Man muss schon seine Erklärung gehört haben, wo er geboren wurde, um zu verstehen, dass der Tschuktsche Juri Rytchëu seine Lebenserfahrung als Weltbürger gestaltet: »Ich bin geboren, wo der Globus zur Realität wird: Rechts ist der Stille Ozean, links das Eismeer, hinter mir die östliche Halbkugel, vor mir die westliche. Dort habe ich bis zum sechzehnten Lebensjahr in einer Jaranga gelebt, der einzigen Behausung, in der der Mensch den Polarwinter übersteht.« Er selbst hat erst später verstanden, dass er auf dem kurzen Weg von der Jaranga, wo ihm die heimkehrenden Jäger die Stirn mit dem Blut erbeuteter Walrosse beschmierten und die Großmutter die Löcher in den Ohren des künftigen Schamanen für die unerlässlichen Ohrringe mit Streichhölzern zu weiten suchte, zur eben erst eröffneten Schule Jahrtausende überschritt. »Die Kultur der arktischen Jäger«, sagt er, »ist noch in der Zeit der Pharaonen entstanden und war so isoliert, dass sie sich bis ins zwanzigste Jahrhundert fast unberührt erhalten hat. Das ist so, als würden Sie heute irgendwo 15 000 alte Römer entdecken. Dann aber mussten wir sehr schnell alles annehmen, um auf das Niveau des modernen Menschen zu kommen.« Dieses Aufeinanderprallen unterschiedlicher Zivilisationsstufen erfüllt seine Bücher mit eigenartiger Dynamik, sichert ihnen jenen Erfolg, den ich auf einer Lesereise mit ihm von der Schweiz über viele westdeutsche Städte bis nach Österreich kürzlich miterleben konnte.
Schon 1954 erschien sein erstes Buch in der DDR auf Deutsch, im Verlag Volk und Welt habe ich selbst drei Bücher von ihm herausgebracht, aber erst mit den vier Titeln, die jetzt der Zürcher Unionsverlag von ihm verlegt hat, scheint seine große Stunde gekommen zu sein. Der unmittelbare Anlass für die Lesereise, die deutsche Ausgabe des Romans Unter dem Sternbild der Trauer, war dabei - vom Manuskript übersetzt - eine Weltpremiere. Als Stoff hatte Rytchëu eine von verbrecherischer Arroganz ausgelöste Konfliktsituation zwischen einer sowjetischen Polarstation auf der Wrangel-Insel und den dortigen Eskimos sowie ihr gerichtliches Nachspiel 1935 vor dem Obersten Gericht in Moskau mit Wyschinski als Ankläger gedient; nur dass im Roman ein Eskimo-Schamane das Rätsel eines Mordes löst, das im Prozess, der mit zwei Todesurteilen endete, unlösbar blieb. »Dieser Fall, auf den ich 1959 dank einer Skizze von Lew Schejnin - einem Untersuchungsführer für besonders wichtige Angelegenheiten und zugleich einem produktiven Schriftsteller - stieß, hat mich sehr interessiert. Mit viel Mühe habe ich mir das stenografische Protokoll des Prozesses beschafft, und mir fiel ein sonderbarer Umstand auf. In diesem Prozess war nicht ein einziger Eskimo Zeuge …«
Das Rätsel Wer hat den Doktor getötet? (Titel des Romanmanuskripts) beantwortet sich - obzwar schlüssig - nur vordergründig in der Vision des Schamanen Analko »durch den Ärmel seines alten, aus Walrossdarm genähten Mantels«. Die eigentliche Antwort findet der aufmerksame Leser in dem von Rytchëu gestalteten Zusammenstoss von »zivilisatorischer« Anmaßung und einer natürlich gewachsenen, in sich souveränen Kultur unter dem Sternbild der Trauer - dem Weltbild und den Lebensformen der Eskimos wie in anderen Büchern dem Weltbild und den Lebensformen ihrer nächsten Nachbarn, der Tschuktschen. Insofern kehrt sich hier die Grundsituation aus Rytchëus früherem Roman Traum im Polarnebel (dt. 1968) um, in dem sich der kanadische Seemann MacLennan - nach schicksalhaften Erfahrungen - seiner Mutter gegenüber, die ihn von den »Wilden« wegholen will, zu seinem Leben mit Pylmau und ihren Kindern, einem Leben im Kreis der Tschuktschen bekennt.
Die heutige Lage auf der Tschukotka, der Tschuktschenhalbinsel, nach siebzig Jahren Sowjetmacht interessierte auf allen Begegnungen. »Alles, was vor der Perestroika war, wird jetzt negativ bewertet. Aber das ist nicht ganz richtig. Die Russen haben das tschuktschische Schrifttum geschaffen, erste Bücher herausgegeben, Schulen eingerichtet, Krankenhäuser gebaut. Der ungebildetste Mensch auf der Tschukotka hat heute mindestens vier Klassen absolviert. Dafür mussten die Tschuktschen mit dem Verlust ihrer Eigenart bezahlen, aber wenn man das Paradies auf Erden versprochen bekommt …« Unter dem Zarismus als »nicht unterworfenes Volk« bewertet, waren die Tschuktschen nach der Revolution in das sowjetische Staatssystem einbezogen, erhielten einen eigenen nationalen Bezirk. »Zunächst gab es keine gewaltsame Russifizierung, aber die besseren Chancen hatte eben der, der Russisch konnte, der die russischen Bräuche annahm, und noch besser ist dran, wer wie ich eine Russin geheiratet hat.« Von Bulldozern und Panzern aufgewühlt, die Flüsse vom Bergbau verschmutzt, sieht sich die Tschukotka einer ungewissen Zukunft ausgeliefert. »Das einzige, was hoffen läßt, ist, dass die Tschuktschen immer dort gelebt haben, wo andere, große Völker nicht leben wollten.«
»Solange es Rentierzucht, die Jagd auf Meerestiere gibt, bleiben auch alte Bräuche, Lebensformen erhalten. Gewohnheiten freilich, mit denen man in der Jaranga gelebt hat, kann man nicht in feste Häuser übertragen.« Längst gibt es auch keine Schamanen mehr - unter Stalin verbannt, sind sie vielfach umgekommen. Rytchëu aber hatte das Glück, dass noch sein Großvater ein großer Schamane war, der - von den Weißen als Navigator mitgenommen - einige Jahre in San Francisco gelebt hatte, Englisch konnte, vom ersten Präsidenten Sowjetrusslands zu einem Gespräch empfangen worden war. »In den Augen vieler Leute ist der Schamane so etwas wie ein Rocker, springt nur mit Schellen herum. Tatsächlich aber war bei den Tschuktschen ein Schamane ein Aristokrat, etwas wie ein Akademiemitglied. Um Schamane zu werden, musste man die Erfahrung, die Klugheit vieler Generationen in sich aufnehmen. Auf niedrigerer Ebene gab es solche, die auf Heilkunde, Wettervorhersagen, Kunstvorführungen spezialisiert waren.« Rytchëu schöpft auch da aus unmittelbarer Erfahrung.
Drei der in Zürich neu verlegten Titel erschienen im Original schon zwischen 1973 und 1989, also in Rytchëus »früherem Leben«. Im früheren Leben, so sagte er auf einer Veranstaltung, sei er Kommunist gewesen; dazu hatten wir einen kleinen Dialog: Was für ein Verhältnis er zu jenem früheren Leben habe? - »Genauso eins, als hätte ich plötzlich entdeckt, ich sei im vorigen Leben ein Hund gewesen, oder ein Rentier, ein Fisch, eine Blume …« Sein früheres Leben als Hund ginge aber nicht in seine Biografie ein, als Hund habe er keine Bücher geschrieben. - »Ich war insoweit Kommunist, als ich das Leben besser machen wollte und nicht schlechter … Ich bin lange nicht in die Partei eingetreten, weil ich dachte, ich sei dessen nicht würdig. Ich trank doch manchmal, und was es noch für Gründe gab…… Dann sah ich, dass es dort viele Betrüger gab, meinte, man müsse in dieser Partei, die auf das Leben der Menschen Einfluss hatte, den Anteil normaler Leute vergrößern … Ich beabsichtige nicht, mich von dem loszusagen, was ich getan habe, denn das habe ich aufrichtig oder überwiegend aufrichtig getan … Überdies gibt es in meinem früheren Leben manches, worauf ich stolz sein kann.«
Und wie sei die Lage des Schriftstellers im »neuen Leben«? »Vor allem ist der Zensor verschwunden, und nun stellt sich heraus, dass es nicht der Zensor war, der einen an Händen und Füßen fesselte, sondern das eigene Talent. Mögen jene, die sich von ihrer Vergangenheit lossagen, behaupten, sie hätten der Zensur wegen nicht geschrieben - es stimmt nicht. Alles hängt vom Talent ab. Wenn man aber dieses Talent zu hundert Prozent nutzen kann, begreift man, dass dies gar nicht so leicht ist … Die Literatur, die in Russland gegenwärtig russisch herausgegeben wird, ist im wesentlichen eine postmoderne Literatur - eine Literatur des sogenannten verfeinerten Geschmacks, eine experimentelle Literatur. Aber gemessen an wirklicher Literatur ist das sekundäres Material … Es gibt eine Richtung - meines Erachtens bekannte sich zu ihr Martin Andersen Nexö -, das ist nicht der sozialistische, sondern der soziale Realismus. Der Wert eines Kunstwerkes wird davon bestimmt, inwieweit es die sozialen Bedürfnisse der Menschen reflektiert. So wie die Felsenzeichnungen, Legenden und Lieder, die sozialen Romane/Poeme Puschkins, die sozialen Romane Tolstois, Dostojewskis oder eben Martin Andersen Nexös …«
Rytchëu, zeitweise Vorsitzender einer UNESCO-Kommission zur Bewahrung und Entwicklung der Kultur arktischer Völker, hat auch seine Tschukotka von verschiedenen Seiten gesehen: von Alaska, aus Grönland, aus Kanada, vom skandinavischen Norden. Er hat einst zu schreiben begonnen, um die Tschuktschen als »ganz normale Leute« vorzustellen - weder idealisiert noch verteufelt. »Wenn man streitet«, sagt er, »ist das erste, was einem in den Sinn kommt, die Nationalität. Sogar in der Ehe - nur, wenn meine Frau und ich mal Streit haben, erinnert sie sich, dass ich Tschuktsche bin, und ich, dass sie Russin ist. Ich bemühe mich, meine Bücher so zu schreiben, dass die Menschen einander lieben. Von allen banalen Aufrufen ist dies der aufrichtigste.«