Am 11. Oktober 1999 führten Yasar Kemal, Zülfü Livaneli, Orhan Pamuk, Ahmet Altan und ich eine Pressekonferenz durch. Die Pressekonferenz kreiste um das Thema der menschlichen und demokratischen Rechte der Kurden in der Türkei. Auf dieser Pressekonferenz wurde eine Deklaration verlesen, die wir zu diesem Thema vorbereitet hatten und die rund 60 Schriftsteller und Intellektuelle, unter ihnen Elie Wiesel, Jose Saramago, Nadine Gordimer, Ingmar Bergmann, Costa Gavras, Arthur Miller, Jack Lang, Harold Pinter, Maurice Bejart unterzeichnet hatten. Unsere Freunde Günter Wallraff und Günter Grass gehörten zu den Unterzeichnern aus Deutschland. Den Sommer 1999 verbrachten wir damit die Deklaration vorzubereiten und Vorschläge unserer Freunde einzuholen. Nach Beratungen, insbesondere mit Elie Wiesel, Jack Lang, Georg Henrik von Wright, Arne Ruth, Liv Ullmann, Kerstin Ekman, den Schriftstellerverbänden und den Pen-Clubs kamen wir zu dem Schluss, dass die Deklaration bestimmten Prinzipien entsprechen müsse. Unsere Deklaration konnte vielleicht die letzte Deklaration darstellen, die vor Ende des 20. Jahrhunderts von Intellektuellen veröffentlicht wurde. So wurde sie bei Zugrundelegung folgender Prinzipien, die auch die Erwartungen der Intellektuellen für das neue Jahrhundert einschliesst, formuliert.
Die Meinungsfreiheit, die Menschenrechte und die kulturellen Rechte der Minderheiten sind keine inneren Angelegenheiten der Nationalstaaten, sondern Fragen, die die ganze Welt angehen. Die Globalisierung hat zu einem Scheideweg geführt. Die Welt muss sich entscheiden, ob sie mit den blutigen Traditionen des 20. Jahrhunderts fortfährt oder Lehren aus der blutigen Tradition zieht und einen neuen Weg bestimmt. Was wir wollen ist natürlich ein neuer Weg, eine neue Strategie.
Die Globalisierung betrifft zwei Säulen. Die Gesellschaften, die durch Individuen, Gruppen und Kategorien formiert werden und die internationale Gemeinschaft, die sich aus Staaten zusammensetzt. Freiheit, Gleichheit und Demokratie müssen im neuen Jahrhundert die Prinzipien der Gesellschaften und der internationalen Gemeinschaft bilden. Die Gesellschaften müssen zivile, demokratische und offene Gesellschaften sein, die der Gleichheit und Freiheit der Individuen, der Gruppen und der gesellschaftlichen Kategorien Bedeutung zumessen. Und die internationale Gemeinschaft muss eine freiheitliche internationale Gemeinschaft sein, die die Staaten als Angehörige einer Familie anerkennt und den Frieden, den Dialog und die Demokratie zur Grundlage erklärt.Dass alle Freunde, die die Deklaration unterzeichneten, insbesondere diese Prinzipien betonten, hat seine Gründe. Wir haben das blutigste Jahrhundert der Menschheit hinter uns. Endlich lassen wir ein mörderisches Jahrhundert hinter uns, dass zwei Weltkriege, die in der Menscheitsgeschichte und dem Gewissen tiefe Wunden hinterlassen haben, unzählige regionale Kriege und Bürgerkriege, Rassismus, Nationalismus und Chauvenismus, Hitler, Mussolini, Stalin, Franco, Salazar, Saddam und und andere- mit den Worten Thomas Manns zu Hitler - niederträchtige Despoten, die die Welt bedrohten - hervorgebracht hat. Was auch geschehen möge, im neuen Jahrhundert dürfen wir die trotz der industriellen Entwicklung geschehenen grausamen und menschenfeindlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen. Dialog, Frieden, Gleichheit, Freiheit, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Demokratie und eine offene zivilisierte Gesellschaft sind die Gedanken, Erwartungen und Forderungen der Schriftsteller und Künstler, die das Gewissen der Gesellschaften und der Welt bilden, zum neuen Jahrhundert.
Wie wir auch in unserer Deklaration hervorhoben, ist die Türkei ein Prüfstein dafür, ob die Erwartungen zum neuen Jahrhundert erfüllt werden. Die Türkei hat seit rund einem Jahrhundert, insbesondere nach Gründung der jungen Republik im Jahr 1923 ihr Gesicht dem Westen zugewandt. Die Türkei ist Mitglied der Nato. Und die Türkei möchte sich in die westliche Welt integrieren. Aber andrerseits hat die Türkei unzählige Probleme im Bereich der Demokratie, der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der Rechte von Individuen und Minderheiten. Die Türkei steht ebenso wie die Welt im neuen Jahrhundert vor einem Scheideweg. Sie wird entweder mit den Traditionen und Gewohnheiten, die einem demokratischen und zivilisierten Land nicht würdig sind, fortfahren oder sich im Sinne der Erwartungen des neuen Jahrhunderts verändern und zu einem zivilisierten, offenen und demokratischen Land werden.
Ich persönlich wünsche mir, dass die Türkei sich verändert und zu einem zivilisierten und demokratischen Land wird. Aus diesem Grund unterstütze ich den Antrag der Türkei auf EU-Mitgliedschaft und ihre Bemühungen sich der EU anzunähren. Meines Erachtens muss es das Ziel sein, die Türkei von ihrer Schande zu befreien, die Menschenrechte und kulturellen Rechte der Kurden und der anderen religiösen und ethnischen Gruppen zu verwirklichen und die Türkei zu einem wichtigen Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu machen.
Aber ohne Träumen zu verfallen muss man feststellen, dass die Türkei über ernsthafte Probleme verfügt und dass ernstzunehmende konservative Kräfte über eine Macht verfügen, die nur mit kosmetischen Veränderungen ohne Veränderung des Staatsappparates die Integration in die EU wünschen. Deshalb täuschen sich diejenigen, die meinen, dass die Türkei mit Leichtigkeit mit der zivilisierten Welt und der EU harmonisiere. Vielmehr muss man folgendes feststellen. Unter den Ländern, die Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EU gestellt haben ist die Türkei in der schwierigsten Situation, noch schwieriger als bei den baltischen Ländern. Obwohl die Türkei kein östliches Land ist, das die Demokratie nicht kennt, ist sie doch ein Land, deren Traditionen zwischen Ost und West schwanken. Sie verfügt über viele östliche anti-demokratische Traditionen, wie über dem Westen offenen Traditionen. Der Staat verfügt über einen Aufbau, der zwar nicht wie die Regime Saddams oder der Ayatollas totalitär ist, aber viele antidemokratische Regeln und Funktionsweisen aufweist.
Meines Erachtens ist das wichtigste Problem der Türkei die amtliche Ideologie, die sie sich seit Gründung der Republik zu eigen gemacht hat. Das Hindernis beim Fortschritt und der Demokratie war immer diese amtliche Ideologie. Diese amtliche Ideologie ist eine schwere Last und wesentliche Ursache dafür, dass die Türkei sich bei wirtschaftlichen und kulturellen Fragen nicht vorwärtsbewegt.
Wie man weiss wurde die Türkei auf den Trümmern des Osmanischen Reiches errichtet, die kleine nomadische Stammesführer gegründet hatten und die durch Eroberung expandierte. Mit dem zweiten Weltkrieg wurde das multi-religiöse, multi-kulturelle, multi-linguale Osmanische Reich zerstört, an dessen Stelle die Republik entstand, die weite Teile des Reichsterritoriums verloren hatte und der nur Anatolien und ein kleiner Teil von Thrazien verblieb. Die Republik, die im geistigen Klima der Abtrennung, Zerstückelung und Vernichtung gegründet wurde, hat - als sei der multikulturelle Charakter des Osmanischen Reiches Grund für die Zerstückelung - die Uniformiertheit zur amtlichen Ideologie erhoben. Ein Staat, eine Nation, eine Sprache, ein Führer. Also der türkische Staat, die türkische Nation, die türkische Sprache und der Vater der Türken, der absolute Führer. Dabei war der Grund, der das Osmanische Reich in den Krieg führte und zu seiner Auflösung führte, nicht die in Teilen tolerante Auffassung der Osmanen zu den religiösen Gemeinschaften, sondern der Turkismus, der von den monopolistischen Aufassungen des Westens stark beeinflusst war. Was den Staat zerstörte war die Clique der Partei Einheit und Fortschritt, die sich aus Bürokraten, vornehmlich militärischer Herkunft zusammensetzte, die den Turkismus zum Leitfaden erhob und durch Konspiration sich des Staatsapparattes bemächtigte.Bei dem Versuch dem Staat ein neues ideologisches Gesicht zu verpassen hat Einheit und Fortschritt den Staat durch blutige Abenteuer zerstört und das Reich zerstückelt. Trotz dieses Umstandes wurde die amtliche Ideologie des neuen Regimes von Kadern bestimmt, die sich mehrheitlich von Militärs und Bürokraten aus den Reihen der Partei Einheit und Fortschritt zusammensetzten. Im Zentrum stand der Gedanke auf dem verbliebenen Territorium eine einzige Nation, die türkische Nation zu schaffen. Der Staat formierte sich in diesem Sinne, in diesem Sinne wurden Gesetze verabschiedet und das gesellschaftliche und kulturelle Leben wurde nach dem Türkismus ausgerichtet.
Es wurde damit begonnen die Kurden in ihrer Existenz, ihrer Sprache, ihrer Kulur, ihrer Identität und ihrer Geschichte zu verleugnen. Die religiösen Minderheiten, deren Existenz mit dem Friedensvertrag von Laussanne anerkannt wurde, wurden aus dem öffentlichen Leben verdrängt und dazu verurteilt ein isoliertes Dasein zu führen. Mit der Schaffung amtlicher Institutionen zu Fragen der Sprache, Geschichte, Kultur und Literatur wurden irrationale Theorien produziert. Mit den Worten Octavio Paz wurde ein „ideologischer Staat" geschaffen. Die gefährlichste Staatsform in der modernen Menschheitsgeschichte ist immer dieser „ideologische Staat" gewesen. Bei den ideologischen Staaten, die eine fanatische Ideologie als amtliche Ideologie akzeptieren, finden wir stets charakteristische Eigenschaften, die sich gleichen. Sie sind etnozentrisch und egozentrisch, sie hängen einem totalen Gedanken an, ein grober Nationalismus ist der Zement ihrer Ideologie, sie empfinden stets Zweifel an dem „anderen", sie verbreiten Vorurteile und Feindschaft, sie sind intolerant gegenüber anderen Stimmen, Aufassungen und Bewegungen, sie suchen stets nach Feinden um die Gesellschaft im Mobilisierungszustand zu halten,sie weisen einen kuluturellen Chauvenismus auf, der mit Argumenten von der „heiligen und glorreichen Geschichte" bespickt ist, und giessen die Paranoia „die Zerstückelung steht bevor, wir sind von Feinden umrungen" in eine gesellschaftliche Lebenspraxis. Zu unverzichtbaren Prinzipien gehört es „bereit zum Krieg" zu sein, die anderen zu unterdrücken und gegen Gefahren das Land mit einer militärischen Disziplin zu regieren. Es ist ungeheuer schwer, dass solche „ideologischen Staaten", die das Ziel verfolgen alles zu einem Teil des Systems zu machen zivilisierte, offene und demokratische Systeme hervorbringen. Auch wenn sie nicht vollends im Fahrwasser des Totalitarismus sind, werden zumeist die Grenzen zwischen offener und geschlossener Gesellschaft, zwischen zivilem und militärischen Regime, zwischen demokratischen und anti-demokratischen Prinzipien in solchen Regimen aufgehoben. Bestenfalls kommt es vor, dass der Staat, der in einer bestimmten Frage demokratisch ist, in einer anderen Frage anti-demokratischer als ein totalitärer Staat ist.
Leider wurde die Türkei mit der zu eigen gemachten amtlichen Ideologie zu einem Staat in dieser Kategorie. Es ist nicht von Bedeutung die 77-jährige moderne Geschichte der türkischen Repulik mit Beispielen auszuführen. Aber der Staat hat immer einem Prinzip Vorrang eingeräumt. Alles, alle mussten türkisiert werden.
Die Zeit verging schnell und als man das Jahr 2000 zählte, war offenkundig: Nicht alles, nicht alle wurden zu Türken. Die moderne Geschichte der Türkei ist zum einen ein gutes Beispiel für die Bestrebungen eines ideologischen Staates um seine Ziele zu erreichen, zum anderen ein gutes Beispiel für den ausserordentlichen Misserfolg dieser Bestrebungen. Die Folge dieser Bestrebungen seit 1923 sind offenkundig: die Griechen, die Armenier, die Assyrer, die Araber und Kurden, die seit je her zu den Ansässigen der Ägais, Anatoliens und Nord-Mesopotamiens gehören, konnten nicht türkisiert werden. Als eine Folge der Politik von Assimilation und Gewalt sank die Bevölkerung der Minderheiten ausserhalb der Kurden, doch ihre totale Türkisierung gelang nicht. Auch die Kurden, die seit Jahrtausenden auf diesem Territorium leben, haben der amtlichen Politik, offen oder heimlich Widerstand entgegengebracht. Nach Angaben der amtlichen Sprecher in der Türkei haben in der Geschichte der Republik die Kurden 28 mal revoltiert. 28 Revolten binnen 77 Jahren. Die Bedeutung dieser Revolten liegt auf der Hand. Die Kurden haben sich nie als reguläre Bürger der Republik begriffen, sie haben sich nicht ins System integriert, sie waren stets gegen die amtliche Ideologie und ihre Politiken. Auf der anderen Seite bedeuten 28 Revolten auch folgendes: Blutige Auseinandersetzung, Leid, Tränen, Verbannung, Hinrichtung, Gefängnis, ein ausserordentlicher Kriegszustand, militärische Mobilisierung, anti-demokratische Verhältnisse. Um die Situation bezüglich der Kurden zu vereinfachen, möchte ich folgende Frage stellen: Wenn jemand sagt „ du existiert nicht, du hast keine Identität, keine Geschichte, keine Vergangenheit" Was machen sie dann? Welche Gefühle entwickelst sie, wenn wenn ihnen gesagt wird „deine Sprache ist keinen Pfifferling wert, sie müssen in meiner Sprache erzogen werden". Wie fühlen sie sich wenn sie ihrem Kind nicht einen Namen in ihrer Sprache geben können? Was machen sie, wenn die Orts- und Regionalnamen, die sie von ihren Vätern und Urvätern gelernt haben, verändert werden, bloss weil sie in ihrer Sprache sind und stattdessen neue Namen, die als kulurelles Erbe nichts ausdrücken, erhalten? Was passiert aus ihrem Leben, wenn sie ein Leben lang ideologische Slogans in der Art „du bist nicht du. Du gehörst zu uns" zu hören bekommen und versucht wird sie in diesem Sinne zu erziehen. Ich stelle diese Fragen nicht um die Revolten und blutigen Auseinandersetzungen zu verteidigen, sondern als eine Person, die als Romancier die Gefühle der Kurden aus der Nähe verfolgt um die Gefühlswelt der Kurden darzustellen.
Die amtliche Geschichte der türkischen Republik hat eine Erfahrung der Menschheitsgeschichte in aller Nacktheit bestätigt. Sie können die Seele der Menschen nicht versklaven. Sie können nicht mit Gewalt die Menschen anders machen. Die Menschen können Niederlagen erleiden, sie können Fehler machen, sie können verstummen, können in Hoffnungslosigkeit verfallen, aber in der Seele der Menschen ruht ein Licht, das nicht vernichtet werden kann: Das Verlangen nach Freiheit und Gleichheit. Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat die Menschheit sich wider die Hindernisse von diesem Licht sich leiten lassen. So wird sie auch fortfahren.
Dies ist die wichtigste Erfahrung der Menschheitsgeschichte. Eine Politik, die sich auf grobe Gewalt und Verleugnung stützt, kann nicht immer währen. Selbst wenn verzweifelte Indivdiduen und Gemeinschaften dies akzeptieren, wird es die Menschheit nicht akzeptieren. Die amtliche Politik der Türkei hat vor allem der Türkei und den Bürgern der Türkischen Republik geschadet. Der Schaden, den die Türkei, die aufgrund ihrer Geographie über ungeheure kulturelle und wirtschaftliche Kapazitäten verfügt, durch die offizielle Politik erfahren hat ist unaufzählbar. Die Türkei, die über ein Territorium verfügt, das die Wiege der Kulturen Nordmesopotamiens, Anatoliens, des Mittelmeeres und der Ägais war, hat weder eine offene und demokratische Gesellschaft hervorgebracht, an welcher alle Bürger als Verfassungsbürger partizipieren, noch einen nennenswerten wirtschaftlichen, sozialen oder kulurellen Fortschritt hervorgebracht. Verletzt mit dem Trauma des 1. Weltkrieges und einer offiziellen Ideologie, die der Wirklichkeit der Türkei nicht entspricht, verblieb sie im Status eines unbeweglichen und zurückgebliebenen Landes, das der Kraft entbehrt Dynamisnus und energische Schritte zu zeigen. Die Türkei verfügt über kein Gewicht im internationalen Parkett. Und im Land selbst wurde sie zu keiner dynamischen Kraft, die Freundschaft, Achtung und den Dialog zugrundelegt. Aufgrund des geschichtlichen Argwohns hat sie nicht die Demokratie und die Freiheiten, sondern das autoritäre Regime verteidigt; sie hat nicht ihre Bürger, sondern den Staat gegen die Bürger verteidigt.
Nach 1984 wurde mit den Worten des ehemaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel die Türkei zum Ort des „umfassendsten Aufstandes in der Geschichte der Republik". Dieser blutige Krieg, der nach amtlichen Angaben 30.000 Menschen das Leben kostete, zur Vertreibung von Millionen Bauern, zur Vernichtung Tausender Dörfer und Siedlungen führte und die Türkei an den Rand des ökonomischen Ruins führte, ist seit zwei Jahren beendet. Ich werde hier nicht auf das Ausmass und die Details dieses sehr blutigen und grausamen Krieges eingehen, das 15 Jahre lang die Schlagzeilen der Türkei und der Weltpresse beschäftigte. Aber es ist von Nutzen einen Punkt hervorzuheben, der auch in der Deklaration enthalten war; Dieser Krieg hat nochmals gezeigt, dass weder der Staat die Kurden gewaltsam assimilieren konnte, noch die Kurden mit blutigen Aufständen die Türkische Republik besiegen konnten.
Was kann getan werden? Die Erwartungen und Forderungen der Intellektuellen zum neuen Jahrhhundert, auf die ich bereits eingegangen bin, könnte die Grundlage für die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei bilden. Ich versuche folgendes auszudrücken. Die Gesellschaft in der Türkei sollte wie andere Gesellschaften der zivilisierten Welt eine zivile, demokratische und offene Gesellschaft werden, die der Gleichhheit und Freiheit der Individuen, der Gruppen und gesellschaftlichen Kategorien Bedeutung einräumt. Sie sollte zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat werden, der die aggressive und ideologische Staatstruktur beiseitelegt: Individualrechte, religiöse und ethnische Gleichheit, eine auf der Verfassung beruhende Staatsbürgerschaft, die die Sprache, die Religion und die Identität des Individuuums achtet, ein gesellschaftliches Leben beruhend auf Harmonie und Partizipation. D.h. Demokratie. Die Wohlfahrt und das Glück der Türkei liegt im Aufbau eines solchen demokratischen Lebens. Die Türkei muss sich in die ziviliserte westliche Welt, der sie sich zugewandt hat, integrieren und muss zu einem beispielhaften Land werden, indem sie die unverzichtbaren Kriterien von Demokratie, Menschenrechten, Gedankenfreiheit und der kulturellen Rechte der Minderheiten durch notwendige Reformen erfüllt.
Die Türkei muss mit ihrem geschichtlichen und kulturellen Erbe Frieden schliessen, sie muss ihre Bürger, die sie ausgegrenzt und verletzt hat, integrieren. Sie darf die ethnischen, geschichtlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede nicht als Gefahr und Bedrohung ansehen, sondern muss sie als Quelle des Reichtums, die das Land entwickeln ansehen. Alle Hindernisse bei der Ausübung der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte müssen aufgehoben werden. Alle Gesetze und Verfügungen, die die Minderheiten dazu verurteilen ein isoliertes Dasein zu führen, müssen aufgehoben werden. Die kurdische Identität muss offiziell anerkannt werden und durch Gesetze geschützt werden, die Kurden müssen ihre demokratischen Rechte erlangen, es muss gewährleistet werden, dass sie in ihrer eigenen Sprache Unterricht erhalten können, dass sie mit ihrer kurdischen Identität und ihrem eigenem kulturellen Erbe leben und im gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Leben und im öffentlichen Leben geachtet werden. All dies sind Forderungen, die leicht erfüllt werden können, deren Realisierung aber sehr schwer ist. Die offizielle Ideologie, die Traditionen, die Staatsstruktur und die Gesetze der modernen Türkei sind nicht geeignet, die oben genannten Forderungen zu erfüllen. Lassen wir die Realisierung beiseite: Die Verhältnisse sind nicht einmal dafür geeignet, dass diese Forderungen diskutiert werden. Deshalb ist die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft gross. Die zivilisierte und demokratische internationale Staatengemeinschaft muss der Türkei helfen. Ich sage nicht, dass sie in der Türkei intervenieren sollte, aber sie muss reale und aktive Hilfe leisten, weil die Türkei aufgrund ihrer Spaltungs-Paranoia, die zu ihrer offiziellen Ideologie geworden ist, ihrem zementierten bürokratischem Apparat und ihrer konservativen Gewohnheiten keinen Schritt in Richtung Demokratisierung geht.
Die Globalisierung hat eine Welt hervorgebracht, in welcher wir gegenseitig Verantwortung tragen. Wir alle sind verantwortlich, wenn in einem Land die Menschenrechte mit Füssen getreten werden und wenn keine Meinungsfrteiheit existiert. Ebenso wie die Türkei trägt die zivilisierte internationale Staatengemeinschaft, die vielfältige Beziehungen zur Türkei pflegt, Verantwortung, wenn in der Türkei kein Schritt in Richtung Demokratisierung erfolgt, wenn wenn in dem Paradies der Fernsehanstalten die Kurden immer noch nicht über einen Fernsehkanal in ihrer eigenen Sprache verfügen, wenn Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle aufgrund ihrer Meinung in Gefängnissen einsitzen, wenn Bücher beschlagnahmt und antidemokratische Willkür das Gesetz bildet, wenn Folter systematisch angewandt wird. Insbesondere die USA und Deutschland sind in Verantwortung gezogen. Die Türkei ist ein militärischer und wirtschaftlicher Partner der internationalen Gemeinschaft, sie ist eine Burg der NATO in Richtung Asien und eine Wirtschaftsbrücke des Westens zu Kaukasien und Asien. Es ist ein grosser Fehler der westlichen Welt, die bei Wirtschaftsfragen die Türkei unterstützt, dass sie in Bezug auf Demokratisierung durch schwerfälliges und unwilliges Verhalten die Türkei nicht unterstützt und die Ausreden der Türkei akzeptiert.
Das Bemühen der westlichen Welt in Fragen der Demokratisierung, der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit tolerant gegenüber der Türkei zu sein und der Versuch dieses mit „historischen Besonderheiten der Türkei" zu erklären ist ungeheuerlich. Es ist doppelzüngig, wie im Fall der Bundesrepublik Deutschland, die der Türkei schwere Waffen verkauft, Hilfe bei der Gründung von Waffenfabriken leistet, aber auf der anderen Seite nicht ernsthaft bei der Demokratisierung der Türkei hilft und ganz im Sinne der türkischen Forderungen die gesetzlichen und demokratischen Rechte der 700.000 Kurden in Deutschland nicht achtet. Wir sind in einem neuen Jahrhundert, es ist Zeit für einen Aufbruch. Die Türkei har sich der westlichen Welt einen Schritt genähert und strebt die Vollmitgliedschaft in der EU an, die Gespräche zwischen EU und der Türkei haben begonnen. Der Krieg in der Türkei ist beendet und die ganze Gesellschaft hofft auf Demokratisierung. Die Kurden haben immer wieder ihren guten Willen demonstriert und wollen mit ihrer Identität und ihren demokratzischen Rechten ein untrennbar Teil der Türkei sein. Die schweren, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wunden, die der Krieg aufgerissen hat, verheilen langsam. Das sind Chancen, die in der Geschichte der Türkei einmalig sind. Diese Chance ist nicht nur von Bedeutung für die Türkei, sondern auch für die Kurden. In dieser Phase der historischen Chancen sollte die Tükei mit der aktiven Unterstützung der westlichen Welt und der EU notwendige Reformen und Erneuerungen durchführen um eine demokratische, offene und zivile Gesellschaft zu schaffen. Die westliche Welt, insbesondere die EU sollte im Lichte der Kopenhager Kriterien zu Demokratie, Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte, die Türkei beim Wandel aktiver unterstützen. Man muss sich bewusst sein: Es ist die grösste Bosheit gegenüber der Türkei, wenn die EU bezüglich der Türkei sich von diesen Kriterien verabschiedet oder Konzessionen macht und die Demokratie und die Menschenrechte verrät. Die EU sollte die Türkei mit offenen Armen empfangen, aber nicht dadurch, dass Europa zur Türkei wird, sondern dadurch, dass die Türkei sich europäisiert. Es ist die grösste Hilfe an die Türkei, wenn von der Türkei offen und konkret Forderungen bezüglich der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte und der demokratischen Rechte der Kurden gestelltwerden und ein Fahrplan vereinbart wird.
Der neue Prozess und die Deeskalierung stellen auch für die Kurden eine historische Chance dar. Auch die Kurden müssen, ebenso wie die Türkei, sich verändern und erneuern. Im Laufe der Geschichte wurden die Kurden fast zu Sklaven anti-demokratischer Gesinnung. Die Gewohnheiten der geschlosssenen Gesellschaft, die sie fesselten, die Methoden, die von den totalitären Regimen in der Region den Kurden diktiert wurden und die Manipulationen totalitärer Ideologien, wie in Ostdeutschland und Bulgarien, die viel Zerstörung unter den Kurden angerichtet haben, haben verhindert, dass die Kurden eine demokratische Gesinnung, Bewegung und ein Leben hervorbringen. Egal was behauptet wird: Die Gesinnung und Gewohnheiten der Kurden als Ganzes sind fast anachronistisch. Es ist Zeit, dass die Kurden sich von diesen anti-demokratischen, primitiven und verrosteten Ketten befreien und eine zivile, soziale, kulturelle und politische Bewegung hervorbringen, die die Erneuerung und die Rechte des Individuums zur Grundlage erhebt. Es ist notwendig, dass sich die Kurden, die in der Türkei Demokratie fordern, sich demokratisieren. Es ist notwendig, dass die Kurden, die den Dialog anstreben dem zerstörerischen Monolog, der weltfremd geworden ist, beenden. Kurden, die Achtung der Rechte fordern, müssen den demokratischen Dialog, die Toleranz und die Achtung des „Anderen" zum Leitfaden erheben. Kurden, die die Meinungsfreiheit verteidigen und gegen die Zensur sind, dürfen selbst keine Zensur anwenden und müssen die Meinungsfreiheit des anderen Kurden achten. Nur mit solchen Veränderungen können die Kurden den blutigen Selbstlauf beenden und in der internationalen Gemeinschaft einen geachteten Platz einnehmen.
Ja, eine völlige Erneuerung. ein demokratisches Vorwärts in Zusammenarbeit mit der zivilisierten Welt und der Europäischen Union, an welchem Türken, Kurden, Deutsche, wir alle teilhaben. Unser aller Zukunft liegt in der Demokratie als angemessene Herrschaftsform, in welcher wir gegenseitig unsere Existenz und unsere Meinung achten. Die Deklaration des vergangenen Jahres hatten wir mit folgender Forderung beendet: „Die Türkei muss im 21. Jahrhundert zu einem zivilisierten und demokratischen Land werden, welches die Menschenrechte und die kulturellen Identitäten achtet". Am Ende meiner Rede möchte ich diesen Wunsch der 60 Schriftsteller und Künstler aus aller Welt erneuern.