In Korea gelte ich als ungewöhnliche Autorin in einer außergewöhnlichen Position. In der literarischen Welt bin ich eine Außenseiterin, wandle auf einem Grad zwischen literarischem Roman und Thriller, während meine Leser mich liebevoll als Amazone bezeichnen, nach den mythischen weiblichen Kriegerinnen. Das verdeutlicht sehr gut, wie die Leute mein Werk betrachten, und wie die koreanische Literaturwelt funktioniert. Was genau ich damit meine, versteht man wohl am besten, wenn ich ganz von vorn anfange: Wie wird man in Korea Schriftsteller?
Zwei Wege führen zur literarischen Karriere. Der erste besteht darin, einen Kurzgeschichtenwettbewerb zu gewinnen (die Wahrscheinlichkeit liegt bei mehreren Tausend zu Eins), der zweite darin, den eigenen Roman für einen der wenigen Literaturpreise einzureichen und zu gewinnen. In beiden Fällen sind die Aussichten auf Erfolg verschwindend gering. Dennoch versuchen es viele werdende Autoren auf diesem Weg, da man im Erfolgsfall in die Riege der angesehenen Schriftsteller aufgenommen wird.
Literaturpreise werden meist für exzellent geschriebene, hoch literarische Werke vergeben. Die Gewinner haben für gewöhnlich Kreatives Schreiben oder Literatur studiert, genau wie die Jurymitglieder, die selbst Autoren sind. Es versteht sich also von selbst, dass alle unauflöslich miteinander verbunden sind. Sie haben dieselben Abschlüsse, haben an denselben Universitäten unterrichtet oder beim jeweils anderen gelernt.
Ich habe ebenfalls einen dieser Literaturpreise erhalten, für meinen Roman Shoot Me In The Heart – mein zwölfter Versuch innerhalb von sechs Jahren. Kein Thriller, sondern ein literarischer Roman, wie er vom Establishment verlangt wird. Er war erfolgreich: 200 000 verkaufte Exemplare und Adaptionen für Theater und Film. Alles sehr ungewöhnlich für eine bis dato unbekannte Autorin.
Trotzdem blieb ich eine Außenseiterin. Ich bin ausgebildete Krankenpflegerin und habe weiterhin als Krankenschwester gearbeitet. Ich hatte Glück: Die Aufmerksamkeit, die ich für meinen Roman bekam, verschaffte mir Raum für meine anderen Geschichten. So konnte ich schreiben, was ich wollte.
Geschichten, die mich faszinieren sind solcher Art: Ein vom Pech Verfolgter ist der kapriziösen Natur des Schicksals ausgeliefert. Ein Unglücklicher trifft anstatt der besten die schlechteste Wahl. Ein Leichtsinniger wird von der eigenen Gier geblendet und steuert geradewegs auf die Selbstzerstörung zu. Eine würdevolle Figur verteidigt mit aller Kraft das Wichtigste in ihrem Leben, obwohl sie sich in einer prekären Lage befindet. Ein grausamer Mensch zeigt sein wahres Gesicht, hässlich und feige. Ein seelisch Verwundeter wird im Angesicht des Todes rasend.
Wenn solche Figuren dann noch auf den richtigen Stoff treffen, fängt mein Herz wie wild an zu pochen. Mein ganzer Körper wird heiß, als hätte ich meine große Liebe getroffen. Alles in mir ist dann auf diese Geschichte fokussiert, sie wird zur Gravitationskraft. Das ist der Moment der »Inspiration«. Beim Schreiben verlasse ich mich allerdings nicht auf Inspiration.
Eine Geschichte schreiben, bedeutet für mich, herauszufinden, wie man eine Erzählung logisch auflöst. Das habe ich von Stephen King gelernt. Nicht von ihm persönlich – alles, was ich über das Schreiben weiß, habe ich aus seinen Romanen gelernt. Ich besitze alle seine Bücher, und ich habe sie so oft gelesen, dass sie schon ganz abgenutzt sind.
Stephen King schreibt nicht nur eine dynamische Geschichte. Er taucht tief in die menschliche Psyche ein, an einen Ort, den sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen können. Am Ende seiner Bücher steht man einem schutzlosen, verletzlichen Menschen gegenüber. Dann wird einem schlagartig bewusst, dass man sich selbst gegenübersteht, der eigenen Natur. Kings Romane sind mitreißend, bewegend, beim Lesen fühlt man sich einsam. Einen solchen Roman wollte ich auch schreiben.
Einen eindrücklichen Satz zu schreiben, habe ich von Raymond Chandler gelernt: Schreibe nur das Nötige. Seine Bücher haben mir Humor und Scharfsinn nähergebracht, sie haben mir gezeigt, wie man in einer spannenden Erzählung Raum zum Atmen und Lachen entstehen lässt. Vor allem liebe ich Chandlers kurze, ehrliche, klassische Sätze. Dank ihm verweisen die Leute auf meine kurzen, schnellen Sätze als Markenzeichen meines Schreibens.
In meinem ersten Thriller, Sieben Jahre Nacht, zeigt sich der Einfluss dieser beiden Lehrer ganz deutlich. Die Reaktionen auf das Buch waren zweigeteilt. Die konservative literarische Welt befand es als übermäßig provokant. Meine Leser sahen das anders. Mehrere hunderttausend Exemplare wurden verkauft und die Presse wählte es zum »Buch des Jahres«. Kürzlich wurde es als Film adaptiert. Ein einflussreicher Kritiker bezeichnete den Thriller als das aufregendste koreanische Buch der 2000er.
Nichts davon hat das literarische Establishment in Korea berührt. Das alte Netzwerk funktioniert wie gehabt, die geltenden Systeme sind in Stein gemeißelt. Kaum jemand schreibt die Art Geschichten, die ich schreibe, vor allem kaum Frauen. Ich bin immer noch allein. Sollte mich aber irgendjemand fragen, ob ich einsam bin, würde ich ohne zu Zögern mit Nein antworten.
Im Herbst 2013 habe ich den Annapurna im Himalajagebirge bestiegen. Ich bin ziemlich naiv an die Sache herangegangen. Beim Aufstieg zum 5460-Meter-Gipfel, am Ende meiner Kräfte und mit Höhenkrankheit, traf ich auf einen Fan. Er hatte alle meine Bücher gelesen, ohne eines davon vor dem Ende aus der Hand legen zu können. Auf meine Hände pustend, die vor Kälte und Sauerstoffmangel lila angelaufen waren, gab ich ihm ein Autogramm. Und in mein eigenes Notizbuch schrieb ich noch am selben Abend: »Wer kann schon von sich behaupten, einen glühenden Fan im Himalaja getroffen zu haben?«