Literatur‹) aber lang« ist, dass die Jahre schnell dahingehen; auch dass die Literatur nicht eine Kapriole ist, sondern dass sie eine große, eine ungeheure Anstrengung erfordert, ständig mit dem Leben der Menschen engsten Kontakt zu halten und ständig dazuzulernen.
Mir gegenüber hat Nagib Machfus das einmal so formuliert: »Ja, ich bin diszipliniert. Der Grund dafür ist ein einfacher. Mein ganzes Leben über bin ich Beamter (und) Schriftsteller gewesen. Hätte ich nicht als Beamter gearbeitet, hätte ich zu Disziplin ein anderes Verhältnis, denn dann könnte ich tun, was und wann ich will. Doch unter den gegebenen Umständen musste ich immer zu einer bestimmten Zeit aufstehen und meine Arbeit zu einer bestimmten Zeit antreten; da blieben mir jeden Tag nur noch bestimmte Zeiten, und hätte ich den Tag nicht genau eingeteilt, wäre mir die Kontrolle entglitten. Also habe ich mich daran gewöhnt, zu bestimmten Zeiten zu schreiben. Anfangs hat mein Geist dabei manchmal mitgemacht, manchmal nicht, aber mit der Zeit hat er sich daran gewöhnt. So schreibe ich gewöhnlich gegen Abend, und ich kann mich nicht erinnern, je länger als drei Stunden geschrieben zu haben; im Durchschnitt sind es wohl zwei Stunden. Pro Tag trinke ich fünf Tassen Kaffe und gehe nicht vor Mitternacht zu Bett. Fünf Stunden Schlaf genügen mir.«
Während Nagib Machfus schreibt, kehrt er der Welt den Rücken, kümmert sich um nichts. Mag sein, dass er im privaten, im tagtäglichen Leben konservativ, ausgewogen erscheint, doch sobald er zu schaffen beginnt, kennt er kein Zögern und keine Furcht mehr, nicht das geringste Bedenken. Das wird in seinen Erzählungen aus den Sechzigerjahren deutlich, die wie ein Element des Widerstands gegen die Konfiszierung der Freiheiten erscheinen, das wird auch in Romanen deutlich, z. B. in Das Hausboot am Nil; Miramar und Der Dieb und die Hunde.
Gamal al-Ghitani: Hommage für Nagib Machfus. Erstmals auf Deutsch erschienen in: Literaturnachrichten, Nr. 20, 1989. Herausgegeben von der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika, Frankfurt. © Gamal al-Ghitani. Übersetzung aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.