The Recommended Dose: Ärzte und Medizin werden ungemein oft in der Popkultur dargestellt, aber selten wird Medizin und das Gesundheitswesen so intelligent verhandelt wie in Ihren Büchern. Warum ist die Medizin in Ihren Werken ein so wichtiges Thema?
Sarah Moss: Jeder Schriftsteller, jede Schriftstellerin ist fasziniert von den Krisen im Leben. Geburt, Tod und die Angst vor dem Tod zählen eindeutig dazu, und sie geschehen im Kontext des Gesundheitswesens. Wann immer es wirklich kritisch wird, ist normalerweise jemand in einem weißen Kittel in der Nähe.
Es sind die narrativen Aspekte der Medizin, die mich interessieren. Je älter ich werde und je mehr Erfahrungen ich als Patientin wie als Verwandte von Patienten sammle, desto mehr verstehe ich die Medizin als einen narrativen Prozess.
Humanbiologie hat mich schon immer fasziniert. In der Schule hatte ich einen Sprachen- und Literaturschwerpunkt, aber das Interesse an der Biologie, an der Humanbiologie, am Körper, hat mich immer begleitet. Als ich meine Doktorarbeit schrieb, lebte ich in einem Haus voller angehender Ärztinnen und Ärzte. So habe ich die Ausbildung zum Arzt aus einer Art »Froschperspektive« kennengelernt. Meine Mitbewohner lernten ständig. Alle paar Wochen mussten sie Prüfungen ablegen, in denen sehr spezifisches Wissen geprüft wurde, das sie danach direkt wieder vergaßen. Im ganzen Haus klebten kleine Post-its mit medizinischen Fachbegriffen. Während ich versuchte, meine Arbeit über Wordsworth zu schreiben, bin ich immer wieder über diese Zettelchen gestolpert. Ich stand zum Beispiel vor dem Wasserkocher, und als ich fünf Minuten später mit meiner Tasse Tee von dannen zog, wusste ich plötzlich eine ganze Menge über Urologie.
In Ihren Büchern geht es aber nicht nur um Medizin. Auch soziale (Un-)Gerechtigkeit ist ein wichtiges Thema.
Diese zwei Themen sind für mich fest miteinander verbunden. Ich würde mein Schreiben nicht als Protestliteratur bezeichnen, aber ich möchte Wege erkunden, die zu einer etwas anderen, etwas besseren Welt führen könnten. Was ist der Sinn des Schreibens, wenn nicht eine Kritik am Bestehenden und ein Streben nach Veränderung?
In Ihrem Buch Zwischen den Meeren schreiben Sie über psychische Erkrankungen. Ally ist eine frisch gebackene Ärztin, die sich zu einer Zeit auf psychische Gesundheit spezialisiert, in der »Wahnsinn« erst nach und nach als behandelbar begriffen wird.
Ally übertreibt ein wenig, wenn sie sich selbst als eine der Ersten sieht, die Wahnsinn als behandelbar betrachten. Bereits in der York-Retreat-Klinik und in einigen Quäker-Anstalten des 18. Jahrhunderts stufte man psychische Krankheiten als behandelbar ein. Aber erst im späten 19. Jahrhundert gab es in Großbritannien große, öffentlich finanzierte Zufluchtsorte für »Geisteskranke« oder »Irre«, wie die Patientinnen und Patienten damals bezeichnet wurden. Soweit ich weiß, praktizierten zu diesem Zeitpunkt und bis hinein ins 20. Jahrhundert keine Frauen als »Psychiaterinnen«. Die Idee der Psychiatrie existierte so noch nicht.
Ally ist stets an der Schwelle zwischen ehrgeizig, motiviert und psychisch krank. Als Sündenbock der Familie hat sie eine besondere Sensibilität für psychische Erkrankungen von Frauen entwickelt.
Familiendynamik und vor allem die Mutter-Tochter-Beziehungen ist ein wichtiges Element in Ihrem Roman Wo Licht ist. Die Mutter wünscht sich für ihre Tochter ein erfolgreiches und unabhängiges Leben, sie soll ihren Platz als Ärztin in einer männerdominierten Welt finden. Die Tochter kann diesen Erwartungen aber kaum gerecht werden, sie droht, daran zu zerbrechen und ihre Menschlichkeit zu verlieren.
Ich interessiere mich für die Kehrseite von Ehrgeiz, Leistung und Erfolg. Die Härte der Ausbildung und die fast dysfunktionale Belastbarkeit dieser ersten Generation von Ärztinnen, die Fähigkeit, sich immer wieder zum Weitermachen zu zwingen – das alles hat seinen Preis. In Wo Licht ist frage ich, wo die Grenze zwischen dem Lehren von Widerstandsfähigkeit und Brutalität liegt. Welchen Preis sind Eltern bereit, für den Erfolg ihrer Kinder zu zahlen? Einige von uns sind bereit zu sagen: »Ich glaube nicht, dass der zukünftige Erfolg meiner Kinder mein Problem ist. Meine Verantwortung liegt darin, dass sie gute Menschen werden, und dass sie glücklich sind. Was sie damit tun, liegt an ihnen.« Das sagt sich aus einer privilegierten Position heraus natürlich leicht. Aber was muss man für ein Kind tun, was muss man einem Kind antun, um dessen Erfolg im späteren Leben zu garantieren? Ist es das wert? Und was, wenn es Teil eines größeren Vorhabens ist, wie bei Ally und ihrer Mutter? Es ist die Idee der Mutter, dass Ally eine Medizinkarriere anstrebt, und es sind auch die feministischen Überzeugungen der Mutter, die Ally auf diesen Weg führen. Natürlich wollen wir Frauen in medizinischen Berufen sehen. Natürlich wollen wir weibliche Pioniere in den verschiedensten Berufsfeldern. Wir wollen, dass die Welt sich verändert. Wir wollen, dass sie besser wird, wir wollen, dass unsere Kinder sie zu einem besseren Ort machen. Aber was ist der Preis, den die oder der Einzelne dafür zahlen muss? Und lohnt es sich, ihn zu zahlen?
Das Interview führte Ray Moynihan. Es wurde am 04.12.2017 im Podcast The Recommended Dose übertragen.