Auf die Frage, was Schreiben für sie heiße, meinte Patricia Grace kürzlich in einem Interview, zunächst schaue sie in sich hinein, um zu entdecken, was dort zu finden sei, was sie sich angeeignet habe und worüber sie Bescheid wisse, kurz, was Teil ihrer selbst sei. Darauf folge ein Prozess krea-tiver Gestaltung, durch den das im Inneren Befindliche bewusst gemacht werde. Ein Vorgang, so ließe sich hier ergänzen, der poetisch umschrieben zu Beginn von Potiki auch die künstlerische Arbeit des Schnitzers auszeichnet, mit der den im Holz verborgenen Figuren ans Licht verholfen wird: »Aus der Mitte, aus dem Nichts, aus dem, was man nicht sieht, aus dem, was man nicht hört, da kommt ein Schieben, ein Rühren und ein Vorwärtskriechen …«
Zugleich, so fügte Grace hinzu, habe sie stets versucht, sowohl aus der Sicht der Pakehas zu schreiben, der weißen Bevölkerung des Landes, wie auch aus der der Maoris, der polynesischen Ureinwohner von Aotearoa. Angesichts ihrer Herkunft – der Vater war Maori, die Mutter Pakeha – verwundert das nicht, wuchs Patricia Grace doch in einer gemischt-kulturellen Umgebung auf. Dies mag auch erklären, warum ihre besondere Aufmerksamkeit stets menschlichen Beziehungen gilt, ganz gleich, ob ihre Erzählungen nun um eine Familie oder eine größere Gemeinschaft kreisen, ob es sich um geistige Beziehungen, solche zum Land oder zur Umwelt handelt, oder ob unterschiedliche Kulturen im Mittelpunkt stehen.
Ergänzt werden sollte aber auch, dass Patricia Grace mit ihrem Schreiben, das sie durchaus als politisches Handeln verstanden wissen will, die Maori-Literatur fördern und junge Autoren ermutigen möchte. Vieles aus der eigenen Kultur sei den Pakehas, ja selbst den Angehörigen »der eigenen Rasse«, wie sie die Maoris immer wieder nennt, noch zu vermitteln. Vieles, was die Älteren aus der mündlichen Überlieferung bewahrt hätten, sei noch aufzuschreiben und so vor dem endgültigen Vergessen zu retten. Und auch die eigene Sprache, die sie als Kind weder erlernen konnte noch durfte, müsse wieder ihre Bedeutung zurückerhalten.
Ein solches Selbstverständnis der bekanntesten Maori-Schriftstellerin lässt sich mühelos der noch kurzen Tradition der englischsprachigen Maori-Literatur zuordnen, die, vom Werk einiger Vorläufer wie dem Dichter Hone Tuwhare abgesehen, Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre einsetzt und eng mit dem Beginn von Maoritanga, der politischen und kulturellen Renaissance der polynesischen Minderheit Neuseelands, verknüpft ist. War zunächst Witi Ihimaera mit seinem Erzählband Pounamu, Pounamu (1972) und dem Roman Tan-gi (1973) zu deren Wegbereiter geworden, so stellte sich mit Graces Kurzgeschichtensammlung Waiariki 1975 zum ersten Mal eine Maori-Autorin mit einem englisch verfassten Werk vor. Hier wie in ihrem Roman Mutuwhenua – The Moon Sleeps (1978) und einigen Geschichten im zweiten Erzählband The Dream Sleepers (1980) stehen neben Maoris auch Pakehas im Mittelpunkt der Handlung. Zentraler jedoch für Graces Schreibweise während dieser ersten Phase ihrer literarischen Entwicklung – wie im Übrigen auch für die der englischsprachigen Maori-Literatur allgemein – sind eine Erzählhaltung und ein Ton, die der neuseeländische Kritiker Peter Beatson trotz seiner überspitzten Formulierung nicht ganz zu unrecht als »ein Wehklagen, ein nostalgisches Zurückblicken auf den Untergang einer vergangenen Welt« bezeichnet hat; als eine Literatur, »die es nicht darauf anlegt, den weißen Leser allzu sehr zu beunruhigen«.
Dies allerdings beginnt sich gegen Ende der Siebziger- und vor allem im Verlauf der Achtzigerjahre vor dem Hintergrund einer Reihe bedeutsamer politischer Ereignisse erheblich zu ändern. Hierzu zählen 1975 der Landmarsch der Maoris vom Norden der Nordinsel nach Wellington und die Auseinandersetzungen um ihren Besitzanspruch auf das Gelände der Raglan Golfanlage und auf Bastian Point in Auckland, die sich über die Jahre 1977 und 1978 hinziehen. Das dramatische Geschehen in Potiki stellt hier den vielleicht unmittelbarsten Bezug eines literarischen Maori-Textes zu den politischen Auseinandersetzungen jenes Zeitabschnittes dar. Nicht nur Tokos Geschichte von Te Ope erinnert an die Ereignisse in Raglan und Bastion Point und verleiht ihnen so Vorbildcharakter für das Handeln der Tamihana-Gemeinschaft in Potiki; auch die Wertschätzung, die das Land und die Gemeinschaft in diesem Roman ebenso erfahren wie der Widerstand seiner Menschen gegen den Versuch der Pakehas, die Maori-Kultur für marktwirtschaftliche Zwecke zu vereinnahmen, verkörpern das gewachsene Selbstbewusstsein der Maoris in einer Zeit, die endgültig Abschied genommen hat von jeglicher nostalgischen Verklärung einer glorreichen Vergangenheit und von der so häufig praktizierten passiven Hinnahme ihrer Unterdrückung. So rückt denn auch jene Beschäftigung mit den Pakehas – oder besser mit der Beziehung zwischen Weißen und Maoris, die für Grace in Mutuwhenua eine so wichtige Rolle gespielt hatte – in den Hintergrund, während die Ausformulierung und praktische Umsetzung der eigenen kulturellen Werte und Vorstellungen deut-lich die Thematik der gegenwärtigen Maori-Literatur prägt. Einen vorläufigen Höhepunkt bieten hier zweifellos die Romane Potiki, The Matriarch (1986) von Ihimaera, Once Were Warriors (1990) von Alan Duff sowie Patricia Graces unlängst erschienene Erzählung Cousins (1991).
Der Prozess der Behauptung und Bestätigung der eigenen kulturellen Identität erfährt darüber hinaus Bekräftigung durch den Wert, der nun der eigenen Sprache sowohl für den täglichen Umgang wie auch als literarisches Ausdrucksmittel zugemessen wird. Hiervon zeugt zum einen das Anwachsen der Maori-Literatur und zum anderen ein veränderter Sprachgebrauch in den englischen Texten. Zwar rücken Grace, Ihimarea, Duff, Keri Hulme und eine stetig wachsende Zahl international noch kaum bekannter Autoren nicht grundsätzlich von der Verwendung des Englischen ab, doch wie in Potiki ziehen auch sie immer stärker die eigene Sprache in ihren Werken heran, verwenden Maori-Wörter, Redewendungen und Sätze und erläutern sie in Glossaren. Grace weicht in ihrem Roman zum ersten Mal von der Praxis ab, Maori zu erläutern, denn wie sie meint, verfügten auch Maori-Leser nie über Glossare, wenn sie sich mit fremdsprachigen Texten beschäftigen mussten. Nicht erst in Potiki, sondern schon in »A Way of Talking«, der Eingangsgeschichte von Waiariki, führt Grace ihren Lesern vor Augen, wie wichtig es für das Selbstverständnis der Maori-Schriftsteller ist, sich die eigene Sprache wieder anzueignen und sie zu rehabilitieren. Denn nur so lassen sich die hier aufgehobenen kulturspezifischen Inhalte bewusst machen und in ihrer Gültigkeit für die Gemeinschaft bestätigen. Das eigene kulturelle Erbe, das sich in Bezeichnungen wie »whanau« und »iwi«, »marae«, »wharenui«, »papakainga« und »urupa«, »mana«, »maui«, »karakia« und »tangi«, »tekoteko« und »poupou«, aber auch in den Mythen und Geschichten um Tumatauenga und Maui, Potiki und Rohana mitteilt, bekräftigt in den Worten des Kritikers Roger Robinson »die besondere Beziehung zwischen der einzelnen Stimme und der der Gemeinschaft, zwischen der ›verborgenen Sprache im Inneren‹ und der Macht der gemeinsam gesprochenen Sprache«. In gewisser Weise lässt sich dies auch für den englischen Sprachgebrauch in Potiki behaupten, denn Graces Gespür für den Rhythmus und die Melodik des Maori befähigt sie, das fremde Idiom umzugestalten und den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Wortumstellungen, durch die die übliche Satzstruktur verändert wird, wörtliche Übersetzungen vor allem in der direkten Rede, ja, ganz allgemein die häufige Verwendung der gesprochenen Sprache und der Einbezug von Gedichten und Liedern verweben sich in Potiki zu einem Stil, den Robinson zutreffend »orale Prosa« nennt. Damit aber verschafft Patricia Grace nicht nur der Stim-me der Maoris weit über den Kreis ihres eigenen Volkes hinaus Gehör, sondern reiht sich auch in die Gruppe jener Schriftsteller ein, die die fremde englische und ihre Muttersprache dazu benutzen, Grenzen zu überschreiten und so zu einer interkulturellen Verständigung beizutragen.