Liebe Rumjana, Du beschreibst dich als eine »nichtmuttersprachliche Deutschautorin bulgarischer Herkunft«. 1970 bist Du in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt und zwar nach Bonn, wo Du Anglistik und Slawistik studiert hast und heute noch lebst. Warum hast Du dich damals für Bonn entschieden und was hält dich heute noch in dieser Stadt?
Mich hat die Liebe entschieden (lächelt). Ich habe mit fünfzehn meinen zukünftigen deutschen Mann und Vater meiner zwei Töchter am Schwarzen Meer zufällig kennengelernt. Wir haben uns bis zu meinem Abitur im Englischsprachigen Gymnasium Liebesbriefe geschrieben. Dann kam er 1970 in meine Donaustadt Rousse (ehem. Rustschuk, »die Stadt der geretteten Zunge« des Schriftstellers Elias Canetti) und wir heirateten. Dank der Tatsache, dass die bulgarische Miliz fünf Jahre lang unsere Briefe aufgemacht hatte, wusste man dort, dass wir keine Bedrohung für den sozialistischen Staat darstellten und ich durfte nach Bonn zu meinem Mann. Wie Du siehst, ich war keine Heldin, nie eine gewesen!
Und wie kamst Du zur Literatur? Gab es in deiner frühen Jugend Anzeichen dafür, dass Du dich später einmal schriftstellerisch betätigen würdest? Und glaubst Du jetzt im Nachhinein, dass es deine Berufung ist?
Ich schrieb mein erstes Gedicht als Hausaufgabe unseres Dorflehrers. Bis zum 13. Lebensjahr lebte ich bei meiner Großmutter mütterlicherseits im Dorf. Mit elf brachte mich meine Mutter – Sportlehrerin wie mein Vater – in die Stadt zum Verantwortlichen für Literatur: Georgi Tschernjakov. Er stellte mich mit dreizehn Jahren dem großen Literaturkritiker Ljuben Georgiev vor, der mich vier Monate später in der überregionalen Zeitung »Septemvrijtsche« (»Der junge Pionier«) und in der Zeitschrift »Pionerski rakovoditel« (»Der Pionier-Leiter«) mit Gedichten groß vorstellte. Daraufhin bekam ich 140 Briefe von Schülern, Lehrern und Eltern aus ganz Bulgarien. So wurde ich zur Schriftstellerin »berufen«. Mit sechzehn dann publizierte ich in »Rodna rech« (»Muttersprache«) mit dem Redakteur Iwan Zwetkov. Da lud mich der Schriftstellerverband in die Hauptstadt Sofia zu einer Sitzung und Besprechung ein. Das sei »das erste Mal in der Geschichte des Verbandes« gewesen, sagte mir mein Entdecker G. Tschernjakov später. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich war das apolitischste Wesen auf Erden. Ich war aufgeregt und stolz darauf, dass im Raum der damalige Vorsitzende des Bulgarischen Schriftstellerverbandes Georgi Dshagarov mit den Literaturkritikern Tschavdar Dobrev, Iwan Tzwetkov, Mischev und Ljuben Georgiev saßen und über meine Gedichte sprachen. Sie lobten die Gedichte. Dabei bestanden alle Herren darauf, dass ich, »dem eigenen Alter entsprechend« und nach dem Motto »Schusterin, bleib bei deinen Leisten«, eigentlich nur Liebesgedichte schreiben solle. »Alles andere« sollte mich »nicht interessieren«. Ich war ratlos. Mit 18 trat ich live im bulgarischen Fernsehen auf und las mein Gedicht »Bären« vor, in dem es hieß, dass die dressierten Bären bis an ihr Lebensende »unter der Peitsche des Dompteurs tanzen werden«, so lange »die Freiheit ein Stückchen Zucker« sei. Es war im Frühjahr 1968. Zwölf Jahre später, ich war schon in Deutschland, erfuhr ich, dass der zuständige Redakteur nach dieser Sendung seinen Arbeitsplatz verloren habe.
Auch heute gibt es stattliche Zensur und Repressionen gegen Redakteure und Journalisten. In der heutigen Türkei hättest Du dein Gedicht erst gar nicht im Staatsfernsehn vortragen können. Was wärst Du geworden, wenn Du keine Autorin und Übersetzerin geworden wärst?
Ärztin. Heute glaube ich an eine Medizin, die sowohl die schulmedizinische als auch die alternative, d.h. Naturheilverfahren, zum Wohle der Patienten vereint. Seit 25 Jahren faste ich 1-2 Mal im Jahr je 3-4 Wochen lang nach Dr. Buchinger oder mit Früchten nach Dr. Emilova. Ich brauche einen klaren, entschlackten Kopf beim Schreiben und Übersetzen. Heute mit 63 ist mein Gedächtnis besser als mit 36. Als echte freie Schriftstellerin schrieb ich anfangs für die Ewigkeit. Heute schreibe ich für die Miete. Ich werde eines Tages meinen zwei Töchtern Swetlana und Darina keinen Reichtum hinterlassen können, jedoch das Wissen und Praktizieren des Fastens.
Als Du nach Deutschland kamst, sprachst Du kein Deutsch, und nur fünf Jahre später wurde Deutsch zu deiner Schreibsprache. Was war der Grund, der dich dazu bewegte, von der einen (bulgarischen) Sprache in die andere (deutsche) zu wechseln? War es eine bewusste Entscheidung oder kam es ungeplant, ganz von alleine?
Ich war ins Meer der Fremdsprache »Deutsch« ohne schwimmen und tauchen zu können hinein gesprungen. Ich konnte meine Muttersprache Bulgarisch, Englisch und Russisch, aber kein Deutsch, als ich 1970 mit zwanzig in Deutschland landete, »im Land der verlorenen Muttersprachen«, wie es in einem meiner Gedichte hieß. Ich suchte meine (poetische) Sprache in völliger sprachlicher Isolation.
Was vermisst Du, was Du als typisch bulgarisch bezeichnen würdest, wenn Du in Deutschland bist? Und umgekehrt, was vermisst Du an Deutschland, wenn Du in Bulgarien bist?
In Deutschland vermisse ich den Balkanschlendrian, meine Muttersprache Bulgarisch, meine toten Eltern, das Balkan-Gebirge, den Duft nach im Feuer gebackener Paprika. Wenn ich in Bulgarien bin, vermisse ich die deutsche Sprache, meine Enkelsöhne Leonis und Laurent (vier und acht), meine Töchter. Das Geregelte im Alltag, in der Gemeinde und im Gesundheitswesen, meine Arbeit für den WDR, die Lesungen.
Du bist auch literarische Übersetzerin. Suchst Du dir deine literarischen Texte selbst aus oder sind es gänzlich Auftragsarbeiten, die Du annimmst?
Bis ich freie Schriftstellerin und Rundfunkautorin wurde, habe ich am meisten Gedichte übersetzt, kostenlos und unverbindlich. In den letzten Jahren übernehme ich ausschließlich literarische Auftragsübersetzungen, die ich jedoch selbst ausgesucht und den Auftraggebern vorgeschlagen habe. Wie z.B. der Roman »Ja« N. Tabakovs, der eine Coprodukltion der Wellhöfer und Andiamo Verlage war, in Zusammenarbeit mit der Stadt Mannheim im Jahre 2012.
Im Frühjahr 2014 erschien auf Bulgarisch in meiner Übersetzung mein Lieblingsroman, Johano Strassers »Die schönste Zeit des Lebens« (Langen/Müller) in der führenden literarischen Zeitschrift »Sawremennik« (»Zeitgenosse«), Sofia. Die Arbeit daran betrachte ich als die gründliche Vorbereitung für die Wiedergabe und für das Neuschreiben meiner bis jetzt nur auf Deutsch geschriebenen Romane.
Deine drei Romane »7 Kilo Zeit«, »Bärenfell« und »Transitvisum fürs Leben« beinhalten starke autobiographische Züge. Würdest Du diese Romane als deine persönliche Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit Bulgariens bezeichnen?
Ja, das trifft auf den Roman meiner bulgarischen Kindheit »7 Kilo Zeit«, Ende der 50er und Mitte der 60er Jahre auf jeden Fall zu. Wir Grundschulkinder mussten sieben Kilogramm Kamille in den Sommerferien pflücken, zweiundzwanzig Bücher Pflichtlektüre bewältigen, jeden Tag die Schönschrift üben und die »Sommerliste der unbekannten Wörter« ohne Zuhilfenahme des Wörterbuchs schreiben. Meine Protagonistin die kleine Mila nimmt die Worte beim Wort und entlarvt somit unwillkürlich das ganze sozialistische System. Nur das Thema des schreibenden und früh publizierenden Kindes habe ich bewusst erspart, damit sich viele Kinder damit identifizieren konnten.
Der Roman »Bärenfell« ist eher eine Auseinandersetzung mit der neuen, auch fremdsprachlichen Identität, symbolisiert durch das Bärenfell, das sich die schon erwachsene Mila im Westen zugelegt hat, das »dicke Fell«, das sich Frau im Laufe des Erwachsen- und Freiwerdens in der Fremde wachsen lässt zwecks Überleben »jenseits der Grenzen der eigenen Muttersprache«. Dies geschieht selbstverständlich bei einer Rückkehr in die Heimat und bei der Konfrontation mit dem dortigen Leben.
Das »Transitvisum fürs Leben« ist eine tragikomische Auseinandersetzung mit der westlichen, vorwiegend männlichen Mentalität.
Ja, da prallen zwei Bewusstseinshaltungen aufeinander: das des Wir-Menschen (der Balkanesin Mila) und das des Ich-Menschen (ihres westdeutschen Mannes). Die Tragikomik bikultureller Ehen steht da im Vordergrund, aber auch die Tragik tausender Menschen, vor allem Frauen aus dem Osten, die zwecks Überlebens im Westen auf geistiges Leben und Träume verzichten bzw. verzichten müssen. So ähnlich wie in meinem neuen Kurzgeschichtenband »Schenk mir ein Jahr ohne Weihnachten« (erschienen 2012 bei Andiamo, Mannheim).
Dein Lyrikband »traumwechselstörung«, ist bei Edition Voss (Horlemann Verlag) erschienen. Deine Gedichte sind – bis auf vorkommende Namen – in Kleinbuchstaben geschrieben. Wieso?
Ich fing mit zehneinhalb Jahren zu schreiben – gereimt – an. Mit sechzehn befreite ich mich unbewusst vom Reim. Mitte zwanzig hatte ich mich schon von meiner Muttersprache Bulgarisch befreit. Als ich auf die fünfzig zuging, befreite ich mich von jeder Punktuation... Das ist ein natürlicher permanenter Befreiungsprozess, der bei mir nach und nach stattfindet. Vielleicht erwache ich eines Tages und alles hat sich aufgelöst?
?In Deinem Gedichtband »traumwechselstörung« auf letzter Seite heißt es ja passend: bleib am ereignishorizont/ am rand des nichts/ aus dem die neue sprache ausbricht/ im zauber alter / bewußtseinsgravitation/ und während ich zerspringe/ in tausend fremde laute und konsonanten/ und meine zukunft spalte messe und gestalte/ fliege ich rückwärts in die zeit/ mit einem riesenminusstrich versehen// ich komm bald wieder/ ein lichtimpuls nicht weniger/ nicht mehr// wir werden uns vernichten meine Sprache/ und werden wieder eins// dort// am ereignishorizont ... Ist es nicht dennoch schwierig ohne Satzzeichen im Gedicht auszukommen? Oder sind diese kaum nötig? Braucht das Gedicht am Ende doch keine Schlusspunkte?
Früher haben die Steinzeitmenschen einfach darauf los erzählt – am Feuer – es gab weder Buchstaben noch Rechtschreibung, geschweige denn Groß und Kleinschreibung. Im Bulgarischen benutzt man z.B. Großbuchstaben nur zur Kennzeichnung von Namen – von Menschen, Wohnorten, Flüssen u.a. Es gab aber mündlich überlieferte Poesie und Rhythmus. Die bulgarische Folklore mit ihrem rhythmischen Parlando kennt keinen Reim und ist somit moderner als manch »moderner« Dichter hier und dort. Wenn es so weiter geht, brauchen wir möglicherweise eines Tages nicht einmal mehr zu schreiben, es würde genügen, uns in die Augen zu schauen und wir würden Gedanken und Gedichte austauschen. Das Gedicht ist ja sowieso nur ein Raster, in den die Gefühle und Gedanken des Rezipienten hineinfallen, das ist bekannt.
Du hast eine tolle Art Gedichte vorzutragen, und das Gedichtevortragen ist nun einmal nicht jedermanns Sache. Gibt es Gedichte, die einen dazu zwingen, dass man sie im Stehen vortragen soll oder ist das dem Gedicht egal?
Man muss ja die wenigen Menschen, die Dichterlesungen besuchen, nicht auch noch dafür strafen, indem man ausdruckslos liest (lächelt). Na klar, ist das dem Gedicht egal. Ja, ich stehe am liebsten, wenn ich vorlese, spüre dabei gern den festen Boden unter den Füßen, mein Atem fließt dadurch freier, so kontrolliere ich meine Stimme besser. Ich muss dabei geerdet sein, aber, bitte, nicht mit meinem Hintern auf dem Stuhl!
Nun, eine allerletzte Frage noch: Welche drei Dinge würdest Du nicht mitnehmen, wenn Du auf eine einsamen Insel müsstest?
Ich nehme keinen Fernseher, keinen Kosmetikkoffer und keinen Computer mit.
16. Sep. 2014. heimatkunde.boell.de/2014/09/16/ich-war-keine-heldin-nie-eine-gewesen