Infobae: Sie haben einmal erwähnt, dass die zentrale Herausforderung beim Schreiben dieses Romans für Sie darin bestand, die passende Stimme für die Ich-Erzählerin zu finden, ein junges chinesisches Mädchen, das in Buenos Aires gelebt hat.
Federico Jeanmaire: Man kann es als Herausforderung bezeichnen, aber ich spreche lieber von Risiko. Das Risiko bestand in diesem Fall in der Sprache, die die Hauptfigur verwendet. Zum Thema »Kunstsprachen« habe ich eine Menge ästhetischer Ideen, die teils von meiner großen Begeisterung für Cervantes' Don Quijote herrühren, aber auch in einer engen Beziehung zu einem für mich sehr wichtigen Thema stehen: der Frage der Identität. Die Sprache ist das große Gefäß für die Identität, egal welcher Kultur. Die Folge der gegenwärtigen weltweiten Migrationsbewegungen ist eine der kompliziertesten Fragen unserer Tage. Wie wird sich die Welt insgesamt, aber auch jeder Einzelne dazu verhalten, welche ethische und moralische Antwort werden wir auf das, was jetzt auf der Welt geschieht, finden. Mir scheint, die Identität ist das große Thema des 21. Jahrhunderts, so wie die Frau das große Thema des 20. Jahrhunderts war. Angesichts der allgegenwärtigen Migration – oder einfach angesichts all der Dinge, die man heutzutage auf seinem Schreibtisch oder in seiner Wohnung vorfindet -, ist es schwierig, das, was man als Nationalität bezeichnet, oder überhaupt gemeinsame kulturelle Vorstellungen oder Traditionen, aufrechtzuerhalten. In der Sprache wird das allmählich sichtbar.
Schafft die Sprache Identität?
Die Sprache ist der wichtigste Baustein unserer Identität. Anhand der Art, wie Völker mit ihren Worten umgehen, kann man ganze kulturelle Landkarten anfertigen - dass man im Spanischen beispielsweise zur Unterscheidung des Geschlechts die beiden grammatikalisch völlig verschiedenen Wörter »Stier« und »Kuh« verwendet, anders als bei den übrigen Tieren, ist kein Zufall. All das steckt in der Sprache, die ganze Kultur ist in der Sprache enthalten. Kunstsprachen wiederum rufen einerseits beim Leser bestimmte Fantasievorstellungen hervor – obwohl es eigentlich um etwas Wirkliches geht –, andererseits sagen sie ihm aber auch etwas über seine Identität. Eine der wichtigsten Möglichkeiten, etwas über uns selbst zu erfahren, ist die Wahrnehmung durch den anderen. Ästhetische Ideen solcher Art haben mich dazu gebracht, diesen Roman genau so und nicht anders zu schreiben. Das war gewiss ein Risiko, aber ich finde, man schreibt Romane, um etwas zu riskieren. Andernfalls hieße das ja, dass bereits alles behandelt und erledigt ist.
Das Thema der Kunstsprachen spielte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rolle, damals im Zusammenhang mit den europäischen Einwanderern. Das sogenannte Cocoliche war eine solche Sprache, und es wurde besonders im damals sehr wichtigen satirisch-burlesken Theater verwendet. Auch bei Enrique Santos Discépolo, der viele berühmte Tangotexte und Theaterstücke verfasste, kommt es vor, allerdings durchaus auch negativ konnotiert – das Cocoliche stand dort gewissermaßen für all das, was »wir« nicht waren. Das Cocoliche wurde zunächst benutzt, um sich über andere lustig zu machen, über Leute, die schlecht Spanisch sprachen. Heute sind viele Begriffe in die Alltagssprache übergegangen. In fünfzig Jahren sind manche chinesische Ausdrücke oder Modewörter bestimmt Teil unserer Hochsprache. Die Migration zieht seit jeher Veränderungen nach sich, und die Sprache spiegelt das wieder.
Ein anderes wichtiges Thema des Romans ist das Problem von Gerechtigkeit und Rache.
Dafür biete ich in Hohe Absätze keine Lösung an. Hätte ich eine, hätte ich nicht darüber geschrieben. Ich belasse es dabei, es als menschliche Frage zu präsentieren. Ich finde es jedes Mal wieder faszinierend, wenn scheinbar ruhige, gelassene Menschen sich verwandeln, sobald jemandem aus ihrer Familie etwas Schlimmes zustößt und sie plötzlich vor laufender Kamera verkünden, alle Verantwortlichen seien umzubringen. In solch entscheidenden Momenten unseres Lebens scheinen wir zu allem Möglichen fähig zu sein, ja, wir verwandeln uns geradezu in wilde Tiere. Im Grunde sind wir ja Tiere, die Dinge lernen, sich mehr oder weniger anständig benehmen und Kleider tragen. Aber in Grenzsituationen kommt das Tier in uns, wie von Freud beschrieben, hervor und trifft die überraschendsten Entscheidungen. Ich erinnere mich an ein Interview mit dem argentinischen Diktator Videla, in dem er erklärte: »Die Verschwundenen sind weder tot noch lebendig, sie sind verschwunden, sie sind nicht da.« Ich glaube, bei diesen Worten befällt einen ein Verlangen nach Rache, das größer ist, als die Sache, um die es geht – dass sich jemand über etwas so Schreckliches lustig macht, sich mit solcher Ironie dazu äußert, kann dazu führen, dass das Tier in uns schlagartig erwacht. Ich wollte mich mit einem dieser Augenblicke beschäftigen, in denen wir das Tier in uns nicht mehr im Zaum halten können. Ich bin mir im Klaren darüber, wie wenig rational wir uns im Alltag verhalten und wie selten wir uns in unserem Handeln von Überlegungen und bewussten Entscheidungen leiten lassen. Meistens leben und handeln wir ganz automatisch, ohne nachzudenken, und das wollte ich am Beispiel einer Fünfzehnjährigen zeigen.
Sie beschreiben ein Initiationsritual, auf das auch der Titel des Romans anspielt – die hohen Absätze.
In der Generation meiner Mutter war es normal, dass ein Mädchen an ihrem fünfzehnten Geburtstag Schuhe mit hohen Absätzen bekam. Dazu kamen dann noch bestimmte Kleidung und Schminke. Damit wurde sie vom Mädchen zur jungen Frau, obwohl sie das eigentlich noch gar nicht war.
Beim Lesen des Romans sah ich immer wieder das bekannte Foto eines Chinesen vor mir, dessen Supermarkt bei den Unruhen von 2001 geplündert worden war. Ging Ihnen das auch so?
Nein. Später habe ich mich auch an dieses Foto erinnert, aber da hatte ich den Roman schon beendet. Ich denke, dieses Foto eignete sich zur Verbreitung in den Medien, weil der Chinese nicht gestorben war, er hatte bloß seine Waren verloren. Damit konnte man sich leicht identifizieren. Der Fall, von dem ich erzähle, hat sich zwar ebenfalls tatsächlich zugetragen, im Dezember 2013, aber in den Medien wurde darüber so gut wie nicht berichtet, er war viel zu dramatisch. Der chinesische Supermarktbesitzer starb, doch aus politischen oder medienstrategischen Gründen wird offenbar über Todesfälle, die sich im Großraum Buenos Aires zutragen, nicht berichtet. Wenn sich die Lage im Großraum Buenos Aires zuspitzt hat das Auswirkungen auf ganz Argentinien. Es gab nur zwei Berichte über diesen Fall, die sich teilweise widersprachen. Im einen hieß es, der Chinese habe seine Waren nicht hergeben wollen und es vorgezogen, zu sterben, im anderen, er sei nicht rechtzeitig aus dem brennenden Gebäude gekommen, weil alles vergittert war. Dieser Widerspruch wurde zu einem wichtigen Element des Romans. Ich fand es reizvoll, mich in das Bewusstsein eines Menschen zu versetzen, der eine so schwerwiegende Entscheidung zu treffen hat.
Das Interview führte Matías Méndez. Erschienen auf infobae.com am 21.05.2016. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.