La Vanguardia: Im spanischen Original lautet der Titel des Romans »La Transparencia del Tiempo«, wörtlich »Die Durchlässigkeit der Zeit«. Warum haben Sie diesen Titel gewählt?
Leonardo Padura: Der Titel hat zu einigen Diskussionen in meiner Familie geführt. Meine Frau Lucía ist meine erste Leserin, meine Kritikerin und manchmal auch jemand, der mich bremst. Sie fand, der Titel klinge nach einer philosophischen Abhandlung. Doch genau das gefällt mir an dem Titel, er rückt den philosophischen Aspekt des Romans in den Fokus, die Beziehung des Menschen zu seiner Vergangenheit sowie seine Unfähigkeit, sich der Geschichte zu unterwerfen. Der Geschichte, die ihn geformt hat, und die ihn manchmal niederdrückt. Und Geschichte manifestiert sich nun mal in der Zeit. Die »Durchlässigkeit« bezieht sich auf die Zirkularität der Zeit, auf ihre Spiralen – ein Konzept, das ich von Schriftstellern wie Carpentier oder Borges gelernt habe und im Roman anwende.
Mario Conde und seine Freunde gehen auf die sechzig zu. Sie gehören einer Generation an, die zum Zeitpunkt der Revolution jung war und heute frustriert ist, wie es im Roman heißt. Können Sie kurz erklären, woher diese Frustration rührt?
Mit sechzig Jahren sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir zu alt sind, um uns im heutigen oder zukünftigen Kuba neu zu erfinden. Gleichzeitig sind wir zu jung zum Sterben. Wir gehören einer Generation an, die die Universität besucht hat, die sich informiert und gebildet hat und die gelesen hat, so viel sie konnte, wenn auch nicht immer das, was sie wollte. Die meisten von uns haben sich gegen die Emigration entschieden. 1990, als wir dreißig wurden, folgte der Zerfall der Sowjetunion. Auch Kuba verfiel, wirtschaftlich und moralisch. Ein Freund sagte mir, dass es als Arzt eigentlich sein Beruf sei, Patienten zu behandeln, aber um zu überleben, fahre er Taxi. Ein anderer berichtete, dass er leidenschaftlich gerne an der Universität unterrichte, seinen Lebensunterhalt aber nur dadurch bestreiten könne, indem er sich in Büros um die Pflanzen kümmere. Zu all den zerbrochenen Träumen kommt hinzu, dass unsere Kinder uns verlassen. Fast alle von uns bleiben mit unseren alternden Eltern zurück, die wir unterstützen müssen, weil sie eine Rente von gerade einmal zehn Dollar im Monat beziehen.
Sie haben von moralischem Verfall gesprochen. Was meinen Sie damit?
In den Neunzigerjahren, als die Entzauberung sich breitmachte, begannen die Menschen, Überlebensstrategien zu entwickeln. Allem wurde ein Wert zugeschrieben. Die Prostitution und der Drogenhandel lebten auf, und zu einem bestimmten Zeitpunkt war der Schwarzmarkt der einzige Markt. Unsere Gesellschaft hat viele althergebrachte Werte verloren. Die Rechte des Anderen werden kaum noch respektiert, Gaunerei hat sich als Lebensweise etabliert. Das Wort »decente«, »anständig«, das früher so wichtig war, ist aus dem kubanischen Vokabular verschwunden.
Sehen Sie nach so vielen Jahren des Niedergangs eine Möglichkeit, diese Werte wiederherzustellen?
Ich hoffe, dass es sie gibt. Aber wenn wir jetzt Lucía fragen würden, wie es beim Einkaufen auf dem Markt zugeht, würde sie sagen: »Jeder bestiehlt Sie.« Es ist wie mit dem Skorpion, der sich selbst vergiftet. Es ist Teil der menschlichen Natur. Selbst auf dem staatlichen Markt berauben sie dich. Warum? Nun, das Gehalt der Menschen, die auf diesem Markt arbeiten, ist miserabel.
Der Roman behandelt auch Themen Ihres Landes, die in der Öffentlichkeit weniger bekannt sind, wie zum Beispiel die Grausamkeiten, die die Regierung gegen Homosexuelle – wie Ihre Figur Bobby – verübt hat. Mariela Castro, die Tochter Raúls, setzt sich für die Rechte Homosexueller ein. Gehört die ungerechte Behandlung von Homosexuellen der Vergangenheit an?
Homosexualität wird nicht mehr als »Problem« wahrgenommen, auch wenn der uralte kubanische Machismo noch existiert. Als ich klein war, brachte man die Jungen, die ein wenig »affektiert« wirkten, zum Arzt, um sie zu heilen. Wir haben es hier mit einer sozialen, kulturellen, familiären, religiösen und ethischen Vorbelastung zu tun, die politisch um strafrechtliche Verfolgung erweitert wurde. Homosexuelle erlitten jegliche Formen von Benachteiligung und wurden marginalisiert. Bei Bobby habe ich das in gewisser Weise entdramatisiert, er ist Opfer, aber auch Täter. Durch ihn spreche ich über die Vergangenheit und die Gegenwart.
Im Roman weisen Sie auf einen deutlichen Trend zum Kitschigen in Havanna hin. Die Szene, in der die Passagiere eines Sammeltaxis einen Reggaeton singen, ist brutal. Wie kann eine Gesellschaft, die so kultiviert ist und ein so wichtiges musikalisches Erbe hat, so verrückt nach Reggaeton und Liedern wie »Chupi-Chupi« sein?
Der Reggaeton, dieser Lärm, ist ein Symptom, keine Ursache. Er ist eine Folge des Werteverlusts und des moralischen Verfalls. Reggaeton repräsentiert den Untergang der weltberühmten kubanischen Musik. Der Staat versucht, diese Nichtmusik zu unterdrücken und zu stigmatisieren, aber Reggaeton-Konzerte werden über soziale Netzwerke beworben und sind immer überfüllt. Es ist idiotisch, aber Reggaeton ist der Soundtrack der kubanischen Gegenwart.
Sie beschreiben auch eine sehr ungleiche Gesellschaft, in jedem Ihrer Romane wird es etwas schlimmer. Ist das die Zukunft? Eine Gesellschaft, die immer ungleicher wird?
Der Staat kämpft gegen die immer größer werdende Ungleichheit an, aber da die Wirtschaft nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, tauchen Alternativen auf, die diese Ungleichheiten weiter fördern. Das neue Reisegesetz, das die Ausreise erleichtert, hat zur Entstehung eines neuen Berufs geführt: dem des Drogendealers. Ohne wirtschaftliche Kohärenz ist es sehr schwierig, eine gewisse Gleichheit herzustellen. Im vergangenen Jahr kostete ein Kohl fünf kubanische Pesos, dieses Jahr kostet derselbe Kohl zwölf Pesos. Währenddessen stieg das Durchschnittsgehalt von vierhundert auf vierhundertachtzig Pesos. Deshalb suchen die Menschen nach Alternativen. Der Kampf gegen die Ungleichheit ist sehr komplex.
Wie wirken sich die kleinen Veränderungen der letzten Jahre aus?
Die Ausreise wurde erleichtert, es besteht die Möglichkeit, eine Mobilfunkleitung zu registrieren oder Lizenzen zur Eröffnung bestimmter Geschäfte zu erhalten – was jetzt wieder ausgesetzt wurde, um der übermäßigen Bereicherung einzelner Menschen entgegenzuwirken. Die Gesellschaft hat sich verändert, ohne dass das System sich verändert hat. Unsere Gesellschaft befindet sich mitten in einem Prozess der Neudefinition. Wie es weitergeht, ist noch nicht absehbar.
Der Roman endet mit einer Vorahnung Mario Condes, dass etwas Großes geschehen wird. Mehr wird nicht verraten, aber als Datum wird der 17. Dezember 2014 genannt, der Tag des heiligen Lazarus, und der Tag des Castro-Obama-Pakts. Trumps Politik bremst diese Annäherung aus.
Die Beziehungen zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten waren immer traumatisch. Der große kubanische Intellektuelle José Antonio Saco, der in Barcelona starb, weigerte sich, der Unabhängigkeitsbewegung beizutreten, weil er behauptete, dass unser Land in dem Moment, in dem es von Spanien unabhängig würde, eine Kolonie der Vereinigten Staaten werden würde. Diese Vorahnung hat sich bewahrheitet. Dann folgte mit der Revolution die offene Konfrontation und das Embargo, das den Kubanern sehr schadet. Bis Obama kam. Er und Raúl sprachen miteinander, sie stellten die offiziellen Beziehungen wieder her, eine gleichzeitige Verbesserung der realen Beziehungen stellte sich ein und wir begannen zu hoffen, dass die Beziehungen sich normalisieren und festigen würden, und dass das Embargo aufgehoben werden würde. Und dann gewann Donald Trump die Wahl. Wenn ich in Trumps Politik etwas Kohärentes entdecke, dann, dass er Obamas Politik demontiert. Und das betrifft natürlich Kuba. Dieser Präsident hat den Traum zerstört und den Albtraum zurückgeholt. Wenn ein Kubaner seine Familie in den Vereinigten Staaten besuchen möchte, muss er noch immer nach Bogotá reisen, zwanzig Tage dort verbringen und auf ein Visum warten, für dessen Erteilung es keine Garantie gibt. Wer sind die Leidtragenden dieser Politik? Die kubanische Regierung? Nein, die Kubaner! In dieser Politik schwingt etwas Boshaftes mit. Es ist eine Schande, denn die Monate der Annäherung haben gezeigt, dass es ein großes Potenzial für harmonische bilaterale Beziehungen gibt: auf ökonomischer, akademischer, familiärer, kultureller und kommunikativer Ebene. Vor ein paar Tagen war ich in Miami für eine Buchpräsentation, aber es kamen nur wenige Leute. Es gab keine Zurschaustellung von Feindseligkeiten, aber es war alles anders. Es ist schade, dass die Leute sich so verhalten und dass solche Möglichkeiten ungenutzt verstreichen. Trumps Berater sollten wissen, dass es nicht die Feindseligkeit der USA ist, die die kubanische Regierung destabilisiert, sondern ihre Nähe.
Lesen die Kubaner auf der Insel Ihre Bücher? Ich weiß, dass man es Ihnen in Kuba nicht leicht macht.
Die Hindernisse, die sich mir in Kuba in den Weg stellen, gehören zu den Dingen, die ich an meiner Arbeit immer wieder beklage. Die Auflagen meiner Bücher in Kuba sind sehr klein. Weil es an Papier fehlt und natürlich auch weil es an Werbung fehlt. Manche Werke sind vollständig erhältlich, manche kaum oder nur unvollständig, wieder andere überhaupt nicht. Ich wünschte, die Kubaner hätten einen leichteren Zugang zu meinen Büchern. Denn sie sind meine selbstverständlichsten Leser, meine Komplizen.
Sie arbeiten bereits an Ihrem nächsten Roman, »El clan disperso«.
Ja, aber viel mehr als der Titel steht noch nicht fest. Carpentier wollte diesen Titel für einen Roman benutzen, den er dann aber nie schrieb. Ich möchte meinen Roman so nennen, weil es um Kubaner gehen soll, die überall verstreut auf der Welt leben. Der Rest muss sich noch entwickeln.
Dieses Interview wurde aus dem Spanischen übersetzt und erschien erstmals am 03.02.2018 auf lavanguardia.com.