Das Mädchen mit dem gelben Schirm war bereits beim Verfassen ein Abenteuer auf dem Gebiet der Sprache, doch das Nachspiel im wirklichen Leben erwies sich als bizarrer Albtraum. Als Autor dieses Romans machte ich eine in jeder Hinsicht völlig neue Erfahrung. Von Anfang an war ich mit der schäbigen Rachsucht von tonangebenden Kreisen der Hindi-Literaten in Indien konfrontiert. Dieses absurde Theater wurde jedoch durch den Beifall zum Verstummen gebracht, den die Erzählung von den Lesern erhielt, die sie zu einem Bestseller in Hindi und bald darauf auch in anderen Sprachen machte.
Der Roman – eigentlich eine Art überlange Kurzgeschichte – wurde wie das Drehbuch einer Seifenoper im Fernsehen in Episoden verfasst und allmonatlich in der populären Hindi-Literaturzeitschrift Hans veröffentlicht. Zunächst handelt es sich um eine Lovestory, die sich zwischen Anjali und ihrem Freund Rahul entwickelt. Die Angelegenheit verwandelt sich jedoch in die Geschichte eines erbitterten, grausamen Kastenkonflikts, da die beiden arglosen jungen Liebenden zwei diametral entgegengesetzten Kasten innerhalb der Hindu-Gemeinschaft angehören. Die eine Kaste (Brahmanen) fordert Respekt, stellt sie doch den »Kopf« der religiösen Hierarchie dar, und die andere (Shudras) nimmt, da sie den Status der »Füße« besitzt, die unterste Rangstufe ein. Wie können Füße von einem Liebesverhältnis mit dem Kopf auch nur träumen? Können überhaupt Füße mit dem Kopf Liebe machen? Das ist unmöglich – sowohl in der Praxis als auch im übertragenen Sinne. Zu träumen, zu lieben, zu reden und alles andere ist gemäß den Schriften, die für den Kopf verfasst wurden, für die Füße verboten.
Durch diesen Roman wurde mir erstmals klar, dass jede Sprache als eine Arena dient, als Epizentrum aller soziokulturellen Konflikte um die Macht. Sprache ist das Drehkreuz des Gewissens einer jeden Gesellschaft. Sie ist das Nervenzentrum, ein nicht wahrnehmbarer Innenbereich der Gesellschaft. Verborgen im ruhenden Zentrum der Sprache liegen die Aktionsprogramme von Menschen aller Ethnien, Hautfarben, Geschlechter oder Kasten mit ihrem Hass und ihrem Argwohn gegenüber den jeweils anderen.
Rahul ist für die Kaste, der Anjali angehört, der »Andere«. Genauso stand ich als Schöpfer dieser Figur als der »Andere« gegenüber einer Kaste da, die in fast allen Bereichen tonangebend ist – in den Medien, im Bildungswesen, in der Regierung, im gesamten Gemeinwesen, das mit meiner Sprache verbunden ist, mit dem Hindi.
In einer Lebensphase, in der ich von überall her Angriffe zu ertragen hatte, nahm die Popularität dieses Romans überraschenderweise von Tag zu Tag zu. Er wurde besonders bei den jungen Lesern beliebt, quer über die Grenzen von Kaste, Hautfarbe und Glaubensrichtung hinweg. Und was noch bemerkenswerter ist: Manche, die sich den Herausforderungen einer Welt im raschen Wandel stellen, blicken skeptisch auf bestimmte mittelalterliche und vormoderne kulturelle Mikrostrukturen und betrachten diese als obskur und überflüssig. In kürzester Zeit wurde Das Mädchen mit dem gelben Schirm in mehrere indische Sprachen, einschließlich Englisch, übersetzt und in Sonderausgaben von Literaturzeitschriften und Magazinen in ganz Indien wiederholt abgedruckt. In Pakistan erschienen zwei Urdu-Versionen von zwei verschiedenen angesehenen Übersetzern.
Meine Erfahrung hat mir die Augen geöffnet, dass in der Hindu-Gesellschaft jene, die sich lautstark gegen kommunalistische, religiöse oder ethnische Konflikte in der indischen Gesellschaft aussprechen, auffallend still bleiben, wenn es dabei um ihre eigene Rolle geht. Es ist eine Farce, wenn jemand laut seine Stimme gegen Imperialismus, Faschismus und den Kapitalismus multinationaler Konzerne erhebt, sich jedoch über die Kastenunterdrückung in nächster Nähe ausschweigt.
Ich hoffe, dass alle, die sich für das heutige Indien und seine einfachen Menschen interessieren, etwas davon in der schlichten Liebesgeschichte von Anjali und Rahul erkennen, die sich so komplex, turbulent und chaotisch entwickelt.
Wenn ich auf Gabriel García Márquez zurückgreifen darf, so ist Das Mädchen mit dem gelben Schirm die Geschichte einer »Liebe in den Zeiten der Cholera«. Einer jugendlichen Liebe inmitten einer sozialen Umwelt, die in ihren widerwärtigen und völlig verkommenen Traditionen befangen ist.