Ich hatte meinen Roman über einen Sterbehelfer, also über eine jener Personen, die die nötige Dosis Nembutal übergeben, praktisch abgeschlossen, als ich eine schicksalhafte Unterhaltung mit einem alten Freund führte.
Russ war schon sehr lange krank gewesen, als er mich fragte, ob ich ihn in die Schweiz zu Dignitas, einer Non-Profit-Organisation, welche Freitodbegleitungen anbietet, begleiten würde – um ihm beim Sterben beizustehen. Wörtlich sagte er: »Das wird dir für dein Buch nützen.«
Ich bin Palliativpfleger und somit durchaus für einen angenehmen, schmerzfreien Tod. Meine Pflegetätigkeit war auch der Grund, weshalb ich das Buch schrieb – um herauszufinden, wie ein Sterbehelfer das Leben meistert, und warum er diese Arbeit tut. Doch Russ ging es nicht um Kreatives Schreiben. Nach drei Jahren, in denen ich solche Szenen für mein Buch verwendet hatte, musste ich plötzlich Farbe bekennen.
»Na komm schon«, sagte er, »darüber musst du schreiben, und außerdem brauche ich eine Pflegehilfe für meinen Schlussakt.«
Und so sagte ich zu, auch, weil ich mir zutraute, meine Gefühle mit meinem Wunsch, zu helfen, in Einklang zu bringen.
Vor knapp dreißig Jahren hatten Russ und ich in Brooklyn für kurze Zeit eine Wohnung geteilt. Er studierte isländische Mythologie, hangelte sich von Stipendium zu Stipendium und lebte vorwiegend in Bibliotheken oder in Reykjavík. Als er ein paar Jahre später die Diagnose Multiple Sklerose bekam, verließ er die alten Welten zugunsten einer besseren Gesundheitsversicherung und wurde wissenschaftlicher Redaktor. Er schlug sich durch, erst mit angepassten Tastaturen und reduzierten Arbeitszeiten und schlussendlich mit Geländern und Rampen, bis es einfach nicht mehr ging. Mit vierzig Jahren in die Rente versetzt, schrumpfte seine Welt auf ein paar verstreute Freundschaften und sein Wohnstudio in Queens.
Letztes Jahr beraubte ihn eine Reihe von Schüben – Russ nannte sie Abrissbirnen – praktisch aller Körperfunktionen, bis auf jene der linken Hand. Da er nicht mehr eigenständig vom Bett in den Rollstuhl kam, geschweige denn Mahlzeiten zubereiten konnte, war er auf fremde Unterstützung angewiesen, zulasten eines stetig schrumpfenden Kontostandes. Ihm zur Seite stand eine endlose Abfolge von ungelernten und unterbezahlten Hilfskräften, welche ihn herumbugsierten, vollquatschten und dann hängenließen. Um sich ein bisschen Ruhe und Privatsphäre zu bewahren, begrenzte er diese Hilfe auf wenige Stunden am Tag.
Ich lebte damals in Melbourne und konnte ihm nur Anrufe mitten in der Nacht anbieten. »Das ist schon mal nicht schlecht«, meinte er. Wenn er die nächste Hilfskraft so sehr benötigte wie fürchtete, wenn er nicht an sein Wasserglas am anderen Ende des Tisches herankam, oder wenn seine Gedanken ihn triezten, dann redeten wir. Ein engmaschigerer Kreis von Familie und Freunden oder ein besseres Gesundheitssystem hätten geholfen, waren aber keine Option. Er war in seinem Bett gefangen, einsam und heulend. »Es war abzusehen, dass ich in diesem Stadium nichts taugen würde, aber ich dachte nicht, dass es so bald sein würde.«
Letzten August schließlich sagte er mir, dass er noch vor Weihnachten tot sein wollte und dass ich der ideale Begleiter wäre. Durch meine Patienten hatte ich gelernt, ohne die übliche Panik über den Tod zu reden, was mir einige Pluspunkte einbrachte. Darüber ein Buch zu schreiben, hatte mir ein tiefes Verständnis für die entsprechenden Umstände gegeben. Und nachdem ich Terry Pratchetts Dokumentarfilm über Freitodbegleitung bei Dignitas gesehen hatte, kannte ich sogar die Ikea-mäßig schlichte Wohnung, wo alles stattfinden würde.
Für mich würde es eine Art Pflegeweiterbildung bedeuten. Recherche für mein Buch. Und ich könnte, wie Russ betonte, den Flug nach Zürich von der Steuer absetzen.
Der Antrag für Dignitas war sein letzter Schreibauftrag. Wochenlang schliff Russ an seiner eine Seite langen Erklärung, weshalb er sterben wollte. Eine Freundin half ihm, die benötigten Dokumente aufzutreiben und notariell beglaubigen zu lassen. Dokumente, die seine Identität, seine Prognose und seinen Geisteszustand bestätigten. Wir beide würden Russ begleiten, sodass keiner von uns alleine zurückfliegen müsste.
In der Zwischenzeit überarbeitete Russ sein Testament, verteilte seine Habseligkeiten und erklärte seiner zehnjährigen Nichte mit herzzerreißender Umsicht, weshalb er sterben wollte.
Das Schreiben mit den letzten Formalitäten kam im Dezember. Für mich war der Brief eine Art Pforte: Ich wusste nun, dass ich bereit war, ihm zu helfen. Für Russ bedeutete er etwas anderes: die Planerei hatte ein Ende. Er schien sich in seinen Umständen zu entspannen. Nicht, dass er sich damit versöhnte, aber wenn er vom letzten Patzer einer Hilfskraft erzählte, schwang weniger Wut mit, als vielmehr eine Art Hinnahme seines körperlichen Verfalls. Er sprach nicht mehr so oft und so eindringlich vom Sterben. Er rief nicht mehr so oft mitten in der Nacht an. Und wenn wir redeten, ging es mehr um meine Texte als um seine Panikattacken.
Dignitas verlangte zu viele Dokumente, sagte er dann. Und Zürich würde um diese Jahreszeit viel zu kalt sein. Oder: »Vielleich kneife ich im letzten Moment. Dafür ist die Reise viel zu weit.«
Es war, als ob er das Eingeständnis wollte, dass er schlechte Karten bekommen hatte. Doch mit der offiziellen Erlaubnis von Dignitas konnte er weiterspielen.
Dann kam im vergangenen Juni, also knapp ein Jahr, nachdem er seinen Wunsch zum ersten Mal ausgesprochen hatte, das Thema wieder auf. Er würde schon im Juli gehen. »Es macht mir keine Freude, aber ich sehe keinen anderen Weg.« Die Freundin, die sich um den Papierkram gekümmert hatte, würde ihn begleiten. Dazu ein anderer Freund, einer, der ihm nicht besonders nahe stand, aber nahe bei ihm wohnte.
Nicht ich.
»Du lebst zu weit weg«, sagte er nur, obwohl die Distanz in all der Zeit nie ein Thema gewesen war.
Ich nehme an, dass es im Isländischen ein langes Wort gibt, das den beispiellosen Peitschenhieb beschreibt, der einen trifft, wenn man sich seelisch gründlich darauf vorbereitet hat, einen Suizid zu begleiten, um dann plötzlich aus dem Unterfangen ausgeschlossen zu werden. Ging es wirklich nur um die Distanz? Ich versuchte gekränkt, mich an unsere letzten Unterhaltungen zu erinnern. Hatte ich zu viel schriftstellerische Neugier an den Tag gelegt? Zu viel pflegerischen Druck ausgeübt? Oder wollte er mich nur vor jenem Augenblick in der Dignitas-Wohnung beschützen, den sich keiner von uns so richtig vorstellen konnte?
Russ machte sich also auf die Reise. Er starb vor zwei Monaten. Als ich hörte, dass er in seinen letzten Stunden gelöst und entspannt war, grübelte ich nicht weiter über meine Abwesenheit nach. Es ging gar nicht um mich.
Mein Kummer war hauptsächlich ganz banaler Art – das Leben geht weiter, auch ohne ihn. Unsere gemeinsame Zeit liegt schon so lange zurück, dass es meinen Alltag nicht beeinflusste. Nur wenn ich an die Gespräche denke, die wir nicht mehr führen werden, spüre ich den Verlust. Doch manchmal wird es komplizierter. Meine Wut betrifft dann weniger seinen abrupten Tod als die lange Krankheit, die ihm keinen anderen Ausweg ließ. Suizid – ich gebrauche dieses Wort mangels eines besseren – erinnert uns daran, dass das Leben nicht nur endlich ist, sondern auch fakultativ. Doch was bringt uns diese Erkenntnis? Ich behaupte nicht, es zu wissen.
In der letzten Zeit tauchte ein neues Gefühl auf, das ein weiteres langes Wort in einer fremden Sprache benötigen würde. Es würde das ganze letzte Jahr mit Russ artikulieren: die Abrissbirnen, den Plan, den neuen Plan, seinen Tod und dessen Nachwirkungen. Dieses Wort würde drei Dinge zugleich bedeuten und es würde uns beide betreffen: eine fest verschlossene Tür, eine gewährte Gnade und eine vermiedene Kugel.
Nun denn, Russ: Ich habe darüber geschrieben.
Erschienen am 29.08.2016 im Guardian. Aus dem Englischen von Anne-Catherine Eigner.