Darf ich Dich um eine Art Lebenslauf bitten– Geburtsort, Kindheit, Ausbildung, Berufsarbeit, Familie, Kinder, Entfaltung als Schriftstellerin?
Ich heiße Sólrún Michelsen und bin am 11. 3. 1948 in Tórshavn auf den Färöern geboren. Wenn ich darüber nachdenke, so glaube ich, dass ich der Generation angehöre, welche die beste und sicherste Kindheit hatte. Mit einer häuslichen Mutter, die immer da war, und einem Vater, der zur Arbeit ging. Es gab keinen Kindergarten und wir waren wie freie Vögel. Die Generation meiner Eltern war arm. Die Kinder mussten mithelfen und ab vierzehn Jahren arbeiten. Die Generation meiner Kinder ist so mit ihrer Karriere beschäftigt und hat zu tun, alles auf die Reihe zu kriegen. Die Kinder stehen von der Krippe bis zum Schulabgang unter der Obhut einer Art Institution. Ich heiratete als Achtzehnjährige. Mein Mann und ich eröffneten einen Großhandel, der sich für färöische Verhältnisse beträchtlich auswuchs. Ich war dort Verwaltungschef, bis ich mich als Sechzigjährige für den Vorruhestand entschied, um mich meiner Arbeit als Schriftstellerin zu widmen. Ich habe drei Kinder, neun Enkelkinder und einen Urenkel. Meine Schriftstellerei besteht bis jetzt aus sechs Kinder- und Jugendbüchern, von denen zwei Fantasy-Bücher sind. Hinzu kommen Bücher für Erwachsene: eine Gedichtsammlung, eine Novellensammlung und zwei Romane. Ich habe auch Kirchenlieder geschrieben, von denen acht in das Gesangbuch übernommen wurden, das unsere Kirche benutzt. Ich habe auch Lieder gedichtet, die für Chor gesetzt wurden, sowie Texte für zwei Kantaten (zu einer davon komponierte Sunleif Rasmussen, den Du ja kennst, die Musik).
Was bedeutet es für einen Färinger, Schriftsteller zu sein – im Unterschied zu einem Komponisten beziehungsweise Maler oder Bildhauer? Bist Du manchmal im Zweifel, ob Du auf Färöisch schreiben solltest oder eher auf Dänisch oder Englisch?
Wenn du auf den Färöern Schriftsteller sein willst, musst du eine brennende Lust zum Schreiben haben, eine große Liebe zu deiner Muttersprache und einen unwiderstehlichen Drang, etwas mit aufzubauen. Außerdem darfst du keinen geldmäßigen Verdienst erwarten. Du brauchst einen Partner, der das Geld verdient, oder musst neben deiner Schriftstellerei einen Job haben. Was auch für Komponisten und bildende Künstler gilt. Was meine Literatursprache angeht, so war ich niemals im Zweifel, dass ich auf Färöisch schreiben will. Doch ist es überaus aufmunternd, wenn dein Text in andere Sprachen übersetzt wird und dadurch mehr Lesern zugute kommt. Hier auf den Färöern ist unsere literarische Reichweite ja sehr begrenzt.
Was bedeutet Deine Muttersprache für Dich? Findest Du Wörter, Töne, Nuancen für alles, was Du ausdrücken möchtest?
Deine Muttersprache ist ein großer Teil deiner Identität. Daher ist sie geradezu eine Lebensbedingung. Wohnst du andernorts, wo du sie nicht sprechen kannst, ruht sie nur latent. Du entdeckst erst, was sie dir bedeutet, wenn du einen deiner Landsleute triffst und dich wieder auf die besondere Weise ausdrücken kannst, die nur die eure ist. Ich fing spät an zu schreiben und war 45 Jahre, als mein erstes Buch herauskam. Damals schien mir, dass es mehr Wörter auf Dänisch gäbe und dass es leichter wäre, in dieser Sprache Nuancen treffen – doch das glaube ich nicht mehr. Zwar haben wir nicht so viele Wörter wie manch andere Sprache. Als Schriftsprache ist das Färöische verhältnismäßig jung. Dafür legen wir mehr Bedeutungen in dieselben Wörter: mit kleinen Veränderungen außen herum. Doch wir haben unglaublich viele Wörter oder Bezeichnungen für einzelne Dinge wie zum Beispiel Regen und Nebel. Das Färöische ist eine schöne Sprache, um sich darin auszudrücken. Aber es verlangt viel von dem, der es in andere Sprachen übersetzen soll.
Kannst Du mir einige Aufschlüsse geben, was das Lesepublikum auf den Färöern anbetrifft, seine Lesegewohnheiten früher und heutzutage?
Der erste Roman, der auf Färöisch geschrieben wurde, kam 1909 heraus. Also hatten wir nur gut hundert Jahre, um eine färöische Literatur zu schaffen. Für alles wurde das Dänische gebraucht – von der Bibel bis zu den Schulbüchern. Heute, heißt es, kommen auf den Färöern mehr Bücher pro Einwohner heraus als in den EU-Ländern. Wir lesen viel und gerne, und unsere Buchhändler wissen gut bescheid, was in anderen Ländern vor sich geht. Auch ist es jetzt ja so bequem, über Internet zu bestellen, was man möchte. Allerdings kann man ein wenig betrübt sein über die jungen Leute, die andere Medien bevorzugen, und dass alles so schnell geht, dass wir mit dem Färöischen gar nicht nachkommen. Das meiste, was in den digitalen Medien passiert, geschieht auf Englisch. Und es schleichen sich – nach meiner Meinung – zu viele Fremdwörter in unsere Sprache. Aber die Schulen kämpfen tapfer. Und sie schmieden neue Wörter für die neuen Dinge, die täglich auftauchen … Das Färöische ist ja eine kleine Sprache, die sehr verwundbar ist durch die massive Einwirkung von außen her.
Fühlst Du Dich als ein Glied in der Kette der färöischen Literaturgeschichte – oder eher als ein Erneuerer?
Ich fühle mich absolut als Glied einer Kette, aber auch als Erneuerer, der es gewagt hat, Themen aufzugreifen, die bis dahin tabu waren. Je kleiner eine Gesellschaft ist, umso mehr Tabus lasten auf ihr. Doch wer eine Kette für etwas Einzigartiges hält, der findet Ketten, in denen jedes einzelne Glied, Stein oder Perle, seine eigene Schönheit und Besonderheit besitzt.
Bekam Dein Roman Tema við slankum (Thema mit Schlenker) – 2015 im Unionsverlag Zürich u. d. T. Tanz auf den Klippen erschienen – zu Hause beziehungsweise in Dänemark Besprechungen? Lob oder Tadel?
Er wurde anfangs (2007) mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen, eben weil man fand, er gehe einige Themen zu unverhüllt an. Man glaubte, Personen wiederzuerkennen. Aber die Schulen waren begeistert, und er wurde – und wird – im Unterreicht viel verwendet. In Dänemark wurde er auch gut aufgenommen, mit einer einzigen Ausnahme.
Haben das Gittermädchen – und das Ich der Erzählerin – Vorbilder in der färöischen Wirklichkeit?
Ja. Sie sind eine Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion.
Soweit ich weiß, schreibst Du vorzugsweise Kinderbücher. Was bedeutet es für Dich, für färöische Kinder zu schreiben? Und was bedeutet es möglicherweise für diese?
Es ist richtig, dass ich, wie so viele andere, als Kinderbuchautor anfing. Doch seit vielen Jahren schreibe ich fast nur für Erwachsene. Doch es ist ein wunderbares Erlebnis, für Kinder zu schreiben. Es ist, als säße ein Kleines oben in der Ecke während du schreibst. Tatsächlich ist es schwieriger, für Kinder zu schreiben als für Erwachsene. Denn du musst zuerst die Kinder einfangen, was mir nicht schwerfällt. Aber du musst auch eine andere Ebene finden: für die Eltern oder die Erwachsenen, die mit ihnen lesen. Und das ist nicht immer leicht zu schaffen, ohne dass die Spannung leidet oder das Leben in der Geschichte. Es ist sehr wichtig für Kinder, Bücher zu haben, in denen sie sich selbst wiedererkennen. Dass sie sich in den Büchern heimisch fühlen. Es wird ja auch viel Kinderliteratur aus anderen Sprachen übersetzt. Als färöische Kinderbuchautorin empfinde ich mich als jemand, der sich am Aufbau und Erhalt unserer Sprache beteiligt. Es bedeutet mir viel, dass alle meine Texte in Schulen gebraucht werden. Im Kindergarten singen sie meine Lieder und Gedichte. Und auf der Universität sitzen die armen großen Kinder und versuchen, meine Novellen und Romane zu analysieren.
Könntest Du einige vorherrschende Charakterzüge der Färinger beschreiben? Was bedeutet die unsanfte Natur mitten im Nordatlantik für die Bewohner der »Schafsinseln«?
Wir sind geduldig. Wir wohnen in einem Land, das sie »The islands of maybe« nennen. Vielleicht können wir morgen hinausfahren zum Fischen. Immer gibt es ein »Vielleicht«, denn das Wetter bestimmt unser Leben. Wir reden nicht so viel. Wir singen mehr. Wir lieben zu schaffen: Musik, Kunst, Literatur. Wir lieben es, hier zu wohnen. Wir hassen das Dunkel des Winters und lieben die Mitternachtssonne. Sie entschädigt für alles.
Das Interview führte Prof. Dr. Lutz Lesle, freier Mitarbeiter bei der WELT (Musik).