Als Nagib Machfus 1988 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde in der Flut von Artikeln, Meldungen und Interviews immer wieder ein Werk aus dem mehr als dreißig Titel umfassenden Romanschaffen hervorgehoben – Die Kinder unseres Viertels. Europäische Literatur- und Islamwissenschaftler bezeichneten das Buch als das »fesselndste«, »originellste« von Machfus’ Arbeiten, als »Höhepunkt moderner arabischer Geistesgeschichte«. Im November 1988 wurde Machfus während eines Zeitungsinterviews gefragt, welches seiner Werke er seinerseits für das beste halte. Er nannte als ersten Titel Die Kinder unseres Viertels. Im Unterschied zu den anderen Büchern, die er anschließend noch aufzählte, gab er dazu eine Erklärung: »… ein Buch, das fast dreißig Jahre wegen angeblich religionskritischer Passagen in Ägypten verboten war und das erst soeben wieder freigegeben worden ist.« Nun liegen Problemkinder vielen Eltern oftmals besonders am Herzen. Vielleicht hat also Machfus – als geistiger Vater – eine solch enge Beziehung zu diesem Buch, weil es damit von Anfang an Schwierigkeiten gegeben hatte.
Der Roman war in gewisser Beziehung ein Auftragswerk, denn nachdem Machfus 1957 für seine Kairo-Trilogie den Staatspreis für Literatur erhalten hatte, wurde ihm von der bedeutendsten ägyptischen Tageszeitung »al-Ahram« angetragen, einen Fortsetzungsroman zu veröffentlichen. Machfus stimmte zu. Er brach damit eine Schaffenspause von rund fünf Jahren ab, die er nach der Juli-Revolution von 1952 eingelegt hatte, weil in ihm »der Wunsch geschwunden war, die alte Gesellschaft zu kritisieren«. Der Umstand, dass das neue Werk zuerst in der Presse erschien, ist für Machfus aus heutiger Sicht schuld daran, dass der Roman in Ägypten als Buch nicht herausgegeben werden durfte. »Leser von Büchern gibt es viel weniger als solche, die Zeitungen lesen. Tatsache ist, dass mir dieser Roman durch seine Veröffentlichung in al-Ahram fast eine Katastrophe einbrachte.« Konservative islamische Kräfte hatten gegen seine Drucklegung ihr Veto eingelegt, und so konnte die staatliche Führung dem Autor lediglich zusichern, dass einer Publikation im Ausland nichts im Wege stünde. So geschah es denn auch. Der Roman erschien 1959 im Beiruter Verlag Dar al-Adab. Die Auflage durfte in Ägypten nicht vertrieben werden, und sie blieb auch für dreißig Jahre die einzig existierende. Erst Ende 1988 kündigte der Leiter des Beiruter Verlagshauses die zweite Auflage an. Zu dieser Zeit trafen verschiedene günstige Umstände zusammen. Der ägyptische Präsident Mubarak strebte bei seinem Amtsantritt die Demokratisierung und Liberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse an, was sich nach der einseitig westlich orientierten Politik des vorherigen, 1981 ermordeten Präsidenten Sadat auf das künstlerische Schaffen im Land belebend und fruchtbar auswirkte. Als dann im Oktober 1988 Nagib Machfus der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, empfand die Mehrheit der Intellektuellen in den arabischen Ländern das nicht nur als Würdigung des umfangreichen Werks des Altmeisters, sondern auch als Anerkennung des weltliterarischen Niveaus der arabischen Literatur insgesamt. Beides, die liberale Haltung des ägyptischen Staatsoberhaupts und die internationale Anerkennung von arabischem Literaturschaffen, trug sicherlich dazu bei, dass schon im November des gleichen Jahres vom ägyptischen Staatspräsidenten Mubarak das Publikationsverbot für Die Kinder unseres Viertels aufgehoben wurde.
Der Eindruck, dass die Wintermonate von 1988/89 von literaturfreundlichen Umständen geprägt wären, sollte sich jedoch als trügerisch erweisen. Zunächst war da nur ein eher verwirrendes Symptom. Die Kairoer Abendzeitung »al-Masa«, die im Dezember 1988 mit dem Abdruck des Romans in Fortsetzungen begonnen hatte, musste die Veröffentlichungen nach wenigen Folgen wieder abbrechen. Schon wurden Vermutungen laut, dass die Gelehrten der Ashar-Moschee wiederum ein Verbot erwirkt hätten. Da aber meldete sich der Autor selbst zu Wort. Nein, so teilte er mit, es handele sich diesmal vorerst nicht um eine Auseinandersetzung mit religiösen Kräften, sondern es ginge vielmehr um Fragen des Copyrights.
Wenig später, Mitte Februar 1989, wurde die Welt auf einen anderen Autor, der ebenfalls dem islamischen Kulturkreis verhaftet ist, auf jähe Weise aufmerksam. Ajatollah Chomeini hatte dazu aufgerufen, den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie wegen des vermeintlich alle muslimischen Gläubigen beleidigenden Buchs »Satanische Verse« zu ermorden. Bei allem Verständnis für die mögliche Verletzung religiöser Gefühle rief das Aussetzen eines Kopfgeldes weltweit Unverständnis und Empörung hervor. Kontroverse Diskussionen wurden geführt, in deren Mittelpunkt vor allem auch die Frage stand, inwieweit denn ein literarisches, also fiktives Werk den Toleranzgrad der islamischen Religion in solch lebensbedrohendem Ausmaß überschreiten kann. Noch im April des Jahres 1989 wurde diese Frage durch Vertreter von religiös fanatischem Denken in Ägypten selbst eindeutig beantwortet. Scheich Omar Abdel-Rahman, das religiöse Oberhaupt der extremistischen Organisation Dschihad (Heiliger Krieg), rief dazu auf, auch Nagib Machfus als Abtrünnigen zu ermorden. Als Beweis für die Verunglimpfung des Islam stünde der Roman Die Kinder unseres Viertels. Die Existenz Gottes sei darin infrage gestellt; mit religiösen Werten würde Spott getrieben, die Propheten seien verhöhnt und die muslimischen Gläubigen »Wüstenmäuse« genannt worden. Die ganze Schändlichkeit sei schon daran zu erkennen, dass der Roman in 114 Kapitel unterteilt ist, was wohl auf die 114 Suren des Korans hindeuten solle. Nur wegen der Beleidigung des Islam hätte der Autor vom (andersgläubigen europäischen) »Westen« den Nobelpreis für Literatur erhalten.
Die Argumentation weist darauf hin, dass es lediglich mittelbar um Literatur und die Wirkungsmöglichkeit von ein oder zwei Romanen geht. Es steht mehr dahinter. Der Islam ist in den Entwicklungsländern die am weitesten verbreitete Religion. Als ein Mittel im berechtigten Kampf um ökonomische und politische Gleichberechtigung in den internationalen Prozessen wird die kulturelle Authentizität angesehen, die für eine starke Mehrheit in diesen Ländern eben islamisch geprägt ist. Extremistische Gruppen wittern die Möglichkeit, sich mittels einer panislamischen Alternative zu bereits bestehenden Gesellschafts- und Ideologiesystemen weltweit Machtpositionen zu erobern. Sie setzen auf den Zusammenhang von Religion und Politik, der in der islamischen Welt ungleich stärker ist als im Christentum. Ein Moslem gilt als guter Staatsbürger. Die, die vom Glauben abfallen, stellen sich außerhalb der Gemeinschaft, müssen – oder können – als Abtrünnige zum Tod verurteilt werden. Hier liegt die Toleranzbreite innerhalb des Islam. Während fundamentalistische Kräfte für das »müssen« optieren, sind andere Kräfte auf Vor- und Umsicht eingestellt. »Irrtümlich tausend Renegaten am Leben zu lassen«, sagte schon ein Rechtsgelehrter des 19. Jahrhunderts, »ist eine geringfügigere Schuld, als irrtümlich das Blut eines einzigen Menschen zu vergießen, der in Wirklichkeit Moslem ist.« Auf die Frage eines Journalisten, ob Nagib Machfus denn nicht beunruhigt sei über den Vergleich mit Salman Rushdie, antwortete er: »Überhaupt nicht. Anders als im Iran gilt in Ägypten das staatliche Strafgesetzbuch und nicht die Meinung eines Geistlichen.«
Radikal fundamentalistische Gruppierungen setzen sich zwar besonders lautstark in Szene, sind aber dennoch nicht der »Islam«. Das wird selbst am Begriff von »islamischer Literatur« deutlich. Gegen die fundamentalistische Meinung, dass diese nur auf Fakten und religiös geprägter Sittlichkeit aufbauen dürfe und alle Symbole, Mythen, Allegorien als unislamisch vermeiden müsse, steht beispielsweise die des Dekans der Theologischen Fakultät der Ashar-Universität in Kairo, »islamische Literatur« könne durchaus mit jener Weltliteratur (wohl im Sinne von »weltlicher Literatur«) identisch sein, die sich ernsthaft mit religiösen, theologischen oder weltanschaulichen Fragen auseinandersetze. Gegen fiktive, mit Symbolen und Allegorien arbeitende Literatur sei islamischerseits überhaupt nichts einzuwenden.
Der mit Nobelpreis und Morddrohung gleichermaßen bedachte Nagib Machfus hat sich immer zum Islam bekannt, aber jede Art von religiösem Fanatismus abgelehnt. »Die fundamentalistische Bewegung«, sagte er in einem Interview schon vor der Verleihung des Nobelpreises, »ist deshalb so gefährlich, weil sie eine Phase der Krise auszunützen versucht, um zur Gewalttätigkeit und zum Bürgerkrieg aufzuwiegeln … Das Grundproblem für mich und viele ägyptische Intellektuelle ist die Frage der Demokratie. Solange es keine Demokratie gibt, oder wenn sie verschwindet, werden der Gewalt Tür und Tor geöffnet. Und zwar von beiden Seiten: vom Staat und von subversiven Elementen, die sich auf die Religion oder auf andere Ideologien beziehen. Und die Gewalt ist ein Teufelskreis ohne Ende.«
Das ist genau das Thema des Romans Die Kinder unseres Viertels. Machfus hatte sich fünf Jahre Zeit gelassen, um über den Verlauf der Menschheitsgeschichte nachzudenken, angeregt von seiner Tätigkeit im Ministerium für religiöse Stiftungen: War denn nicht die ganze Welt allen Menschen von Gott als Geschenk übergeben worden, damit sie gerecht verteilt wird? Was aber machte dann Revolutionen notwendig? Hatten die Menschen die Botschaft nicht verstanden?
Von diesen großen Fragen bewegt, stand Machfus vor dem Angebot, in der renommiertesten Tageszeitung einen Fortsetzungsroman zu veröffentlichen. Wie konnten und sollten diese Problemstellungen in spannender Weise erzählt werden, damit der normale Zeitungsleser nicht die Lust am Lesen verlöre? Machfus erzählt vom Anspruch der Weltverbesserer, der Heilsbringer in ganz gegenwärtiger Form. Er schreibt einen Aktionsroman mit Mord und Totschlag, in dem die Hauptfiguren Adham, Gabal, Rifaa, Kasim und Arafa heißen. Unschwer ist in der Figur des Adham Evas Adam zu erkennen. Mit Gabal und Rifaa verbinden sich assoziativ Moses und Jesus. Schwerer hingegen fällt es vielleicht dem hiesigen Leser, in Kasim den islamischen Propheten Mohammed zu sehen. Machfus hält sich wie bei Gabal und Rifaa auch bei Mohammed nur so weit an die schriftlichen Überlieferungen, als es die gedankliche Mitarbeit des Lesers erforderlich macht. Auch Mohammed arbeitete zunächst als Hirte, bevor er eine etwa fünfzehn Jahre ältere wohlhabende Witwe heiratete, die ihm bei der Durchsetzung seiner Mission fest zur Seite stand. Mohammed war ein kluger, kompromissbereiter Taktiker. So sucht denn auch Kasim zunächst einen Rechtsanwalt auf. Auch Mohammeds Frau starb noch vor der Verwirklichung seiner Ziele. Wie Mohammed trägt Kasim den endgültigen Sieg in einer Schlacht davon. In dem gleichen Maß, wie Machfus dem Leser den Gedanken nahebringt, dass es sich um Adam, Moses, Jesus und Mohammed handelt, arbeitet er dieser Assoziation entgegen. Da ist von Blechhütten, Geldscheinen, Ölgemälden, Seifenschaum die Rede. Da fragen Kinder in einem Lied, ob einer Jude oder Christ sei, obwohl doch Rifaa seine neue Gemeinschaft noch gar nicht durchgesetzt hat. Die größten Schwierigkeiten ergeben sich aber dabei, den Urvater Gabalawi als personifiziertes Gleichnis Gottes zu sehen. Da heißt es beispielsweise, dass nur Allah wissen kann, wie es dem Gabalawi geht. Der Urvater wird von Machfus mit Eigenschaften ausgestattet, die allzu menschlich sind. Er ist despotisch, hat mehrere Frauen, Diener. In seinem Haus gibt es alkoholische Getränke, Haschisch und Teppiche. Das Verwirrendste ist aber, dass die Menschen bereits einen Glauben haben. Sie beten zu Allah. Geschieht das vielleicht aus Angst vor dem alten Verdikt früherer orthodoxer Gelehrter, dass Allah nicht in menschlicher Gestalt gezeigt werden dürfe? Ganz sicher nicht, vielmehr will Machfus eine neue fiktive Realität schaffen, und dabei stützt er sich auf jenes Wissen, über das eine große Anzahl von Lesern verfügt, auf Koran und Bibel. So handelt es sich hier weder um eine Profanierung der alten Heilsgeschichten, noch geht es um eine leicht verständliche, unterhaltsame Darstellung von Religionsgeschichte für einfache Gemüter. Wie jeder Autor, der eine Geschichte erzählt, nimmt er für sich das Recht in Anspruch, seine eigene Wahrheit, seine Botschaft zu verkünden. Wenn er hier also überlieferte Legenden und Symbole in allegorischer Weise nutzt und sich dabei des hohen Verinnerlichungsgrades bei den Lesern gewiss sein kann, dann will er auf die gähnende Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit in früherer, aber auch in heutiger Zeit aufmerksam machen. Gabal, Rifaa und Kasim waren mit dem Anspruch angetreten, den Menschen Gerechtigkeit, Wohlleben und Frieden zu bringen. Ohne blutigen Kampf war das für keinen zu erreichen, selbst nicht für Rifaa, der noch darauf hoffte, nur die Seelen läutern und reinigen zu müssen. Doch was ist aus diesem Anspruch geworden? Machtrausch und Habgier wurden damit nicht aus der Welt geschafft. »Du musst doch nur die Ungerechtigkeit hassen, die dich betrifft«, lässt Machfus seinen Gabal wütend schreien. So wird denn aus Eigennutz Unterdrückung anderer. Der liebenswerte, friedliche Moralist Rifaa wird bestialisch umgebracht. Kasim will schließlich all das verwirklichen, was Gabal und Rifaa nicht erreichten. Mit gerechter, nicht aber tyrannischer Gewalt will er alle Familien, auch die Frauen, Bettler und Diener, als gleichberechtigte Erben Gabalawis sehen. Er will die Wächter, die Söldner des Machtapparates, ein für alle Mal beseitigen. »Wenn Allah mir die Gnade des Sieges gewährt, dann wird das Viertel nach mir niemanden mehr brauchen«, behauptet er kühn. Aber auch sein Kapitel endet mit dem bangen Seufzer des Erzählers, ob denn nun wirklich das Viertel – die Welt – nicht länger der Seuche des Vergessens anheimfallen wird.
Mit diesem Seufzer, mit der Frage, ob denn die Menschheit nichts aus ihrer Geschichte gelernt hätte, lässt es Machfus nicht bewenden. Das letzte große Hauptkapitel gehört Arafa, dem Magier. Verfängt man sich nicht in der von Machfus bewusst naiv gehaltenen Erzählweise, dann versteht man, dass hier ein Zweifelnder, ein Prüfender, der Wissenschaftler auftritt. Er gehört keiner Familie an, aber auch diese Unabhängigkeit ist nur schöner Schein. Der Machtapparat macht sich seine Wunderwaffe zu eigen. Arafa wird getötet. Aber von nun an existieren nicht nur die göttlichen Gebote, sondern es gibt auch das Buch des Wissens. Geschrieben von einem Menschen, der nicht länger auf Wunder hoffte und es gewagt hatte, den Kampf gegen die Wächter aufzunehmen.
Nagib Machfus geht in seiner Erzählweise von der Alltagserfahrung der Zeitungsleser aus. Alles, was sich in der großen Welt und vor langer Zeit abgespielt hat, könnte sich auch so in einem einzigen Stadtviertel zugetragen haben oder heute noch so ablaufen. Da sind im Viertel zum Beispiel die Wächter. Machfus hatte sie als Junge noch selbst erlebt. In seinen Erinnerungen, die der ägyptische Autor Gamal al-Ghitani aufzeichnete und 1980 veröffentlichte, beschreibt er sie: »Ich konnte die Futuwwat (›Wächter‹) erleben, wenn zum Beispiel die von Utuf mit denen von Kasr asch-Schauk in die Wüste hinauszogen, um sich zu streiten. Jeder Führer hatte seine Männer bei sich, die Körbe mit Steinen und Flaschen trugen … Nachdem dann einer auf den anderen losgegangen war, konnte ich beobachten, wie sie auf Wagen geladen und zur Polizeistation von Gamalija gebracht wurden. Dort setzte man Protokolle auf, und dann kamen die Erste-Hilfe-Autos, um die Verwundeten wegzufahren.«
Es ist also durchaus auch möglich, diesen Roman als eine Mischung von Erlebtem und Fiktivem, als eine Art modernes Märchen zu lesen. Dass sich der Erzähler im Prolog als erster Berufsschreiber vorstellt, kann nur sehr bedingt als Indiz für eine sehr frühe Zeit der Menschheitsgeschichte mit wenig entwickelter Arbeitsteilung gewertet werden. In vielen Ländern der Welt gibt es noch heute eine große Anzahl von Analphabeten, für die der Beruf des Schriftstellers etwas Unvorstellbares ist.
Nagib Machfus’ Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit haben viele ausländische Journalisten nach der Nobelpreisvergabe kennenlernen können, und selbst die Arrogantesten unter ihnen mussten ihm bescheinigen, dass er von geradezu ansteckendem Humor ist. Die Kinder unseres Viertels sind ein beredtes Beispiel dafür. So ernst der Appell ist, doch endlich aus den Erfahrungen der Menschheit zu lernen, so vergnüglich ist die Art und Weise, mit der Machfus die Balance zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Altem und Neuem zu halten weiß. Es ist, als ob der Autor augenzwinkernd dem Leser ein Rätsel aufgeben will. Hat man jemals gehört, dass Adam einen Gemüsekarren zog? Wurde denn Moses in einer Regenpfütze gefunden? Wie kann man auf die Idee kommen, dass es zu Mohammeds Zeit schon Sportvereine gab?
Dieses Verwirrspiel ist ein großer Reiz des Romans, der es überflüssig macht, nach stilistischen, sprachlichen oder strukturellen Innovationen suchen zu wollen. Der heute 78-jährige Machfus ist sich seiner literarischen Mittel während der mehr als vierzig Jahre andauernden Schaffenszeit immer bewusst gewesen. »Der größte Feind der Kunst«, sagte er einmal, »ist die blinde Imitation.« Deshalb erklärt er denen, die ihm literarischen Traditionalismus vorwerfen: »Ich benutze den Stil, der mir am besten passt, und kümmere mich wenig um das Namensschild, das man ihm anhängt. Mein Stil sei traditionell, heißt es. Für wen und in Bezug auf was, frage ich. In Bezug auf die europäische Literatur? Vielleicht, trotzdem handelt es sich nicht um Traditionalismus, sondern schlichtweg um den Stil, der mir zusagt und den erschaffen zu haben ich gar nicht vorgebe. Es gibt weder einen ›wahren‹ noch einen ›falschen‹ Roman, es gibt nur den Roman, der vom Herzen kommt, und da kann man nicht sagen, dass er irgendetwas imitiert, weder Europa noch den Orient.«
Die hohen Auflagen der Romane und Erzählungsbände von Nagib Machfus sind ein Beweis dafür, dass die Leser weltweit nach seinen Büchern greifen. An sie alle – seien sie nun Juden, Christen, Moslems oder Atheisten – wendet sich Nagib Machfus mit seiner zutiefst humanistischen Botschaft, dem Ruf nach realer Umsetzung alter und neuer menschlicher Ideale, um endlich den »Teufelskreis von Gewalt« zu durchbrechen.
Berlin, im September 1989
Doris Kilias
Nach 1989, dem Jahr der deutschen Erstausgabe und der Abfassung dieses Nachworts, gingen die Auseinandersetzungen um Die Kinder unseres Viertels weiter. Zunächst mit lebensbedrohlichen Folgen für Nagib Machfus selbst. 1994 kam auf offener Straße ein junger Mann auf ihn zu. Machfus dachte, er wolle ihn begrüßen und streckte ihm die Hand entgegen. Aber der Mann zückte ein Messer und verletzte Machfus lebensgefährlich am Hals. Er wollte die Morddrohung der Islamisten in die Tat umsetzen. Als in der Folge mehrere ägyptische Verlage den Roman veröffentlichen wollten, widersetzte sich Nagib Machfus diesen Vorhaben. Nicht nur, weil sie die Genehmigung des Autors nicht einholten, sondern weil, wie er sagte, zum gegenwärtigen Zeitpunkt jede Diskussion darüber, ob dieser Roman nun religionsfeindlich oder nicht sei, vom unakzeptablen Verbrechen des Mordversuchs ablenke. Die Veröffentlichung in Ägypten solle zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Bis heute ist es dazu nicht gekommen.
Auch das Nachwort von Doris Kilias ist nicht völlig unberührt von geschichtlichen Verwerfungen. Dass es 1989 in dieser Form in der deutschen Erstausgabe erscheinen konnte, ist eine kleine Auswirkung des großen deutschen Wendejahrs. Die offizielle DDR-Politik erlaubte keine kritische Auseinandersetzung mit dem politischen Islamismus. Doris Kilias hielt sich nicht daran und die zuständigen DDR-Verantwortlichen konnten keine Publikationsgenehmigung für das Nachwort geben. Während der Buchmesse 1989 versuchte der Unionsverlag zunächst erfolglos, die Freigabe zu erreichen. Genau während dieses Gesprächs, am 18. Oktober, lief auf dem Gang der Messehalle ein Verkäufer der Bild-Zeitung durch die Halle und schwenkte das Blatt mit der Sensationsmeldung auf der Frontseite: Honecker war zurückgetreten. »Das Problem ist gelöst«, sagte der Verantwortliche, und das Nachwort konnte unverändert erscheinen.
Der Verlag