Die Tschuktschen, die im äußersten Nordosten der Sowjetunion leben, gehörten 1971 zu den ärmsten unter den Nordvölkern. Und sie hatten bis dahin den geringsten Kontakt zu Weißen. Zwar gab es in Anadyr seit dem 18. Jahrhundert eine russische Festung, doch blieb der Kontakt zwischen den Einheimischen und diesen formalen Besitzern des Landes äußerst begrenzt. Nordpolarforscher wie Amundsen kamen seit Ende des 19. Jahrhunderts nach Tschukotka, amerikanische und russische Händler tauschten Alkohol und Gewehre gegen wertvolle Fuchspelze. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen ebenfalls vom zaristischen Russland Verbannte in dieses Gebiet.
Ab 1930 werden sogenannte »Kulturbasen« eingerichtet, Orte, die über Schulen und später auch Internate für die Kinder der nomadisierenden Renzüchter verfügen, über medizinische Einrichtungen, manchmal auch Krankenhäuser und Veterinärämter, über Verkaufsläden, Bäckereien, Werkstätten und über eine »Rote Jaranga«, in der kulturelle und politische Veranstaltungen abgehalten werden.
Solch ein »kultureller Stützpunkt« ist Uëlen, der Geburtsort Rytchëus am äußersten Zipfel der Tschuktschenhalbinsel, auf Sichtweite von Alaska, das 1863 von Russland an die USA verkauft wurde und wo, wie in Uëlen und Umgebung, Tschuktschen sowie Eskimos leben.
Dort trifft Rytchëu auf Russen, die in der Polarstation, in der Bäckerei, im Laden und als seine Lehrer arbeiten. Sie sind es, welche ihm die Welt der Bücher – und damit die Welt insgesamt – eröffnen, sie sind es, die ihn mit ihrer Musik beeindrucken, denn die Musik spricht zum Herzen, fühlt er, und über sie ist eine Verständigung, ist Verständnis füreinander zu erreichen.
Russen sind es aber auch, die den jungen Rytchëu immer wieder spüren lassen, dass ihre Kultur nicht nur eine andere, sondern eine bessere sei. Er wird es als Verletzung empfinden, er wird es aber auch glauben. Er wird, als er zu schreiben beginnt, auf gleicher Stufe mit dem Leser – dem russischen Leser – stehen wollen, nicht nur, damit dieser ihn verstünde, sondern damit dieser ihn als gleichberechtigt und sogar als gleich anerkenne. Um dies zu erreichen, wird er zum einen aus einer vermeintlich russischen Perspektive das Leben auf Tschukotka schildern, das heißt, er wird das Gleichsein unterstreichen.
Zum andern wird Rytchëu aber auch unablässig aus tschuktschischer Perspektive Vergleiche zwischen seinem Volk und den Russen ziehen, die beweisen sollen, dass die tschuktschische Kultur nicht minderwertig ist, dass Tschuktschen wahre Menschen, Lygorawetljan, sind, wie sie sich selbst nennen.
Bräuche begrenzen, die von der russisch-sowjetischen Zielkultur nicht als rückständig verurteilt werden, doch je länger er schreibt, umso weiter wird er sich vorwagen, das heißt in der Historie seines Volkes zurückgehen: Er wird von den Schamanen schreiben, von der Leviratsehe, vom Schöpfungsmythos seines Volkes. Ein Mittel zur Verteidigung der tschuktschischen Kultur – eine Verteidigung, die das Gleichberechtigtsein fordert – ist die im gesamten Werk Rytchëus auftretende Schilderung der Musik, des Tanzes, der bildenden Kunst Tschukotkas.
Dieses Schwanken zwischen Gleich- und Gleichberechtigtseinwollen lässt sich auch bei anderen Autoren aus den Nordvölkern finden. Und nicht nur bei ihnen. Es scheint typisch für jede kleine, ehemals isoliert lebende Kultur, die sich plötzlich einer größeren, dominierenden und dynamischen gegenübersieht.
Beobachtet man die dreißigjährige Entwicklung der Literaturen des sowjetischen Nordens, so scheint dieser Zusammenprall zweier Kulturen mit dem Wunsch, vielleicht auch einem Zwang, zur Assimilation zu begegnen, mit einer Phase, da die eigene Geschichte amputiert wird. Doch diese Amputation wird als schmerzhaft empfunden, man riskiert, von den eigenen Wurzeln abgeschnitten zu werden, jedoch eine neue, anderweitige Verwurzelung nicht zu erreichen; man riskiert, sich selbst zu verlieren. Und für einen Künstler würde dies heißen, der Quelle des eigenen Schöpfertums beraubt sein. So beginnt eine Identitätssuche, die den Suchenden in die Geschichte des eigenen Volkes zurückführt – und damit zu sich selbst.
Einige Schriftsteller finden diesen Weg sehr leicht, andere, Rytchëu etwa, arbeiten sich schrittweise und umwegweise auf ihre wiederzufindende Identität zu.
Vom Versuch, gleich zu sein, über die Forderung nach Gleichberechtigung – die beide an der Zielkultur ausgerichtet sind – hat sich Rytchëu eine ganz eigene Identität erschrieben. Er hat ein Werk geschaffen, das sich weder der tschuktschischen mündlichen Erzähltradition unterwirft noch dem klassischen russischen und russisch-sowjetischen Realismus. Vielmehr stellt zum Beispiel die moderne Legende Wenn die Wale fortziehen eine Synthese beider Traditionen auf neuer Ebene dar. Und dennoch ist die Antriebsfeder seines Schreibens dieselbe geblieben: die Verteidigung seiner einstmals und von manchen noch heute als minderwertig erachteten tschuktschischen Kultur.
Dass er und die Autoren aus den Nordvölkern dies können, ist der Nationalitätenpolitik und besonders der Sprachenpolitik der UdSSR seit 1917 zu verdanken. Diese Politik ist jedoch nicht ohne Widersprüche. Der Schaffung von Schriftsprachen nicht nur für die Nordvölker liegt letzten Endes die Idee zugrunde, dass die Heranführung der Völker und Völkerschaften der UdSSR an das sozialistische Ideengut am leichtesten über die Muttersprachen zu erreichen ist. Und diese Heranführung an das sozialistische Ideengut sowie die Förderung der technischen und ökonomischen Ressourcen des Staates sind von 1917 an erklärtes Ziel der Nationalitätenpolitik. Mehr noch: unter Stalin galt als Fernziel das Postulat der »Verschmelzung der nationalen Einzelkulturen«.
Und so erklärt es sich auch, dass nicht für alle Nordvölker Schriftsprachen geschaffen wurden, denn es gab solche, die mit dem Russischen bereits so weit vertraut waren, dass man sie in dieser Sprache an das sozialistische Ideengut heranführen konnte. Das Postulat der »Verschmelzung der nationalen Einzelkulturen« wurde erst 1964 zugunsten einer sogenannten »Annäherung der Völker« untereinander aufgegeben. Die Folge davon ist, dass die Generationen der heutigen Jugend und Kinder zweisprachig sind, ja sogar oft voller Stolz Russisch als ihre Muttersprache angeben, denn das Russische als Verständigungssprache innerhalb der Sowjetunion eröffnet mehr berufliche Möglichkeiten, da es die Mobilität des einzelnen vergrößert.
Auch Rytchëu verfasst heute seine Prosa in russischer Sprache, wenngleich er im Anschluss vieles noch einmal auf Tschuktschisch schreibt, und zwar anders, kürzer, denn der tschuktschische Leser ist mit der Realität seines Landes, über die Rytchëu berichtet, vertraut, während sie einem nicht-tschuktschischen Leser breiter geschildert werden muss. Ist es diesen Autoren zu verdenken, dass sie in Russisch schreiben, einer Sprache, mit der sie statt ein paar Tausend 250 Millionen Leser und darüber hinaus leichter den ausländischen erreichen?
Hier vorschnell von einer Russifizierung zu sprechen, sollte man sich hüten. Wie am Schaffen Rytchëus zu erkennen ist, bedeutet die Übernahme neuer Kulturtechniken gerade auch ein Wachsen des eigenen Selbstbewusstseins. Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion setzte also einen dialektischen Prozess in Gang, der in den kleinen Völkerschaften einerseits eine Beschädigung, teilweise Zerstörung von Traditionen bedeutet, andererseits ein gesteigertes Bewusstwerden, auch ein Selbst-Bewusstwerden und die künstlerisch-literarische Gestaltung der Tradition.
Für diesen Prozess gibt es wohl zahlreiche historische Vorbilder und Parallelen. Dabei wird die statische, nach außen weitgehend abgeschlossene Kultur, in die eine fremde, mächtig expandierende eindringt, gezwungen, ihrer selbst gewahr zu werden und ihren Wert, ihre Substanz zu verteidigen. So wird im günstigen Fall das Mischungsverhältnis und die Mischungsweise beider Kulturen eine, die die Menschen nicht entwurzelt.
Wie sich dies in der Sowjetunion gestaltet, wird erst die Zukunft zeigen. Bis 1987 war die Tschuktschenhalbinsel militärisches Sperrgebiet. Das Spärliche, was wir im Westen über die dort lebenden Ethnien, ebenso wie über die Nordvölker insgesamt, wussten, muss einer kritischen Prüfung unterzogen werden, denn es stammt nahezu ausschließlich aus sowjetischen Quellen. Über den stalinistischen Terror beispielsweise ist bisher nicht viel mehr bekannt, als dass die schamanistischen Priester deportiert wurden; von der Entwurzelung der eingeborenen Bevölkerung wird vorwiegend im Zusammenhang mit dem Alkoholproblem in den sibirischen Städten gesprochen; über die Zerstörung der Umwelt erfahren wir indes seit ca. 1987 einiges, doch steht auch hier noch Schlimmeres als das Bekannte zu befürchten …
Doch eines lässt sich heute schon mit Bestimmtheit sagen: Es gibt ein neues Selbstbewusstsein der Nordvölker, das sich bis 1986/87 nur zaghaft zu artikulieren wagte, doch seither immer deutlicher und kritischer seine Stimme erhebt.
Seinen jüngsten politischen Ausdruck fand es 1990 in der Souveränitätserklärung des Tschuktschischen Autonomen Gebiets. Vermutlich liegt dieser Souveränitätserklärung kaum der Wille zugrunde, tatsächlich die Union zu verlassen. Vielmehr muss sie wohl als ein Signal verstanden werden, dass die Nordvölker, die alle auf dem Territorium der Russischen Republik leben, ebenso wie die anderen Völker und Ethnien in der UdSSR, über die Gestaltung ihres Lebens und des politischen und gesellschaftlichen Lebens in ihrer Region mitentscheiden bzw. selbst entscheiden wollen.
Dem ist umso mehr Bedeutung beizumessen, als der Fall des Eisernen Vorhangs im Osten – zwischen der Tschuktschenhalbinsel und Alaska – nicht nur für die Tschuktschen und Eskimos diesseits wie jenseits der Beringstraße es möglich macht, ihre Jahrtausende alten Familien-, Sippen- und Handelsbeziehungen wieder aufzunehmen (eine erste Wiederbegegnung fand im Sommer 1989 41 Jahre nach einer Grenzziehung des Kalten Krieges statt, die Tschuktschen und Eskimos nie gekannt hatten). Vielmehr ist die sowjetisch-amerikanische Versöhnung auch für Mächtigere und Einflussreichere eine Gelegenheit auszugreifen – nach dem Gas, dem Öl, dem Gold, dem Erz, die im ewig gefrorenen Boden dieses Landes in märchenhaften Mengen vermutet werden. Schon sind die ersten Joint-Venture-Verträge zur Erschließung der Bodenschätze abgeschlossen; schon gibt es Wildnis-Tourismus. Dies könnte die endgültige Zerstörung der ohnehin längst geschändeten Natur bedeuten. Und ohne jeden Zweifel kündigt dies für die Zukunft eine zweite Zerstörung der Kultur dieser Völker an, die ganz anders geartet sein wird als jene erste, die im Anfang aus rein ideologischen Gründen vorgenommen wurde.
© by Eveline Passet, Berlin