Der Wohnwagenpark von Andersonville ist kaum zu erkennen. Ein Kiesweg führt an einem Holzschild vorbei zu einem Wendeplatz, dahinter steht ein Camper mit Roststreifen. Von den mächtigen Eichen hängt Spanish Moss, das rhythmische Klopfen eines Spechts ist zu hören. Weit und breit kein Mensch. Ein Briefkasten dient als Kasse, eine Baracke als Toilette. Hier, im Herzen Georgias, ist es im Sommer drückend schwül. Jetzt aber, im April, ist die Luft klar, und es hat kaum Moskitos.
Ich bezahle die Übernachtungsgebühr und breche auf, um das Dorf zu erkunden. Außer Antiquitäten und Kaffee wird hier nicht viel verkauft. Vom Postgebäude blättert die Farbe ab, die amerikanische Flagge ist ausgebleicht. Gleich daneben befindet sich das Drummer Boy Civil War Museum. Neugier packt mich. Ich stoße das Fliegengitter auf und tauche ins neunzehnte Jahrhundert ein.
Das Haus war früher ein Wohnhaus gewesen, der größte Raum vermutlich das Wohnzimmer. In einem Schaukasten lag ein Grundriss des Gefangenenlagers, an den Wänden waren Puppen in originalen Uniformen aufgereiht. Die einzige, die Regina erkannte, war die des konföderierten Trommlers.
http://www.andersonvillegeorgia.com/Drummer_Boy_Museum.htm
Als die Dame am Empfang erfährt, dass ich aus der Schweiz komme, beginnen ihre Augen zu leuchten. »Genau wie Henry Wirz!« Sie erzählt von Heinrich H. Wirz, dem Kommandanten des berüchtigten Kriegsgefangenenlagers Andersonville, das nur zwei Kilometer entfernt lag.
Ohne es zu wissen, legt die Dame den Grundstein für »Alte Feinde«. Eine Stunde später verlasse ich das Museum, eingedeckt mit Material, und ich spüre: Das ist eine Geschichte. Verbannung. Kriegsverbrechen. Ein Schweizer, der im Amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft hat und, so die Meinung im Norden, zu den größten Verbrechern der amerikanischen Kriegsgeschichte gehört. Nach Ansicht des Südens ist er ein Märtyrer. Die Auswirkungen sind bis in die Gegenwart zu spüren, noch heute laufen Bemühungen, Heinrich H. Wirz zu rehabilitieren. Ein Justizskandal.
Doch eins nach dem anderen. Warum bin ich überhaupt in den Südstaaten der USA? Was suche ich hier? Die Antwort: Bruno Cavalli.
Vor drei Monaten hätte er zurückkommen sollen. Obwohl das FBI versicherte, es werde alles getan, um ihn zu finden, fehlte immer noch jede Spur von ihm. Genauso von Emma Longhorn, einer jungen Krankenpflegerin, die mit ihm verschwunden war. Gerüchte kursierten, Cavalli habe sich über die Anweisungen des FBI hinweggesetzt und sei einer eigenen Spur nachgegangen. Regina traute es ihm zu, einfach unterzutauchen. Aber gewiss nicht, ohne ihr eine Nachricht zukommen zu lassen.
Ich startete meine Suche im Reservat der Cherokee-Indianer, wo Cavalli letztmals gesehen wurde. Sie führte mich durch die Smoky Mountains nach Süden, schließlich, ganz zufällig, nach Andersonville. Nachdem ich das Drummer Boy Civil War Museum verlasse, betrachte ich den Obelisken, der zu Ehren von Henry Wirz errichtet wurde und mitten auf der Straße steht. Ich nehme kaum wahr, wie ein alter Pick-up langsam vorbeifährt und der Fahrer mich mustert. In meinem Kopf ist ein Bild am Entstehen, in meinem Bauch eine Geschichte.
Das ehemalige Gefangenenlager ist heute eine Gedenkstätte von nationaler Bedeutung. Den nächsten Tag verbringe ich zwischen Schaukästen, Stellwänden und Palisaden.
Geschichte hatte nie zu ihren Lieblingsfächern gehört, in der Gedenkstätte wurde die Vergangenheit aber lebendig. Statt der Wiese, die in saftigem Grün leuchtete, sah Regina einen Sumpf; statt Gras roch sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Sie legte den Kopf in den Nacken, um die Wachhäuser über den Palisaden zu betrachten und stellte sich vor, wie sie in den Lauf einer Muskete blickte. Das Ausmaß des Schreckens wurde noch deutlicher im Innern der Gedenkstätte. An den Stellwänden hingen Aufnahmen von ausgemergelten Soldaten, in den Schaukästen lagen Tagebuchausschnitte. Audioaufnahmen gaben Augenzeugenberichte wieder, ein Film fasste die Geschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs zusammen.
https://www.nps.gov/ande/index.htm
Wieder zurück im Drummer Boy Civil War Museum erfahre ich, dass ein Nachkomme von Henry Wirz erst kürzlich hier war. Die Angestellte gibt mir seine Kontaktangaben, er lebt in der Nähe von Bern. In den USA schliesse ich meine Recherchen ab, besuche verschiedene Schlachtfelder aus der Zeit des Bürgerkriegs, führe Gespräche im Medical Forensic Center in Baltimore und im Cherokee Justice Center im Reservat. Mit einem Koffer voller Bücher kehre ich in die Schweiz zurück.
Heinrich L. Wirz empfängt mich in seinem Büro in Bremgarten bei Bern. Der Militärpublizist beschäftigt sich seit Jahren mit seinem Urgroßonkel. Er zeigt mir Kisten mit Quellenmaterial, empfiehlt mir Bücher und Artikel. Wir reden über den Obduktionsbericht von damals, über die Plakette, die an dem Geburtshaus von Heinrich H. Wirz in Zürich angebracht wurde und für Unmut sorgte. Er reicht mir einen LeMat, einen neunschüssigen Perkussionsrevolver wie ihn auch der Lagerkommandant besaß. Er erzählt mir von den Watkins, den amerikanischen Nachkommen von Wirz und von der Gedenkfeier, die jedes Jahr in Andersonville stattfindet.
»Der Vater der Watkins soll einmal davon gesprochen haben, den Prozess wiederaufzunehmen, aber Albert meinte, um in Berufung zu gehen, hätte er das offiziell beantragen müssen. Reappraisal heißt es, glaube ich. Das hat er nie getan. In den USA kostet ein Verfahren schnell ein Vermögen. Albert hat gesagt, es ging nur über eine Sammelklage mithilfe eines Staranwalts.« Ein Historiker habe die ersten Schritte unternommen und ein Begnadigungsgesuch gestellt. Eine Antwort habe er aber nie bekommen. Später hätten die Sons of Confederate Veterans einen Anwalt in Washington beauftragt, den Fall zu untersuchen. Er sollte abklären, ob der Prozess gegen Wirz überhaupt legal gewesen war. Regina vermutete, dass ein ziviles Gericht nach Kriegsende zuständig gewesen wäre, nicht die Militärkommission, die das Urteil gefällt hatte.
https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/der-urgrossneffe-kaempft-fuer-henry-wirz-ehre-106925716
Zwei Jahre nach meiner Reise in die USA schließe ich die historischen Bücher, archiviere die Artikel und Notizen und klappe meinen Laptop auf. Die Reise in die Vergangenheit ist abgeschlossen, es wartet ein neues Abenteuer. Wie wird Regina Flint auf die Schauplätze in den Südstaaten reagieren? Wie Bruno Cavalli, wenn sie plötzlich in Cherokee auftaucht? Wo kommen sie dem Täter auf die Spur?
North Carolina, 9. April
Der Geruch fiel Bruno Cavalli zuerst auf. Eben war da noch der Duft nach Steak, Süßkartoffeln und geschmolzener Butter. Nun drängten Abgas und Feuchtigkeit in den Raum. Er versuchte herauszufinden, woher der Geruch kam, vergeblich. Das Granny Bee’s war bis auf den letzten Platz besetzt. Die meisten Gäste in dem Familienrestaurant waren Einheimische, nur wenige Touristen besuchten um diese Jahreszeit das Reservat der Cherokee-Indianer oder den angrenzenden Nationalpark ...
So beginnt der Roman.