Zur Legende eines göttlichen Schmökers
1839 erscheint in England die Erstausgabe von The Phantom Ship, Das Geisterschiff, ein Abenteuerroman des Frederick Marryat. Im Frühsommer des gleichen Jahres verlässt die »Thetis« den ostpreußischen Hafen Pillau, um nach London zu segeln. An Bord befindet sich ein junger Passagier sächsischer Mundart, der, von Schulden gedrückt, von Gläubigern verfolgt und bedrängt, die Stadt Riga, an deren Theater er den Posten eines Musikdirektors bekleidet hatte, verließ, um die Flucht über London nach Paris zu versuchen. In seinem Gepäck hat er die Partitur einer halb vollendeten Oper, Rienzi, nach Motiven des englischen Schriftstellers Bulwer. Der junge Mensch heißt Richard Wagner.
Nach anfänglich glatter Fahrt gerät das Schiff vor Norwegens Felsenküste in wütende Stürme. Dreimal droht ihm das Scheitern. Dreimal gelingt es der Umsicht des Kapitäns, die »Thetis« in einen Fjord zu steuern und Leib und Leben von Mannschaft und Passagieren zu retten. Hätte der Kapitän die Nerven verloren, wäre das Schiff »Thetis« – ein Spielball der Wellen – im Widerstreit der Elemente untergegangen, dann hätte das romantische Musiktheater der Deutschen nimmermehr das schaurige Treuegelöbnis der blonden Senta vernommen, die sich, schrecklich zu denken, schrecklich zu hören, einem fluchwürdigen Phantom anvermählt:
Er sucht mich auf, ich muss ihn sehen,
Mit ihm muss ich zugrunde gehen.
Tatsache ist jedoch, dass der neunundzwanzigjährige Richard Wagner, als der »Thetis« der Untergang drohte, seine folgenreiche Begegnung mit dem Geisterschiff des Kapitäns Marryat, will sagen, mit dem fliegenden Holländer hatte. »Die Sage vom fliegenden Holländer, wie ich sie aus dem Munde der Matrosen bestätigt erhielt, gewann in mir eine bestimmte poetische Farbe«, entsinnt er sich später (1842) in seiner autobiografischen Skizze. Und: »Der fliegende Holländer, dessen innige Bekanntschaft ich auf der See gemacht hatte, fesselte fortwährend meine Fantasie; dazu machte ich die Bekanntschaft mit H. Heines eigentümlicher Anwendung dieser Sage in einem Teile seines Salons.«
»Die Fabel von dem fliegenden Holländer ist Euch gewiss bekannt. Es ist die Geschichte von dem verwünschten Schiffe, das nie in den Hafen gelangen kann, und jetzt schon seit undenklicher Zeit auf dem Meere herumfährt. Begegnet es einem anderen Fahrzeuge, so kommen einige von der unheimlichen Mannschaft in einem Boote herangefahren und bitten, ein Paket Briefe gefälligst mitzunehmen. Diese Briefe muss man an dem Mastbaum festnageln, sonst widerfährt dem Schiffe ein Unglück, besonders, wenn keine Bibel an Bord oder kein Hufeisen am Fockmaste befindlich ist. Die Briefe sind immer an Menschen adressiert, die man gar nicht kennt oder die längst verstorben, sodass zuweilen der späte Enkel einen Liebesbrief in Empfang nimmt, der an seine Urgroßmutter gerichtet ist, die schon seit hundert Jahr im Grabe liegt. Jenes hölzerne Gespenst, jenes grauenhafte Schiff, führt seinen Namen von seinem Kapitän, einem Holländer, der einst bei allen Teufeln geschworen, dass er irgendein Vorgebirge, dessen Namen mir entfallen, trotz des heftigen Sturms, der eben wehte, umschiffen wolle, und sollte er auch bis zum Jüngsten Tage segeln müssen. Der Teufel hat ihn beim Wort gefasst, er muss bis zum Jüngsten Tage auf dem Meer herumirren, es sei denn, dass er durch die Treue eines Weibes erlöst werde. Der Teufel, dumm wie er ist, glaubt nicht an Weibertreue und erlaubte daher dem verwünschten Kapitän, alle sieben Jahr einmal an Land zu steigen und zu heiraten, um bei dieser Gelegenheit seine Erlösung zu betreiben. Armer Holländer! Er ist oft froh genug, von der Ehe selbst wieder erlöst und seine Erlöserin loszuwerden, und er begibt sich dann wieder an Bord.«
So Heinrich Heines eigentümliche Anwendung der alten Seemannssage, die wir in dem berühmten siebten Kapitel seines 1834 gedruckten Romanfragments Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski lesen. Trotz ihrer Lückenhaftigkeit ist Heines Digestfassung der ominösen Matrosenlegende vorzüglich geeignet, die kritische Fantasie lesender Amateure auf die von Kapitän Marryat nur kursorisch ins Bild gerückten Hintergrundphänomene der Abenteuer- und Gespensterhandlung zu lenken: Die »Dummheit« des Teufels! Diese famose Unlust des fluchbeladenen Seemanns, sich »erlösen« zu lassen! Und die Qualität des Horriblen, die in diesem Zusammenhang die an sexuelle Hörigkeit grenzende Treue eines zu allem bereiten Weibsbildes hat!
Mit einem Nagel durchs Hirn am Mastbaum befestigt, nimmt der Capitano des Gespensterschiffes von Wilhelm Hauff in der Geisterwelt der deutschen Romantik einen dauerhaften Ehrenplatz ein. Wilhelm Hauffs Geschichte vom Gespensterschiff, in seinem Märchenalmanach auf das Jahr 1826 erschienen, durch die Rahmenerzählung Die Karawane mit einem schmucken orientalischen Kostüm ausgestattet, wird in ihrer grausigen Kleinmalerei von keiner Episode, die Marryats Roman zur krassen Moritat macht, übertroffen. Und auch das Erlösungsmotiv – eine Handvoll Erde, auf das Haupt des lebenden Leichnams gestreut, reicht aus, das arme Gespenst der Meere in Staub zerfallen zu lassen – geriet dem deutschen Märchenerzähler so sinnreich, dass danach und daneben diese ganze große Entsühnungsmaschinerie, die Marryat und Richard Wagner ansetzen mussten, fast unbeholfen erscheint. Doch obwohl Hauffs poetisch schöne und dichterisch filigrane Variante in nuce fast alles einschließt, was Seeleute vieler Nationen und Zeiten von den Geisterschiffen wissen, wähnen und munkeln, mangelt ihr ganz jener heroisch rebellische Zug, der die Erscheinung des fliegenden Holländers in der maritimen Bilderwelt des Frederick Marryat zu einer großartigen Galionsfigur macht. Um ein fliegender Holländer oder seinesgleichen zu werden, genügt es eben nicht, einen frommen Derwisch zu plagen oder ein Lästerwort auszustoßen, das man in Gesellschaft von Damen und Kindern vermeidet, da muss man sich mit dem Herrn des Bösen schon selber verschwören, in diesem wütenden Übermut, der unser gutes Schiff, aller Erfahrung entgegen und jeder Hoffnung zuwider, das Kap der Stürme ansteuern lässt. Nur wer dieses Spiel wagt, verfällt mit Leib und Seele jener grandiosen Verdammnis, gegen die sogar ein Span vom Kreuze des Heilands nur wenig ausrichten kann.
So bleibt der Nagel, der den Kopf des Kapitäns an den Mastbaum seines Schiffes heftet, das Requisit moralisierender Laune. Der Fluch aber, der den fliegenden Holländer umtreibt, zeugt keinen Schmerzensmann, sondern einen Günstling des Unheils, einen Freibeuter der Vernichtung, den Ahasver der Taifune, den fliegenden Holländer eben.
»Käpt’n« Frederick Marryat, Sohn vermögender Eltern, wurde am 1o. Juli 1792 in London geboren. Er hatte vierzehn Geschwister, von denen neun überlebten. Die Töchter der Marryats werden als hübsch und elegant, die Knaben als wild, aber talentvoll geschildert. Joseph, der Älteste, wurde bekannt als Autor eines der ersten Standardwerke über Porzellanmanufaktur. Sein jüngster Bruder tritt nachmals als Reiseautor und Verfasser eines Berichts über die Zustände in Dänemark hervor. Eine Schwester, verheiratet, schreibt ein Lehrbuch über weibliche Handarbeit. Eine andere, Emily, verrät pädagogische Neigung, sie wird ihn während seiner letzten Lebens-wochen pflegen und sich nach seinem Tod (1848) um seine Kinder kümmern. Seine Mutter, die geborene von Geyer, ist eine deutschstämmige Amerikanerin, der Vater, stockenglisch, ein »fürstlicher Handelsherr«, beliebt und angesehen bei Hofe. Als Zögling der Internatsschule Ponder’s End, die er bis 1805 besucht, kann Frederick nicht durch Leistungen imponieren. Seine natürliche Intelligenz wird aufgewogen durch Faulheit. Bemerkenswert ist jedoch sein Zeichentalent.
»Seit unvordenklichen Zeiten existiert der heidnische Brauch, den größten Dummkopf der Familie dem Wohlstand des Landes und der Vormachtstellung seiner Flotte zu opfern, und so wurde ich im Alter von vierzehn Jahren als Opfer ausersehen«, behauptet der Titelheld und Ich-Erzähler des Peter Simple (1832–33), der – wie schon sein erster größerer Roman The Naval Officer (1829) und fast alle anderen unterhaltenden Bücher Marryats – Ereignisse aus der seemännischen Biografie des Autors frei nachfabuliert. Ob sein Vater ihn für einen Dummkopf hielt, mag dahingestellt bleiben, wahr ist, dass der vierzehnjährige Frederick Marryat am 23. September 18o6 im Hafen von Plymouth an Bord der den Spaniern weggekaperten, mit 38 Kanonen bestückten »Imperieuse« seine Karriere als »Seeheld« in der Kluft des gemeinen Matrosen begann. Das Schiff unterstand dem Kommando des jüngeren Lord Cochrane, eines vorzüglichen Offiziers, der später in Marryats Romanen immer wieder für die Ideal-figur des Großen Kapitäns Modell stehen wird.
Für den an Wohlstand und Luxus gewöhnten Sohn des »fürstlichen Kaufmanns« jedoch wurde der erste Eintritt in die Unterwelt von Englands stolzer Marine zum nie verwundenen Schock. Barsch, roh, gemein, rau und vulgär reichen als Adjektive nicht aus, um Ton und Sitten dieses oft zum Seedienst gepressten oder durch Gier nach Kriegsbeute angelockten Gesindels zu illustrieren, in dessen unflätiger Kumpanei dem Schiffsjungen Frederick Marryat keine der physischen und moralischen Beleidigungen erspart blieb, mit denen die Hölle der Deklassierten ihren Opfern aufzuwarten beliebt. Wenn Marryat es während seiner ersten Ausfahrt dennoch erlernte, sich in diesem Milieu und gegen es zu behaupten, dann verdankte er das seiner guten körperlichen Kondition – schon als Internatsschüler hatte er beim Nachsagen schwer verdaulicher Texte gern den Kopfstand geübt – und einem zumal unter Seeleuten ungewöhnlichen Mangel an Wasserscheu. Als vor Malta ein Günstling des Kapitäns, ein übler Bursche ansonsten, bei hoher See über Bord ging, sprang Marryat ihm nach, holte ihn lebend heraus und gewann sich damit den ersten Freund seiner Marinelaufbahn. Er schildert diese Episode in Jacob Faithful, 1830. Seitdem war er aufs Rettungsschwimmen geradezu spezialisiert, eine Disziplin, die – wie auch die Leser des Geisterschiffs dank der Vielzahl der durch dasselbe ausgelösten Unglücksfälle erraten – zu Zeiten der Segelschifffahrt durchaus noch kein selbstverständlich geübter Seemannsbrauch war.
Zwischen Marryats maritimem Debüt in der Mannschaftskajüte und seinem ersten Kommando als Schiffskapitän liegt nur ein knappes Jahrzehnt. Doch diese wichtigste Etappe seiner Seemannskarriere schließt eine Sequenz weltgeschichtlicher Ereignisse ein, die das Lebensabenteuer unseres Helden entscheidend geprägt und den Motivkreis seiner Romane mitbestimmt haben. 1805 hatte Nelson bei Trafalgar die vereinigten Flotten Frankreichs und Spaniens geschlagen. 1815, nach Waterloo und Napoleons Verbannung nach St. Helena, sichert der zweite Pariser Friede Großbritannien die Vorherrschaft auf allen Meeren der Welt. Das Drama, das sich in der Zwischenzeit auf dem Wasser abspielte, gleicht einem einzigen großen Seeräuberstück, dessen grässliches, aber grandioses Szenario nur von einer Fantasie ausgemalt werden kann, die nach der Lektüre sämtlicher See- und Abenteuerromane des Kapitän Marryat noch bereit wäre, den Autor des Geisterschiffs für den nüchternen Chronisten realer Begebenheiten zu halten.
An Bord der »Imperieuse«, deren großer Kapitän als Kaperschiffer und Blockadebrecher so erfolgreich war, dass Napoleon selbst ihn »Wolf der Meere« genannt hat, zahlte man den Mannschaften Kopfgeld für jeden gefangenen, getöteten oder nach der Versenkung eines Schiffes ertrunkenen Gegner. Ob Frederick Marryat, im Kampf der Schiffe selbst wenigstens dreimal verwundet, seine Caprice, sich als Rettungsschwimmer zu üben, auch auf Individuen ausgedehnt hat, für deren Tod die Extragage winkte, wird nicht überliefert. Immerhin wäre es möglich, dass diese fast spleenige Aversion gegen die Gier nach dem Mammon, die immer wieder auch in die Handlung um das Geisterschiff einfließt, das Produkt eines Traumes, Andenken nämlich an die goldene Zeit der legalisierten Freibeuterei ist, in welcher die Wölfe des Meeres unter Englands Flagge ein Seereich erkämpften, das sich von der Nordsee bis tief in den Stillen Ozean ausdehnte.
Die Militärs haben recht, wenn sie den Frieden nicht mögen. Mit seiner Beförderung zum Commander hat der erst 23-jährige Marryat, dem Kriege sei Dank, zwar im Sturmschritt gewonnen, was sich andere Berufsoffiziere erst in Dezennien verdienen – doch seine Marinelaufbahn erreicht damit auch schon den Zenit. Um der Verbitterung auszuweichen, die einen ehrgeizigen, fähigen und temperamentvollen Menschen, dessen berufliche Karriere umständehalber ins Stocken gerät, unweigerlich trifft, nutzt der Käpt’n seine ihm zwischen 1815 und 1830 allzu reich bemessene Freizeit zur Erweiterung seines zivilen Weltbildes aus. Er reist – als »Tourist« – in die Schweiz, nach Italien, liest wohl auch Bücher, und entwirft, schreibt, zeichnet einen Code of Signals zum Gebrauch für die Handelsmarine, der schon 1817 gedruckt und 1829 zum vierten Mal aufgelegt wird. Er spielt mit dem Gedanken, an einer wissenschaftlichen Expedition nach Fez und Timbuktu teilzunehmen, aber da kommt eine dieser banalen Liebesaffären dazwischen, die freilich in diesem besonderen Fall 1819 zur Eheschließung mit der allenfalls landläufig hübschen, einzigen Tochter Sir Stephan Shairps führt. Cathrine (Kate) Marryat gebiert im Laufe dieser für das Bild des Kapitäns sonst farblosen Ehe elf Kinder, darunter vier Knaben, insgesamt sieben davon bleiben am Leben. Hier muss erwähnt sein, dass Frederick Marryat nicht nur kinderlieb war, sondern Kinder auch ernst nahm. Das ist wichtig, denn es berührt ein Motiv seiner Schrifstellerei.
Den Verdruss nicht gerechnet, als Kapitän ohne Schiff bei der Admiralität antichambrieren zu müssen, bleibt das Leben des Seemanns an Land frei von Unbill und Sorgen. Auf dem Besitz seines vermögenden Vaters findet seine Familie eine standesgemäße Unterkunft, und nach dem Tod des reichen Handelsherrn kommt er in den Genuss eines in der Tat fürstlichen Erbes. Er kann es sich nun sogar leisten, seinen eigenen Berufsstand und Großbritanniens ruhmreiche Flotte durch die Niederschrift wahrheitsgetreuer Seemannsromane öffentlich zu diskreditieren. Während er 1829 als Kapitän eines Frachters, der nach den Azoren ausläuft, sein letztes Kommando antritt, erscheinen in England, zunächst anonym, The Naval Officer und The King’s Own. Die beiden Bücher begründen seinen Ruhm als unterhaltsamer Marineschriftsteller und berauben ihn zugleich der Chance, in Diensten der britischen Seefahrt noch aktiv Karriere zu machen.
Nachzutragen ist, dass Marryat 1825 in Würdigung seiner Verdienste bei der Belagerung von Rangoon und in den Burmakriegen Rang und Titel eines »Kapitän 1. Klasse« erhielt und nach einem erfolgreichen, ruhmlosen, im Ganzen aber nicht unvergnüglichen Schriftstellerleben, am 9. August 1848, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, starb. Eine Abteilung Blau-jacken von der Küstenwache gab ihm das letzte Geleit.
Die Frage, wie und warum aus dem in Krieg und Frieden bewährten Seeoffizier ein unterhaltender und belehrender Populärschriftsteller wurde, der seiner Lesergemeinde fast alljährlich mit einem neuen Roman aufwartet, rührt keine Geheimnisse auf. Sein natürliches Erzähltalent, seine pragmatische Fantasie, sein von »künstlerischen Ambitionen« kaum getrübter Sinn für starke, auch brutale Effekte, diese kernige Mischung aus romantischer Allüre und redlichem Realismus, dazu jene commode Puritaner-moral, die des lieben Gottes undurchschaubaren Ratschluss als Richtschnur menschlichen Wohlverhaltens betrachtet und dabei die Präsenz des Teufels nicht ignoriert – dies alles zusammengenommen stellt für den Publikumsgeschmack der Dickens-Zeit nachgerade einen belletristischen Idealtypus vor. Ein Autor, der so marktgerecht schreibt, wird von der offi-ziösen Literaturkritik seiner Epoche zwar als oberflächlich und unernst verpönt, doch der jüngere Dickens bekundet ihm amüsierten Respekt, und Joseph Conrad hat ihn postum als den erstaunlichsten Seeschriftsteller Englands bezeichnet. Für Generationen deutschlesender Kinder verbindet sich die Figur des Kapitän Marryat mit Name und Gestalt eines Helden, der nach Robinson Crusoe der famoseste Schiffbrüchige zweier Jahrhunderte blieb: Sigismund Rüstig.
Die Entstehungslegende von Masterman Ready or The Wreck of the Pacific wirft ein freundliches Licht auf das Arbeitsethos des fleißigen Schriftstellers Marryat. Er war zur Niederschrift dieses 1841/42 publizierten Jugendbuchs durch seine eigenen Kinder angeregt worden. Sie hatten nämlich nach der Lektüre des inzwischen zu Recht vergessenen Schweizerischen Robinson von Johann David Wyss (1743–1818) den Vater gefragt, ob er nicht auch einmal ein Abenteuerbuch in dieser Art schreiben könne. Aber just in dieser Art, fand der Kapitän, dürfe man Kindern nicht kommen, denn Jugendbücher sollten unter allen Umständen auf Wahrheit beruhen und der Schweizerischen Robinson war voll nautischer Unmöglichkeiten und geografischer Absurditäten. Deshalb schrieb er nun selbst eine »richtige« Robinsonade, die sachlich fehlerlos und in der Erfindung glaubwürdig sein sollte. So kams zum Schiffbruch der Pacific, mit all diesen schrecklichen und rührenden Folgen, die dem guten alten Steuermann Ready Gelegenheit geben, den Kindern des Ehepaars Seagrave aus Sidney zu zeigen, wie man mit Gottes Hilfe und tapferem Mut aus einer unbewohnten Koralleninsel im Indischen Ozean ein irdisches Paradies machen kann, aber auch, wie schlimm sich der Leichtsinn kleiner Jungen, die in der Stunde der Gefahr ihre Pflicht nicht erfüllen, rächt, weil sie daran schuld sind, wenn ihr bester Freund für sie den Opfertod leidet. Das ist gut und schön für größere und kleinere Kinder und ungemein lehrreich, obwohl der Zauber des Buches nicht aus seinen moralischen Qualitäten und nicht aus der Fülle des Unterrichtenden wächst, sondern aus seinem »Duft«. Auch der Schiffbruch der Pacific ist vor allem ein »göttlicher Schmöker«!
»Schmok« ist ein niederdeutsches Wort für Rauchiges. Ich schmoke mein Pfeifchen. Es qualmt. Ich lese und rauche dabei, ich lese und rauche, rauche und lese, das Buch vergilbt mir unter den Händen, aber ich lass es nicht aus. Ein dergestalt verräuchertes Buch wird Schmöker genannt. Das Attribut »göttlich« ziert einen Schmöker etwa in dem Sinn, wie es in der ersten Glanzzeit des Kinos einigen wenigen Filmstars beigegeben wurde, es spielt auf die Qualität der Unkritisierbarkeit, des gleichsam existenziell Entwaffnenden an. Ein göttlicher Schmöker kann ein literarisches Kunstprodukt sein, mit Anstand geschrieben, von ernster Stilgesinnung und einem schönen moralischen Anspruch geprägt. Aber er kann auch das Gegenteil sein: ein spekulatives Machwerk, ein nichtswürdiges Monst-rum, ein Unflat in Worten und Sätzen. Das Wunderliche ist nur, dass sich nach der Lektüre eines göttlichen Schmökers diese Alternative nicht stellt. Denn ich begegne ihm nicht wie einem geschriebenen Buch, sondern ich falle ihm anheim wie einer Droge.
Ich wurde berauscht. Ich bin das Objekt einer Handlung geworden, in die ich nicht eingreifen kann. Ich habe geträumt. Ich kann mich daran erinnern, dass z. B. dieser Roman Das Geisterschiff streckenweise von pathetisch frömmelndem Leerlauf war. Von der Segelschiffahrt nur das Übliche wissend, stieß ich mich zuweilen auch an der seemännischen Nomenklatur. Wäre Käpt’n Marryat ein Koch, sein Buch ein Menü, der Konsument müsste über Blähungen klagen, den Koch zur Rede stellen, das Aufgetischte analysieren. Aber wie? Ich kann nur bemerken, dass ich keine Lust dazu habe, weil das sogenannte Licht der Vernunft über der Szene verlosch, solang ich der Teilnehmer der auf dieser (nun für mich magischen) Szene begangenen Aufführung war. Kein Aber und Ob, die Einverleibung des Lesers durch ein »verschlungenes« Buch. Literarische Piraterie.
Wäre ich Kapitän Marryats puritanischer Gott, dann würde ich sein Geisterschiff als einen Roman definieren, der des Teufels ist und dessen Lektüre mit zeitlicher Verdammnis (vergleiche den Vater des Helden) bestraft wird. Allein – »er sucht mich auf, ich muss ihn sehen. Mit ihm muss ich zugrunde gehen« – mir bleibt nur zu sagen und ich schreibe es in großen Buchstaben hin:
DIES IST DER PROTOTYP DES GÖTTLICHEN SCHMÖKERS.