Ihr erstes Buch spielte in einer futurischen Dystopie, ihr zweites ging um eine Familie mit Superkräften. Wie kommt es, dass »Einfach gehen« nun ein so realistischer Roman ist?
Ich finde ihn gar nicht realistischer als meine anderen Bücher. Sterbehilfe ist noch keine Realität – zumindest noch nicht hier in Australien. Ich wollte eine sehr wahrscheinliche Zukunftsvariante näher unter die Lupe nehmen. Ich bin genauso vorgegangen, wie schon bei meinen anderen Romanen: Ich habe mir etwas Seltsames, etwas Befremdliches rausgesucht und mir überlegt, was passieren müsste, damit es zu etwas ganz Normalem wird. Genau dann werden Geschichten am interessantesten – wenn man sich in Figuren hineinversetzt, für die etwas Sonderbares ganz normal ist. Ich habe also eine Welt erfunden, in der Sterbehilfe durch die Maßnahme 961 legalisiert wurde. Dieser Welt habe ich dann noch eine Gruppe hinzugefügt, die sich im Untergrund um all jene Fälle kümmert, die von der Maßnahme nicht aufgefangen werden. Fiktion ist immer spekulativ, egal ob es um einen Nomaden geht, der sich durch apokalyptische Feuer und Fluten kämpft, um einen Hausmann, der fliegen kann oder eben um den Typen, der seinen Patienten eine tödliche Dosis Nembutal überreicht. Ich wollte wissen, welchen Herausforderungen sich diese Person stellen muss, und welche Risiken sie eingeht, um zu bekommen, was sie will. Das ist die Realität.
Es gibt Romane über Menschen, die bei einem Tod assistieren, aber keine über einen »Sterbeassistenten«. Wie sind Sie auf Evan gekommen?
Evan ist aus meiner Arbeit als Palliativpfleger heraus entstanden. Allerdings begleite ich meine Pateinten nicht so regelmäßig und strukturiert in den Tod wie Evan. Ich besuche Menschen, die sehr krank sind und unterstütze sie auf jede mögliche Art – klinisch, psychologisch und sozial. Ich empfinde es als Privileg, dass mich meine Patienten in dieser schweren Zeit in ihr Leben lassen und ich ihnen helfen darf. Immer mal wieder werde ich gefragt, ob ich nicht etwas tun könne, um den Prozess zu beschleunigen. Die gesetzliche Antwort darauf lautet »Nein«, worauf dann Diskussion über die Gründe folgen, die den Patienten zu dieser Frage bewogen haben, und wie wir seine Situation verbessern können. Und dann gibt es noch zwei andere Antworten, die ich aber nicht laut aussprechen darf. Die erste ist, dass ich mir um seinetwillen wünsche, es gebe ein entsprechendes Gesetz, das seinen Tod beschleunigt. Ich glaub, dieses Gesetz wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die zweite Antwort lautet, dass ich um meinetwillen froh bin, dass ich nichts tun kann. Obwohl ich Sterbehilfe unterstütze und ich in einem Bereich arbeite, in dem ich damit konfrontiert werden würde, würde ich den Job nicht machen wollen. Ich habe mich gefragt, wer der Richtige für diesen Job wäre. So ist Evan entstanden. Durch ihn wollte ich diese Zukunft kennenlernen, mitsamt all ihren Komplikationen.
Nicht nur Evans Job ist kompliziert, sondern auch sein Leben. Seine Mutter, für jeden Spaß zu haben, hat eine schlechte gesundheitliche Prognose. Sein Beziehungsleben wird von einem Pärchen durcheinandergebracht, das immer mehr Aufmerksamkeit von ihm fordert. Warum?
Weil das Leben nun mal kompliziert ist. »Sterbeassistent« ist einfach Evans Job. So sehr er ihn auch fordert, seine Beziehung fordert ihn mehr. So sehr ich über das Thema Sterbehilfe schreiben wollte, ich wollte kein Glaubensbekenntnis schreiben. Ich schreibe nicht, weil ich Antworten habe, ich schreibe, weil ich Fragen habe. Fiktion macht das möglich. Evan muss ein ganzer Mensch sein, seine Geschichte muss voll und ganz die seine sein, inklusive der eigenwilligen Mutter und seinen zwei Freunden. Wenn all diese Menschen nicht Teil seines Lebens wären, wäre das Buch einfach eine Doku.
Hatte ihre Arbeit als Pfleger noch andere Auswirkungen auf Ihr Schreiben?
Unzählige. In meiner Arbeit werde ich mit so ziemlich allen Bereichen des menschlichen Lebens konfrontiert. Ich passe sehr auf, dass ich keine Patientendetails in meinen Geschichten verwende. Jede Schicht erinnert mich daran, dass mein Leben und meine Sorgen eben nur die meinen sind. Es gibt genauso viele verschiedene Perspektiven, wie es Menschen gibt. Wenn man als Schriftsteller dann einsam vor seinem Laptop sitzt, tut man gut daran, sich das in Erinnerung zu rufen. Davon mal abgesehen glaube ich aber auch, dass sich mein Schreiben auf meine Arbeit als Pfleger auswirkt. Die Jobs sind gar nicht so unterschiedlich. Beide sind eigentlich Extremsport-Varianten von Empathie. In beiden muss man genau beobachten und die richtigen Worte finden.
Das Buch ist unerwartet lustig. Wie kommt das?
Humor macht die Arbeit in der Pflege viel erträglicher, daher wusste ich, dass der Roman, mit all seinen Toden, sich durch eine gute Portion Humor leichter lesen lässt. Die Achterbahnfahrt, die unsere Körper – und das medizinische System – uns zumuten, verlangt nach Komik. Damit meine ich nicht, sich über eine Bananenschale im Krankenhausflur zu amüsieren. Ich meine die respektvolle, fast schon philosophische Akzeptanz des Umstandes, dass der Versuch, das eigene Leben zu kontrollieren, vollkommen absurd ist. Humor ist ein Abwehrmechanismus, aber er ist auch ein Überlebensmechanismus. Wenn ich nicht immer mal wieder über alles lachen könnte, könnte ich den Job als Palliativpfleger nicht machen, und garantiert hätte ich Einfach gehen nicht schreiben können.
Dieses Interview erschien erstmals am 03.11.2016 auf nudge-book.com.