Mein Roman hat die Struktur eines Kriminalromans, aber im Grunde dreht er sich um die Frage, was ein Individuum ausmacht. Ich kam darauf, weil es seit Jahrzehnten in der organisierten Kriminalität weit verbreitet ist, Zwillinge als Killer zu engagieren. Es wirkt wie ein schlechter Witz, aber wenn ein Mörder einen identischen Bruder hat, werden die Ermittlung und der Prozess sehr kompliziert und es fällt leicht, die Augenzeugen unglaubwürdig zu machen. Im Übrigen, nur als Fußnote: Dies ist vielleicht auch ein autobiografischer Roman, denn auch ich habe einen identischen Zwilling, bin im Norden des Landes aufgewachsen, studierte 14 Jahre in einer Jesuitenschule, und meine Mutter war Richterin.
Von Kindsbeinen an war ich mit meiner Zwillingsexistenz konfrontiert. Die Leute fragten mich: Wie fühlt sich das an? Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Also habe ich mich in die Literatur vertieft, die das Phänomen untersucht. Das ist ein weites Feld! Es hat Meisterwerke hervorgebracht: Menaechmi, die lateinische Komödie von Plautus. Die Komödie der Irrungen von Shakespeare. Esau and Jacob von Joaquim Maria Machado de Assis. Der Beweis (Claus und Lucas) von Agota Kristof. Zwillingssterne von Alain Tournier. Um nur einige zu nennen. Aber natürlich hat dieses Doppelwesen auch massenhaft zu mittelmäßigem Missbrauch geführt, weil es ein einfacher Trick ist, um Missverständnisse und Überraschungseffekte zu erzeugen.
Aber das Doppelgängerleben von Zwillingen ist mehr als nur ein Spiegeltrick. Die Koexistenz zwischen Zwillingen ist ein Puzzle, das uns in die geheimen Bereiche des Individuums führt. Immerhin: Ich kenne keinen Roman darüber, dessen Autor einen Zwillingsbruder hat. Nun liegt er auf dem Tisch. Er ist in Jahren gewachsen - meine Antwort auf die Frage: Wie fühlt es sich an, einen Zwilling zu haben?
Ich habe schon erwähnt, dass meine Mutter Richterin war. In gewisser Weise führe ich in diesem Roman die verbotenen Spiele meiner Kindheit fort: Wenn ich bei ihr auf dem Gericht war, las ich in den Akten, während sie arbeitete, was natürlich nicht gestattet war. Ich staunte über die widersprüchlichen Schilderungen der Tatsachen. So habe ich gelernt, was das geschriebene Worte zustandebringen kann. Wie einer, der Rashomon, die berühmte Geschichte von Akutagawa liest, fragte ich mich: Was ist hier eigentlich geschehen? Etwas ereignet sich, und gleich ist es wieder ungeschehen gemacht. Ich stelle mir vor, dass unzählige Prozesse gewonnen oder verloren wurden, nur weil auf der einen oder der anderen Seite talentierte Geschichtenerzähler auftraten, die mit einer einleuchtenden Erklärung den Richter überzeugten. »Wie es wirklich war« zählt weniger als ein gelungenes »So hätte es sein können«.
Aus einem Interview in Quatro Bastardos, 16.9.2016