Nur allzu leicht ist man versucht, bei diesem Autor griffige Vergleiche zu bemühen, so zum Beispiel: Der am 7. Oktober 1913 in Den Haag geborene Simon Carmiggelt ist einer, der schreibt wie Tucholsky (den er hochschätzte) und Kästner (den er persönlich kannte). Stimmt natürlich irgendwie. Wird ihm aber nicht gerecht. Denn Carmiggelt war hauptsächlich eins: Simon Carmiggelt.
Unverwechselbar nicht nur in seinem Äußeren – die lange, hagere Gestalt, das zerknitterte Gesicht mit dem meist spöttischen Lächeln unter dem vollen Haarschopf, die Brille, der helle Mantel, immer ein paar Nummern zu groß, der Regenschirm als beständiger Schutz gegen das berühmte Amsterdamer Wetter (und tatsächlich beginnen nicht wenige seiner Geschichten mit einem Satz wie: »Der Nieselregen trieb mich in die Kneipe …«), die unverzichtbare Aktentasche – bis zum seinem Tod am 30. November 1987 gehörte der so Ausgestattete (auch die Krawatte wollen wir nicht vergessen!) sozusagen zum Stadtbild von Amsterdam.
Dort kannte jeder das Gesicht des berühmten Flaneurs: Carmiggelt war mit seinen in der Zeitung Het Parool veröffentlichten Geschichten (Kronkels oder auch Cursiefjes genannt) so bekannt, dass er in den 1970er und 1980er Jahren eine eigene Fernsehsendung hatte, deren markante Erkennungsmelodie jeder Niederländer singen oder pfeifen konnte. Da las er zu später Stunde eine Geschichte vor, und wie Zeitgenossen bestätigen, hing die ganze Nation gespannt vor dem Fernseher.
Über Jahrzehnte hat Carmiggelt jeden Arbeitstag eine solche Story veröffentlicht. Es ist kein Tag bekannt, an dem ihm nichts eingefallen wäre. Und es ist auch kein Tag bekannt, an dem er einen schnell zusammengepfuschten Text abgeliefert hätte. Und so kam es zu einem Bonmot, das den Herausgebern von Het Parool vielleicht nicht so gefallen hat: Die Amsterdamer meinten nämlich, Het Parool sei das Papier, in das man Carmiggelts Geschichten einschlage …
Die besten seiner Kronkels wurden in Büchern gebündelt, manchmal mehrere in einem Jahr, für Fans gab es signierte Vorzugsausgaben, und in den ganz geringauflagigen Ledereditionen steckte auch schon mal ein Originalmanuskript, einfach aus Carmiggelts Ringblock gerissen. 1983 legte er mit Mag’t een ietsje meer zijn (Darf’s ein bisschen mehr sein?) einen sozusagen Greatest-Hits-Band vor, in dem er seine persönlichen Lieblingsstücke (auch Gedichte) gesammelt hatte – ein Buch, das in jedem literarisch interessierten Haushalt der Niederlande stehen dürfte.
So klein die Form (und sie ist im deutschsprachigen Raum leider nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Mode gekommen, während sie sich – bis heute – in den Niederlanden großer Beliebtheit erfreut), so groß die Kunst des Autors. Denn um jeden Tag, den der Herrgott werden ließ, einen Kronkel, ein Feuilleton, eine literarische Miniatur mit Kugelschreiber aufs linierte oder karierte Ringbuchpapier zu bringen, muss man als Autor von besonderer Beschaffenheit und Disziplin sein. Ohne genaue Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, das ganz Große im ganz Kleinen zu entdecken, ist man für diesen, flüchtig betrachtet, schnell zu erledigenden Job nicht geeignet.
Carmiggelt war ein Flaneur. Und zwar einer im Benjaminschen Sinne. Täglich streifte er durch die Straßen seiner geliebten Stadt Amsterdam, setzte sich in einen Park oder in eine Kneipe (auch als er längst keinen Alkohol mehr trank und trinken durfte) und konnte darauf vertrauen, dass ihm eine Geschichte zufliegen würde: Sei es ein Gesicht, das ihn an etwas erinnerte oder ein aufgeschnappter Satzfetzen, es brauchte nicht viel, um seine »Phantasiemaschine« (Jürgen Pütz) in Gang zu setzen. Lief sie einmal, war sie freilich nicht mehr aufzuhalten. Und sie lief zielgerichtet (und in wohl kalkulierter Länge) auf eine Pointe zu, wie sie nur ein Autor wie Carmiggelt zu setzen wusste. Aufgeschrieben hat er seine Geschichten gleich am Kneipentisch oder auf der Parkbank – abgetippt wurden sie dann hinterher.
Leser haben ihn zu Hause aufgesucht oder zu sich eingeladen, um ihn mit Kronkel-Stoff zu versorgen. Mehr als einmal hat er auch aus solchen Begegnungen ein Feuilleton gemacht. Bei dem man als Leser immer das Gefühl hat, Carmiggelts Orte und Personen wenigstens ein bisschen zu kennen, was nebenbei auch den erfreulichen Effekt hat, dass alle seine Geschichten – selbst wenn sie ein halbes Jahrhundert alt sind – immer wie »frisch geschrieben« wirken.
In seinem 1952 erschienenen Band Poespas (Schnickschnack) hat er eine – mit dem Thema des vorliegenden Buches korrespondierende – Begebenheit festgehalten, die den Autor bei der »Recherche« zeigt. Eine »allerliebste Mädchenhand« nämlich lädt ihn, den Erzähler wunderlichster Katzengeschichten, mit »duftendem Briefpapier« ein, sie doch einmal zu besuchen, es gäbe ein gar entzückendes Tier bei ihr zu besichtigen. Carmiggelt, neugieriger eher auf die Besitzerin der »allerliebsten Mädchenhand«, fährt hin, findet aber zu seiner Enttäuschung nur ein vertrocknetes altes Fräulein in einem Zimmer vor, das ihn an den »Zweitwohnsitz einer Fledermaus« gemahnt. Auch das versprochene entzückende Tier entpuppt sich als ein eher fettes Vieh, und sein angepriesenes Kunststück, die Schranktür mit seinem Pfötchen aufzumachen und dann um die Ecke zu gucken, mag es auch nicht vorführen, lieber verkriecht es sich unter den Schrank.
Aus solchen Ingredienzien entstehen Carmiggelts Geschichten. Mit solchen Farbtupfern tuscht er seine Kronkels, und es bleibt kein Thema ausgespart.
Wir haben uns in diesem Buch auf seine Vierbeiner-Abenteuer konzentriert, aber Kronkels gibt es auch über seine Streifzüge durch Amsterdam (oder London, Paris usw.), über die Zeit der deutschen Besatzung, über Nachbarn, Künstler, Erlebnisse mit Kindern und Enkeln. Oder andersherum: Es gibt nichts, was Carmiggelt nicht »verkronkelt« hätte, und der Plot – wenn man es so nennen darf – ist immer nur die eine Seite der Medaille. Denn Carmiggelt ist einer der größten Stilisten, den die niederländische Literatur kennt (was man den Uralt-Übersetzungen aus den 1950er Jahren leider nicht anmerkt). Nicht zuletzt sind es seine Sprachgewalt und sein Wortwitz, die sein Werk vor ein paar Jahren wieder aus einer kurzzeitigen Versenkung geholt haben, oder richtiger gesagt: Der Meister war postum bei seiner Leserschaft ein wenig in Ungnade gefallen …
Denn Carmiggelt, der in seinen Kolumnen so oft von seiner Frau geschrieben hatte, dass die niederländischen Leser wohl glaubten, sich ein bisschen zur erweiterten Familie des großen Feuilletonisten zählen zu dürfen, galt als »der bestverheiratete Autor« des Landes. Dass er ein jahrelanges Verhältnis (und keineswegs ein platonisches) mit der bekannten Journalistin und Autorin Renate Rubinstein gehabt hatte, konnten die erstaunten Niederländer in ihrem erst lange nach Carmiggelts Tod im Jahre 1991 veröffentlichten Buch Mijn beter ik (Mein besseres Ich) nachlesen. Erstaunlicherweise ist dieses Werk auch auf Deutsch erschienen (1997 bei Suhrkamp) – ob der deutsche Leser da noch eine Ahnung hatte, dass er ein paar Carmiggelt-Texte aus den 1950er und 1960er Jahren zumindest antiquarisch erwerben konnte, sei dahingestellt.
In den Niederlanden jedenfalls hat Rubinstein mit ihrer Enthüllung einen wahren Sturm entfesselt. Carmiggelt, der mit vielen Literaturpreisen bedachte Autor, wurde für sein Fremdgehen mit nationalem Liebesentzug gestraft und dann tatsächlich ein bisschen vergessen – aber eine liebevoll gemachte Dünndruckausgabe seiner Werke hat ihn in den letzten Jahren ins öffentliche Bewusstsein zurückkatapultiert: als einen quicklebendigen Klassiker, den man auch heute (und morgen) mit höchlichstem Vergnügen lesen kann. Man kann ihm aber auch – ohne Niederländisch zu verstehen – beim Flanieren zuschauen oder sich von ihm eine Geschichte vorlesen lassen: Youtube macht’s möglich.
Ulrich Faure, Frederike Zindler im Mai 2016