Eine Recherche
Als ich den Auftrag zur Übersetzung des Romans Gran Sol von Ignacio Aldecoa bekam, ahnte ich, nach allem, was ich darüber gehört hatte, dass es sich um eine übersetzerische Herausforderung handeln würde. Nachdem ich die dreihundert Seiten des Buches gelesen hatte, war ich mir sicher: da stand komplexe Arbeit ins Haus; denn wie sollte ich einen Text bewältigen, den selbst Muttersprachler mir nach der Lektüre von zehn, zwanzig Seiten mit der Bemerkung zurückgaben: «Man versteht es oft nicht; aber es klingt sehr poetisch.»
Ich bekam den Auftrag im Oktober 2004, im November begann ich mit der Arbeit, und im Mai 2005 war die Rohfassung fertig. Was sich von Anfang an abgezeichnet hatte, fand ich am Ende bestätigt: ohne umfassende Recherchen auf den Spuren der Fischer von Gran Sol, bei Fischkutterexperten und ohne Besichtigungen an Originalschauplätzen war an keine vorzeigbare Endfassung zu denken. Zu hermetisch die Sprache, poetisch überhöht, baskisch-spanische Durchwachsungen, Sprachbilder und -figuren, dazu nautisches Vokabular und ältere Fachbegriffe, zum Teil ebenfalls verfremdet. Wörterbücher, Internetrecherche und Nachfragen bei Kollegen, die an ähnlichen Themen arbeiteten, brachten keine befriedigenden Ergebnisse.
Der Autor hatte das Buch 1957 geschrieben, war 1969 gestorben. Mir blieb keine andere Wahl als die Vor-Ort-Recherche, das Graben an den Wurzeln. Um die Stimmungen des Romans einzufangen und im Deutschen adäquat reproduzieren zu können, musste ich Feldforschung betreiben; was ich brauchte, war Seeluft, Fischgeruch, Fischer, Schiffskundige, einen Kutter auftreiben, mit auf Fangfahrt gehen ... Im Juli machte ich mich auf den Weg nach Greetsiel, einem kleinen Hafenstädtchen in Ostfriesland.
Aber wie nicht nur der ostfriesische Fischer so ist: wortkarg und spröde, skeptisch und verschmitzt, eine Seele von Mensch. Als Ortsfremder mit ihm ins Gespräch zu kommen, gar etwas aus ihm herauszukriegen, ist so einfach nicht, grenzt vielmehr an Unmöglichkeit. Das wurde mir klar, als ich mich im Ort einquartiert hatte und mich umzuhören begann, wer wohl für die Beantwortung meiner Fragen in Betracht käme oder mich gar mit auf Fangfahrt nähme. Das sei schwierig, hieß es, außerdem verboten, Versicherungsgründe, die Kapitäne hatten auch schlechte Erfahrungen mit Gästen gemacht, und Fragen, wer beantworte die schon gern. Nach einem langen Abend an der Theke des Gasthauses, an der die resolute Dine Thesen unter Verwendung von allerlei Küstennebel und lokalem Aufgesetzten nach dem rechten Fleck meines Herzens pulte, bekam ich schließlich Namen und Telefonnummern zweier Kapitäne, die sich unter Umständen für meine Zwecke einspannen ließen. Am nächsten Morgen die Enttäuschung: der eine war am Vortag ausgelaufen und würde mindestens fünf Tage auf See bleiben; der andere hatte keine Zeit, keine Lust, kein Interesse, empfahl mich aber seinem Schwager, einem Krabbenfischer, dessen Kahn im Greetsieler Hafen lag. Ganz am Ende der Mole fand ich ihn. Nach behutsam ins Werk gesetztem verbalem Abtasten und Beriechen und schlussendlich in Aussicht gestelltem Kasten Bier erklärte er sich bereit, mir am Nachmittag zuzuhören und meine Fragen nach bestem Wissen zu beantworten.
Ich hatte mir einen Ausdruck der Rohfassung meiner Übersetzung binden lassen und kletterte nun mit diesem Wälzer und dem flüssigen Köder an Deck. Der Koch war auch an Bord, ein Maschinist hatte sich eingefunden, die ersten Flaschen wurden gleich an Deck geleert, die Sonne schien, anfängliche Verständigungsschwierigkeiten schmolzen dahin. Es ist ganz erstaunlich, welch unterschiedliche Sprachen Land- und Wasserratten sprechen. Vermutlich hatte niemand zuvor diesen Männern je solche umständlichen und praxisfernen Fragen gestellt. Gegen Abend verzogen wir uns in die Kombüse – «unsere gute Stube», sagte der Kapitän stolz. Ich blätterte mich durch meine Markierungen im Typoskript, und die drei Experten erklärten mir, dass mein «Toppmastlicht» korrekterweise «Vordermastlaterne» hieß; zeigten mir, wie «Spülpforten» funktionierten; wie ich mir eine «Achterpiek» vorzustellen hatte, solche Sachen. Als die Sonne unterging, waren alle meine Fragen zum Fachvokabular beantwortet. Am nächsten Morgen trat ich mit singendem Kopf die Heimreise an.
Der Roman Gran Sol ist die Geschichte einer Fangfahrt von der kantabrischen Küste zu den Fischbänken vor der Südküste Irlands. Es ist die Geschichte vom Leben und von der Arbeit der dreizehn Seeleute, die auf einem der beiden Schwesterschiffe hinausfahren. Gefischt wird im Gespann mit Schleppnetzen. Eine Havarie verschlägt die Schiffe in den Hafen von Bantry, Grafschaft Kerry. Später stirbt der Kapitän bei einem Unfall an Bord, er wird in Bantry begraben, danach treten die Schiffe die Heimreise an.
Die baskische Fischersprache dieses über weite Strecken dialogischen Romans ist extrem gestrafft und verknappt. Sie gewinnt, nachdem der anfängliche Eindruck von Sprödigkeit gewichen ist, eine Dichte und Rhythmik, die sich der Schwere des Wassers und dem Tanz der Wellen anverwandeln. Neue Wörter, ungewöhnliche Perspektiven und Ausdrücke, ganze Wortkonstruktionen ... ein eigener kleiner Kosmos entsteht.
Im August stand ich im Hafen von Bantry. Ein Kurzurlaub mit der Familie nach Irland ermöglichte den Abstecher dorthin. Auf dem Friedhof fand ich die verwitterten Grabsteine baskischer und galicischer Seeleute; am Ende der Pier sah ich die Wellen hochschlagen und stellte mir vor, wie vor fünfzig Jahren die Einfahrt in den Hafen bei schäumender See gewesen sein musste.
Wesentliche Probleme der Übersetzung hatte ich jedoch immer noch nicht gelöst. Es waren die Ausdrücke, die sich auf Installationen und Verrichtungen an Bord bezogen, aber nicht oder nur mangelhafte Erklärung fanden, weil sie in den Wörterbüchern gar nicht auftauchten oder nur defizitär beschrieben wurden. Ein «guardacalor» musste mehr sein als nur ein Maschinenschacht oder eine Schornsteinverkleidung. Und was war ein «espardel»? Meine spanischen Gewährsleute blieben mir die Antworten schuldig. Umgangssprachliche Begriffe, regional begrenzt, dichterisch verfremdet, die Bilder hervorriefen, welche ich vor mir sah, aber doch noch nicht in Worte zu fassen vermochte. Bei literarischen Übersetzungen ist das nicht ungewöhnlich: der Übersetzer liest das Original einmal, zweimal, es sperrt sich, gibt sich hermetisch, doch man spürt, dass man dem Text beikommen, ihn sich sogar zum Freund machen kann. Am Ende hat man das Original vier oder fünf Mal gelesen und die eigene Übersetzung mindestens so oft. Es ist eine Frage der Beharrlichkeit, der geistigen Kondition, ein Prozess der Anverwandlung letztendlich, der auch mit Leidenschaft zu tun hat.
Im Internet hatte ich ein spanisches Diskussionsforum entdeckt (fast 50 Jahre nach Erscheinen des Buches!), in dem spekuliert wurde, von welchem Hafen die Schiffe aus Ignacio Aldecoas Roman in See gestochen waren. Einer hielt Bermeo für wahrscheinlich, ein anderer Pasajes; ein gutes Argument hatte jener, der Santurtzi ins Spiel brachte.
Ich würde mich also an der baskisch-kantabrischen Küste umhören. Ich musste jemand finden, dem die dortigen Sprachgewohnheiten und -eigenheiten, maritimer Wortschatz und Fachbegriffe eigen waren; jemand, der über die nötige Reflexivität verfügte, um dem verfeinerten Originaltext gerecht werden zu können. Ich sah mir die Landkarte der spanischen Nordküste an, ließ mir Hafenstädtchen und Fischerdörfer beschreiben und erstellte eine Liste: Tazones, Santoña, Santurtzi, Bermeo. Eine irische Fluglinie brachte mich wenige Tage später nach Santander. Von dort aus fuhr ich mit dem Auto die Küste ab: Tazones war zu klein, Santoña zu fein, Santurtzi voller Möglichkeiten, in Bermeo wurde ich fündig.
Zwei Teilnehmerinnen meines Spanischseminars, das bislang jährlich im schweizerischen Boswil stattfand und sich jetzt nach Biel verlagert hat, vermittelten mir die entscheidenden Kontakte: Raquel Ruiz reichte mich vertrauensvoll und virtuell an ihre Bekanntschaft in Vigo weiter, die ein Clan von Seefahrern ist, sich in lokaler Fischereipolitik engagiert und einen Schwager vorweisen kann, der zur See fährt, vielleicht sogar rechtzeitig einen galicischen Hafen anlief, um meine per E-Mail verschickten Fragen mit zu beantworten; Cécile Blarers spanische Mutter war in den fünfziger Jahren Lehrerin in Bermeo gewesen und von den jungen Männern des damals knapp sechstausend Einwohner zählenden Ortes ausdauernd hofiert worden, bevor sie schließlich einen älteren Schweizer heiratete, den sie anfänglich für einen katholischen Priester gehalten hatte. Viele Jahre später war sie mit ihrer Tochter Cécile noch einmal nach Bermeo gereist, und sie hatten dort in einem Hotel übernachtet, das von Don José Manuel Monasterio, einem der früheren Verehrer, geführt wurde.
Mit dieser Referenz kam ich nach Bermeo. Don José Manuel zeigte sich hocherfreut – «Ah, Doña Teresa, ja sicher, Lulu haben wir sie genannt ...» – und vermittelte mich an einen Mann, der mir gewiss würde helfen können. Ich sollte im Fischereimuseum nach Herrn Astui fragen. Noch am selben Abend ging ich los und fragte mich im Museum bis zum dritten Stockwerk hoch, klopfte an eine Tür, auf der «privat» stand. Mir öffnete ein zuvorkommender Mann Anfang vierzig, der sich mein Problem anhörte, das mitgebrachte Buch durchblätterte und, von der Vielzahl von Anmerkungen, Markierungen, Unterstreichungen und Fragezeichen sichtlich beeindruckt, einwilligte, mein aller Wahrscheinlichkeit nach hoffnungsloses Unterfangen, dieses Buch verstehen zu wollen, mit seinem Wissen zu unterstützen. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen; noch vor dem Hotelfrühstück war ich bei ihm.
Aingeru Astui – ein Name, wie er baskischer kaum sein kann – war der Direktor des Fischereimuseums von Bermeo und im ersten Beruf Kapitän der spanischen Handelsmarine; ganz ohne Frage der Mann, der am Ende meiner Suche stand. Er hatte angedeutet, bis zehn Uhr Zeit für mich zu haben, bis halb elf gab es im Hotel Frühstück, das konnte reichen. Und so zogen wir zwei Stunden lang durch das Museum. Ich fragte, er zeigte, erklärte, holte Gegenstände herbei, um zu veranschaulichen, wie diese oder jene Technik gehandhabt wurde; jede Redewendung war ihm geläufig, und er kannte auch den zweiten Hintersinn eines Wortspiels, von dem ich nicht einmal den ersten richtig geraten hatte. Als «guardacalor», beschied er mir, wurde auf den spanischen Kuttern das gesamte Deckshaus bezeichnet. Und er führte mir vor, wie ein Kabelstopper angesetzt wird. Schlag zehn war mein Fragenkatalog durchgearbeitet, nichts war unbeantwortet geblieben. Ich war überglücklich, und Don Aingeru machte ein zufriedenes Gesicht. Ich versprach, ihm meine Übersetzung zu schicken, auch wenn er sie nicht lesen könne. Das sei dann ein guter Anlass, Deutsch zu lernen, antwortete er und empfahl sich lächelnd. Im Hotel hielt Don José Manuel das Frühstück bereit.
PS:
Wieder zu Hause, die Aufarbeitung der neuen Informationen vor mir, fand ich bei der Nachschau der eingegangenen E-Mails die Antwort von Raquel Ruiz’ Bekanntschaft aus Galicien. Nicht alle Fragen seien beantwortet, bei einigen sei man sich nicht sicher, auf jeden Fall könne ich die Antworten aber mit denen «kontrastieren», die ich bei meinen Recherchen am kantabrischen Meer zutage gefördert hätte.
«Ni calculado.»
«Vista.» – wie es im Roman einmal heißt:
«Gut kalkuliert.»
«Keine Frage.»
Willi Zurbrüggen