Wieso wollten Sie Schriftstellerin werden?
Lassen Sie mich in das Jahr 1980, in den Monat Mai zurückgehen. Korea wurde von einer Militärdiktatur beherrscht, die am 18. Mai 1980 mit der Gwangju Bewegung für Demokratie zusammenbrach. Ich war fünfzehn und lebte mit meinem jüngeren Bruder in Gwangju, in einem Schülerwohnheim, weit weg von zu Hause.
Eine Bürgerwehr verteidigte das Gebäude der Provinzregierung, das Wahrzeichen der Stadt. Es war von Fallschirmjägern umgeben und durch eine Blockade vom Rest des Landes isoliert. Am Abend fuhr die Bürgerwehr in einem Laster umher und kündigte an, dass in dieser Nacht die Soldaten gegen die Stadt vorrücken würden. Die Bürger wurden gebeten, herauszukommen und die Stadt zu verteidigen. Als es Nacht wurde, versammelten sich die Besitzer des Wohnheims und die Studenten, um gegrillten Schweinebauch zu essen, bevor sie loszogen, um sich unbewaffnet den Panzern entgegenzustellen.
Der Besitzer des Wohnheims nagelte eine dicke Decke vor unser Schlafzimmer, um die Kugeln abzuhalten. Er sagte uns, wir sollten im Zimmer bleiben, egal was draußen geschehen würde. Wir hörten Schüsse und Hundegebell. Es begann zu regnen. Mein Bruder schlief ein, aber ich fand keinen Schlaf. Die Schüsse wurden lauter und befeuerten meine Vorstellungskraft – der Schrecken dessen, was dort draußen geschah, die Bürger, die erschossen wurden, unsere Wohnheimfamilie, die in den Straßen zugrunde ging. Unfähig, sitzen zu bleiben, ging ich in das Zimmer meiner Freundin.
Bücher werden nicht nur aus einem einzigen Grund geschrieben. Sie können Nahrung für die Seele sein, oder dafür sorgen, dass man einschläft. Ich nahm ein Buch aus dem Regal, das meinen Bedürfnissen zu entsprechen schien: Einer flog übers Kuckucksnest. Es sah aus, als würde es mich einschlafen lassen. Ich würde erst aufwachen, wenn alle wieder sicher zu Hause waren.
Ich öffnete das Buch und als ich wieder zu mir kam, hatte ich es zu Ende gelesen. Etwas Heißes und Schweres rumpelte in meiner Brust und ich konnte nicht atmen. Ich schob die Decke zur Seite und öffnete das Fenster.
Es dämmerte bereits, der Regen hatte aufgehört und die Hunde bellten nicht mehr. Ich stellte fest, dass ich keine Schüsse mehr hörte. Der Kampf war vorbei. Die Gesichter der Hausbewohner überlagerten sich in meiner Vorstellung mit denen der Figuren im Roman, die ebenfalls übermächtige Feinde in die Flucht geschlagen hatten. Ich begann zu weinen. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich wegen eines Buches so sehr geweint.
Ich wollte schon von klein auf Schriftstellerin werden, aber an diesem Tag wurde mir klar, warum ich schreiben wollte. Ich wollte Geschichten wie diese schreiben, die Art Geschichten, die einen vergessen machen, wo man ist, die einem das Herz zerreißen und einen zum Weinen bringen. Die Erinnerung an diesen Tag treibt mich noch immer um.
Ich möchte, dass Leser überall auf der Welt in meine Geschichten hineingezogen werden und vor Emotionen wie Wut, Verzweiflung, Angst, Mitleid, Zuneigung und Liebe brennen. Ich möchte, dass sie die ganze Nacht mit brennenden Seelen verbringen, um dann die Morgendämmerung zu begrüßen. Ich will, dass die Welt wegen mir vor Leidenschaft brennt.
Wie kam es, dass Sie Krankenschwester wurden?
Ich wollte Schriftstellerin werden, aber Literatur konnte ich nicht studieren, weil meine Mutter dagegen war. Sie wollte, dass ich einen sicheren Job habe – wahrscheinlich wollte sie auch nicht, dass ich Literatur studiere, weil ihr Bruder davon geträumt hatte, Schriftsteller zu werden, es aufgab und jung starb. Also machte ich die Ausbildung zur Krankenschwester.
Welchen Einfluss hat Ihre Zeit als Krankenschwester auf Ihr Schreiben?
Als Krankenschwester habe ich die meiste Zeit in der Notaufnahme und auf Intensivstationen verbracht, beides Orte, an denen Menschen kurz vor dem Tod stehen. Dort sieht man, wie der geistige Zustand der Menschen sich wandelt. Menschen altern schnell im Krankenhaus. Ich denke, das liegt daran, dass man alle Erfahrungen des Lebens, alle Freuden und Leiden dort in Lichtgeschwindigkeit erlebt. Einem wird klar, dass jeder von uns einen Tod schuldig ist, wie Stephen King sagt. Bei dieser Arbeit habe ich gelernt, eine Situation unparteiisch zu analysieren. Sie hat meine Sicht auf die Menschen geprägt, als Teil eines größeren Ganzen, als einen von vielen anderen Organismen auf der Erde.
Was inspiriert Sie?
Meine Bücher beginnen mit Fragen. Eine Geschichte entsteht, während ich Fragen über bestimmte Ereignisse stelle und nach Antworten suche. Wenn ich eine leichte Antwort finde, dann ist es keine Frage für einen Roman. Eine Frage, die mich dazu bringt, Tage und Wochen nach Antworten zu suchen, ist eine, die zu einem Roman heranwächst. Etwas, das mir emotional beim Schreiben hilft, ist Musik. Ich höre Musik, sobald ich aufwache, meistens Metal. Gothic Metal, Symphonic Metal, Heavy Metal. Das macht mich munter.
Worin besteht die Herausforderung, einen Thriller zu schreiben?
Die größte Herausforderung für mich besteht darin, die Psyche und die Emotionen meiner Figuren zu beschreiben. Ich denke, der Mensch ist der komplizierteste und vielschichtigste Organismus auf der Erde. Ich erkunde das Menschsein über die Literatur, die Psychologie, die Philosophie, aber auch über die Biologie und Zoologie.
Wie recherchieren Sie für die psychopathischen Geisteszustände Ihrer Figuren?
Ich glaube nicht, dass es Menschen gibt, die durch und durch böse sind. Jeder trägt zwei Seiten in sich. In jedem gibt es ein sonniges, offenes Feld sowie einen dunklen Wald, wo all die Bestien schlafen, die Probleme in unser Leben bringen. Eifersucht, Wut, Hass, Ekel, Begierde, Freude, Angst, Verzweiflung und Gewalt. Ich gehe tief in diesen Wald hinein und schaue sie mir genau an.
Erschreckt es Sie, in solche Köpfe einzudringen? Wie gehen Sie damit um?
Es erschreckt mich. Ich hatte große Angst, als ich Der gute Sohn schrieb. Ich bin genauso aufgewachsen wie alle anderen in Korea, ich bin moralisch und ethisch erzogen worden und kenne die sozialen Regeln. Es war schwierig für mich, sie zu brechen. Ich hatte Angst davor, die Dinge aus Yu-jins Perspektive zu sehen, für den Fall, dass ich mich verlieren sollte. Trotzdem schlüpfte ich tiefer in Yu-jin hinein, weil es der einzige Weg war, dieses Buch zu schreiben. Als das Buch fertig war, kam ich wieder zu mir. Menschen haben die einzigartige Fähigkeit, in ihren Gedanken flexibel zu sein und zu ihrer emotionalen Intelligenz zurückzufinden.
Warum faszinieren Sie die blinden Flecken in der Sichtweise von Figuren?
Niemand kennt sich ganz und gar. Jeder hat Sehnsüchte, die er nicht kennt oder nicht kennen will. Es macht mir Freude, in diese Sehnsüchte einzutauchen. Literatur ist ein Weg, die Menschlichkeit zu erkunden. Einsicht und Urteilsvermögen sind entscheidend für diese Erkundung.
Welche Vorurteile haben die Menschen in Korea über Thriller? Wie gehen Sie in Ihrem Schreiben mit diesen Vorurteilen um?
Im Allgemeinen geht es in Krimis und Thrillern darum, wer ein Verbrechen begangen hat und wie es passiert ist. Meine Geschichten fragen, warum etwas passiert ist. Ich verrate oft am Anfang, wer es getan hat. Ich bin nicht daran interessiert, Spannung durch eine Verkehrung der Ereignisse zu erreichen; ich bin mehr daran interessiert, warum etwas geschehen ist und wie eine Figure sich in der Konsequenz verhält.
Haben Sie das Gefühl, dass die Welt sich zunehmend für koreanische Romane interessiert? Was erhoffen Sie sich für die koreanische Literatur?
Ich weiß nicht genau, ob das Interesse steigt, aber ich hoffe, dass die Menschen Bücher aus Korea nicht als koreanische Literatur wahrnehmen, sondern sich stattdessen für die Geschichte selbst interessieren. Jedes Land hat seine eigene Kultur und Geschichte, dennoch ist die Menschheit miteinander verbunden. Die Werke koreanischer Schriftsteller unterscheiden sich nicht von Literatur aus anderen Ländern, weil wir uns alle mit der Universalität des Menschseins beschäftigen.
Ist die dunkle Seite des Menschseins etwas, mit dem Sie sich in Ihrem Alltag befassen?
Natürlich. Manchmal bin ich bestürzt über den Menschen als Spezies. Vor einigen Jahren grassierte die Maul-und-Klauen-Seuche in Korea. Zehntausende Schweine und Rinder wurden lebendig begraben. Ich sah Videos davon, die Schreie aus dem Untergrund hörte ich danach in Gedanken immer wieder. Die schmerzhafte Schuld über das, was wir Menschen taten, brachte mich dazu, meinen Roman 28 zu schreiben. Die Dunkelheit in den Menschen ist mein Antrieb zum Schreiben.
Wie alt sind Sie heute?
Ich wurde am 15. August 1966 geboren.
Sind Sie Single, verheiratet oder haben Sie Kinder?
Ich bin verheiratet und habe einen Sohn.