Mitra Devi: Nach »Tatverdacht« und »Hafturlaub« ermitteln Jasmin Meyer und Pal Palushi erneut gemeinsam in einem Fall. In »Täuschung« verschlägt es die beiden nach Thailand. Hattest du das Buch schon in Zürich im Kopf oder ist es vor Ort entstanden?
Petra Ivanov: Mir war das Thema schon in Zürich klar, vor allem das Milieu, in dem die Geschichte spielen sollte: die Altersresidenzen, in denen ausgewanderte Schweizer leben. Ich suchte von hier aus Siedlungen, die von Schweizern geführt wurden, und überlegte mir, wohin will ich Jasmin Meyer schicken? Mit welchen Leuten soll sie sprechen? Darauf schrieb ich die Residenzen an und fragte, ob sie mir Bewohner vermitteln könnten, die bereit wären, zu erzählen.
Das Grundthema war also da, aber viel mehr noch nicht?
Ich wusste von Anfang an, dass Jasmin ihren Vater sucht, der in Thailand verschollen ist. Ich ging so vor, wie Jasmin vorgehen würde. Was würde ich tun, wenn ich meinen Vater in Thailand finden wollte? Vermutlich würde er sich im Kreise anderer Schweizer oder Deutscher aufhalten. Ich versetzte mich in Jasmins Lage und folgte dieser Spur. Der erste Teil des Buches entstand in Zürich, etwa drei Viertel schrieb ich in Thailand. Vieles hat sich erst während des Schreibens entwickelt.
Hattest du die Idee des in Thailand verschwundenen Vaters schon vorher oder tauchte sie in diesem Buch auf?
Ich habe in den früheren Büchern erwähnt, dass Jasmins Vater die Familie verließ, als sie noch klein war, aber nicht erklärt, was geschehen ist. Ich wusste bisher nie, wo er war.
Und warum gerade Thailand?
Der erste Fall »Tatverdacht« spielt in Kosovo. Nach dem zweiten Band »Hafturlaub«, der ganz in der Schweiz angesiedelt ist, hatte ich Lust, mit Jasmin wieder ins Ausland zu reisen. Bei den Meyer/Palushi-Büchern kann ich mich geografisch frei bewegen. Bei der Flint/Cavalli-Reihe geht das weniger gut. Ich fragte mich, in welchem Land viele Schweizer leben. So stieß ich auf Thailand und spürte: dort versteckt sich ein Thema. Zu dieser Zeit gab es gerade etliche Sendungen und Reportagen über ausgewanderte Rentner, à la »Oma lebt in Thailand«. Es sah alles so toll aus, ich wollte wissen, ob es auch wirklich so war.
Du hast also nicht überlegt: Wohin möchte ich gern reisen, und hast dort deine Geschichte angesiedelt, sondern das Thema hat dich nach Asien gezogen?
Es gibt Länder, die mich gar nicht reizen. Aber wenn mir eine Idee für ein Buch kommt, finde ich sie plötzlich die spannendsten Flecke auf der Welt. Umgekehrt faszinieren mich bestimmte Orte sehr, doch wenn ich dort kein Thema für einen Roman sehe, gehe ich (für Recherchezwecke) nicht hin.
Was ist für dich das Besondere an »Täuschung«?
Dass es auch ein Familienroman ist. So etwas hab ich noch nie gemacht. Es kommen zwar in all meinen Büchern Figuren mit persönlichen Bezügen zur Geschichte vor. Doch bei »Täuschung« musste ich mich manchmal richtiggehend daran erinnern, den Krimi wieder in den Vordergrund zu rücken. Also hab ich politische Verwicklungen und eine Verschwörung ins Spiel gebracht!
Hat sich deine Planung im Kopf durch die thailändische Realität verändert?
Ab und zu schon. Ich schaute mir früh schon Plätze in Hua Hin auf Google Earth an und schrieb die erste Thailand-Szene noch in der Schweiz. Als ich später tatsächlich dort war und das tat, was Jasmin in meinem Buch tut, merkte ich, dass ich mir einiges anders vorgestellt hatte. Ich hatte zum Teil keine Ahnung von den Dimensionen. Eine Online-Recherche gibt keinen Eindruck, wie es riecht, wenn so viele Autos an einem vorbeirasen, man weiss nicht, kann diese Strasse zu Fuss überquert werden, existieren dort überhaupt Fussgängerstreifen? Ich habe Thailand durch Jasmins Augen neu entdeckt.
Kannst du mir ein Beispiel geben?
Da gibt es beispielsweise diese Stundenmotels, die nummeriert sind, damit man sie erkennt. Etwa »Motel 77«, nicht einfach »Motel«. Das weiss Jasmin natürlich nicht, wie ich es ja auch nicht wusste. Diese Details spielten aber eine Rolle, weil Jasmin Meyer und Pal Palushi im Rotlichtmilieu unterwegs sind.
Wie hast du thailändische Klischees vermieden?
Das Buch ist ja nicht aus Thai-Perspektive geschrieben. Jasmin, die Schweizerin, denkt tatsächlich oft in Klischees. Ich hatte manchmal keine Möglichkeit, das zu korrigieren. Es gibt eine Szene, in der sie ein Gespräch mit einem Polizisten führt. Dieser ist sehr zurückhaltend, aber Jasmin kann sein Verhalten nicht richtig deuten. Sie ärgert sich, dass er immer lächelt. Zum Glück kann Pal ihr erklären, was vielleicht dahinter steckt. Er ist kulturell versierter.
Das Vorurteil der »stets lächelnden Thailänder« stimmt also?
Ich finde, Klischees treffen manchmal zu, menschliches Verhalten ist aber viel komplizierter. Thais lächeln zwar häufig, das heißt aber nicht, dass sie immer glücklich sind. Das thailändische Lächeln ist eine Sprache für sich. Doch die spreche ich nicht und versuche auch nicht, diesen Eindruck zu erwecken.
Nebst der Sprache – wie entscheidend ist es für dich, dass die Facts in deinen Krimis stimmen?
Das ist mir sehr wichtig. Entweder stimmt etwas, oder ich schreibe es nicht. Oder ich erfinde etwas ganz neu. Ich beschreibe zum Beispiel nicht ein Restaurant, das es gibt, falsch. Aber ich würde eines erfinden.
Keine literarischen Freiheiten?
Literarische Erweiterungen gerne. Wenn ich im Ausland bin, entdecke ich Orte, die ich vorher nicht kannte, und die werden plötzlich zu Hauptschauplätzen. Sie sind weit entfernt von jenen Beschreibungen über Tempel, Strände und Sehenswürdigkeiten, die man in Reiseführern findet. Im Internet habe ich beispielsweise über das Shopping Center MBK gelesen und Fotos davon gesehen, aber die Realität war unglaublich viel reichhaltiger. Jeden Mittwochabend finden dort Thaibox-Kämpfe statt. Überall hat es Stände mit Essen, es duftet, ist bunt, laut, dicht, die Thais schauen sich dort die Kämpfe an. Die Wettkämpfe im viel bekannteren Lumpinee-Stadium sind für die meisten unerschwinglich. Als ich das realisierte, war mir klar, Jasmin geht ins MBK, nicht ins Lumpinee-Stadium. Das passt viel besser zu ihr.
»Täuschung« ist Teil einer Serie. Müssen Leserinnen und Leser die Bücher der Meyer/Palushi-Reihe in der richtigen Reihenfolge lesen, um die Zusammenhänge zu verstehen?
Ich baue eine gewisse Chronologie auf, aber die Bücher können gut einzeln oder rückwärts gelesen werden.
Wann spürst du, dass ein Buch fertig ist?
Normalerweise, wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Aber bei »Täuschung« war es anders. Als ich das Manuskript ablieferte, sagte mein Verleger: Schreib doch noch ein Kapitel. Das ist mir vorher noch nie passiert. Die vorletzte Szene war in meiner Urfassung sehr kurz. Jasmin kehrt von Thailand nach Hause zurück, Ende. Er brachte mich dazu, Jasmins Konfrontation mit ihrer Familie, die ich in zwei, drei Sätzen zusammenfasste, ein ganzes Kapitel zu widmen. Das hat sich sehr gelohnt.
Nebst deiner Figur Jasmin Meyer spielt ihr Partner Pal Palushi eine ebenso wichtige Rolle. Er stammt aus Kosovo. Warum?
Weil ich mich als Schweizer Autorin verstehe und finde, Kosovaren sind heute ein Teil der Schweiz. Eine kosovarische Hauptfigur wird oft als exotisch und ausländisch angesehen. Obwohl so viele Menschen aus Kosovo in unserem Land leben, sind sie literarisch zu wenig vertreten.
Wie würdest du die Beziehung zwischen Jasmin Meyer und Pal Palushi beschreiben?
Als ständiges Auf und Ab. Sie kannten sich erst ein paar Wochen, als Jasmin in die Gewalt eines Serienkillers geriet, was sie zutiefst traumatisierte. Die Beziehung kippte von der Verliebtheitsphase direkt in den Absturz, da war nie eine tragende Basis. Pal war bis jetzt immer der Unterstützende. Ich frage mich, wie es wäre, wenn er selbst Hilfe annehmen müsste. Es kann sein, dass es einmal so weit kommt.
Jasmin Meyer kommt auch in den Flint/Cavalli-Büchern vor. Nach »Tiefe Narben« hast du sie als gebrochene Person aus jener Krimiserie entlassen und mit ihr eine eigene Reihe gestartet. Langsam erholt sie sich von der erlittenen Gewalterfahrung. Wirst du ihr in den kommenden Büchern ebenso viel zumuten?
Ich habe ihr gar nichts zugemutet, als ich die Meyer/Palushi-Serie begann, war sie schon gebrochen. Vielleicht findet im nächsten Buch ein Neuanfang statt. Jasmin wird sich beruflich umorientieren, bis jetzt hatte sie nur irgendwelche Gelegenheitsjobs. Vermutlich wird die Geschichte für sie auch nicht so persönlich werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass im nächsten Buch Pal zur Hauptfigur wird. Bis jetzt hat Jasmin viel Raum beansprucht, er war einfach immer für sie da, doch es gäbe in seinem Leben ebensoviel Spannendes. Komischerweise dachte ich immer, sein Vater werde einmal ein Thema sein. Im ersten Buch hat Jasmin etwas über ihn herausgefunden, das Pal nicht weiss. Aber ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit, es einzubauen. Während des Schreibens an »Täuschung« musste ich immer wieder schmunzeln, weil ich dachte: Oh, Pal, wenn du wüsstest, was mit deinem Vater los ist!
Hast du schon eine Ahnung, worum es im nächsten Meyer/Palushi-Fall geht?
Ja ... ich habe eine Idee...
Ist das alles? Das heisst, ich werde nicht mehr erfahren?
Richtig!
Mitra Devi ist Autorin und Filmemacherin. Unter anderem verfasste sie die Krimi-Reihe um Nora Tabani.